Bald täglich lese ich in den öffentlichen Medien die Forderung, das Wahlalter herabzusetzen: Die Vorschläge reichen von 16 Jahren (Grüne, SPD, FDP, Linke) bis zu unglaublichen 14 Jahren und jünger (Kinderschutzbund). Auch der Beitrag eines jungen Autors auf Achgut.com gab mir Anlass, über das Thema Jugend noch einmal intensiver nachzudenken.
Offensichtlich haben sich in den letzten Jahren die verschiedenen Ansichten, was denn genau der Zweck der Jugend und Kindheit sei, gewaltig auseinander entwickelt. In den öffentlichen Medien wird eine Interpretation der Kindheit und Jugend propagiert, die sich sehr stark von der Sichtweise, mit der ich aufgewachsen bin und die ich noch immer vertrete, unterscheidet. Aus der Kriegs-Enkel-Generation kommend und aus der Beschäftigung mit den vorangegangenen Generationen ist mir bewusst, dass das Privileg "Kindheit als Schutzraum" eine bewusst erstrittene Errungenschaft des letzten Jahrhunderts ist. Experten auf diesem Gebiet können mehr darüber sagen.
Ein Kind war in den Augen meiner Eltern bis zur Volljährigkeit ein "Schützling" und befand sich sozusagen in einer geschützten Phase, in der es in aller Ruhe aufwachsen konnte. Das Kind wurde in dieser Phase nicht mit der vollen Last der Pflichten unserer Gesellschaft beladen. Es wurde Rücksicht auf seine körperliche und seelische Verletzlichkeit, sowie das Fehlen von Erfahrung genommen. Fehlverhalten aufgrund von Unreife wurde mit altersgemäß angepassten Sanktionen bestraft, respektive die Erziehungsberechtigten stellvertretend belangt. Diese waren es auch, die für die Interessen ihrer Schützlinge politisch eintreten mussten. Wenn sie dies heutzutage nicht mehr tun, sollte man das Wahlalter nicht nach unten verschieben, sondern diese Erwachsenen an ihre Pflicht erinnern.
Reife und Lebenserfahrung müssen erlebt und erlitten werden
Nach dem Gesetz verlässt man mit 18 Jahren offiziell diesen Schutzbefohlenen-Status. In der Realität ist man jedoch zu recht noch für sehr lange Zeit auf vergangene Privilegien bitter angewiesen. Reife und Lebenserfahrung kann man sich noch so intensiv wünschen, sie müssen erlebt und erlitten werden. Das lässt sich nur sehr begrenzt beschleunigen oder nach vorne verlegen. Wo ein Kind, durch die Umstände bedingt (etwa Erkrankung des Elternteils), in erwachsene Aufgaben gezwungen wird, geht das leider oftmals zulasten seiner Entwicklung.
Die nach dem Erreichen der Volljährigkeit nun nicht mehr offizielle Aufgabe, jemanden unter die Fittiche zu nehmen, wird in der Regel trotzdem willig von den umgebenden erfahreneren Mitmenschen angenommen und am Ex-Schutzbefohlenen ausgeführt. Allerdings kommt es in den letzten Jahren vermehrt zu Irritationen. Da unterbricht die 20-jährige Auszubildende ihre 50-jährige Vorgesetzte alle 10 Minuten in ihrem Vortrag, um kundzutun, dass das Gesagte auch ihrem eigenen Erfahrungsstand entspricht; da belehrt die Schülerin und angehende Studentin den Doktor über Denkfehler in seinem Promotionsgebiet; da legen Studenten fest, was sie ihrer Meinung nach bräuchten, um Erfahrungen auf seinem Fachgebiet zu sammeln.
Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Arroganz aufgrund von Unerfahrenheit gab es auch schon früher. Ein gewisses Privileg der Jugend. Auch ich wurde als junger Mensch einmal von einem Professor mit folgenden Worten in die Schranken gewiesen: "Als ich meine Erfahrungen gemacht habe, waren Sie noch im Kindergarten."
Natürlich möchte man als junger Mensch gerne erwachsen erscheinen und wichtig genommen werden – solange es nicht zu viel wird. Ich war am Anfang meines Berufslebens jedenfalls vorwiegend erleichtert zu hören, dass ich das Recht auf Anleitung hatte und dies in Anspruch nehmen durfte, ja sogar sollte. Ich war erleichtert, ältere Kollegen zu erleben, die souverän zu ihren Wissenslücken standen. Das nahm den Druck, aus Unsicherheit Erfahrung vorspielen zu müssen.
Eine Verletzung der Sorgfaltspflicht der Erwachsenen
Was passiert nun heutzutage, da Medien und Politiker mit vereinter Stimme die Jugend aus der schwer erkämpften Schutzbefohlenenzone herauszerren wollen? Und beispielsweise behaupten "Junge Menschen engagieren sich so aktiv wie lange nicht mehr und wollen ihre eigene Zukunft gestalten. Es ist deshalb folgerichtig, ihre Mitbestimmung zu stärken" oder auch "Wir haben (bei FFF) erlebt, dass sich sogar schon Grundschüler politisch artikulieren können. Die Jugendlichen haben sich auf geradezu vorbildliche Weise für ihre Überzeugungen und das Gemeinwohl eingesetzt."
Ernten wir jetzt die Früchte einer unsäglichen Entwicklung, die uns einreden will, Kinder als kleine Erwachsene zu betrachten? Erleben wir gerade, was passiert, wenn Erwachsene sich zunehmend verweigern, Vorbild, Leitbild, Grenzensetzer, Erzieher, schlicht "Schutzpatron" der eigenen und der anvertrauten Kinder zu sein?
Dass Jugendlichkeit gewisse belebende Aspekte in Diskurse bringen kann, da junge Menschen aufgrund ihrer stärkeren Hingabe für gewisse Ansichten und auch der Tendenz, mit viel Energie eingefahrene Sitten zu hinterfragen und ohne Rücksicht auf Verluste herauszufordern, ist keine Frage.
Jedoch das Wahlrecht auf minderjährige Jugendliche oder sogar Kinder zu übertragen, nur damit diese sich angeblich nicht minderwertig fühlen, ist meiner Meinung nach grob fahrlässig und eine Verletzung der Sorgfaltspflicht der Erwachsenen. Es ist legitim, zu versuchen, potenziell erfahrene Erwachsene politisch zu manipulieren. Jugendliche, die keine Erfahrung haben, unter dem Deckmantel der Reife und Partizipation politisch zu manipulieren, ist jedoch einfach nur schäbig.