Von Florian Friedman.
Wir drehen durch. Kein Wunder, dass manche sich bereits nach Zufluchtsorten umschauen. Einige zieht es nach Polen, andere – oha! – nach Israel. Lieber Krieg als Ampelregierung.
Es gibt Zeiten, in denen eine Frage wie keine andere im Raum steht: Warum? Ratlosigkeit bestimmt in solchen Epochen den Blick auf die Nachrichten, das öffentliche Leben, private Gespräche … Wir spüren es auch heute. Politische Allianzen lösen sich auf, Abos werden gekündigt, Freundschaften zerschellen. Warum? Nicht einmal die Kristalltherapeutin von Astro TV weiß es.
Klar ist nur: Deutschland gerät zu einem Kindergeburtstag, auf dem jemand LSD in den Kakao geträufelt zu haben scheint. Wir drehen durch. Kein Wunder, dass manche sich bereits nach Zufluchtsorten umschauen. Einige zieht es nach Polen, andere – oha! – nach Israel. Lieber Krieg als Ampelregierung.
Die meisten erkennen den Wahnsinn, dennoch wird die Massenneurose weiter gepflegt. Tapfer feuert man mit Beiträgen in den sozialen Medien gegen die da oben. Das wirklich Beunruhigende: Keiner scheint so recht zu wissen, warum Menschen, denen man durchaus zutraut, einfache logische Schlussfolgerungen zu meistern, all den Aberwitz überhaupt anzetteln. Einen Aberwitz, der auch den Weichenstellern des Landes am Ende – und gelegentlich sogar umgehend – schadet. Seppuku ist schwer nachzuvollziehen, mag das Blut noch so spritzen.
Grenzen der Vernunft
Die ernüchternde Wahrheit lautet, dass es so hilfreich wäre, Vernunft hinter diesem Irrsinn zu vermuten, wie bei Deeskalationsversuchen in der Gummizelle. Rationalität ist zwar ein unersetzliches Instrument, um Wissenschaft zu betreiben und Technologien zu entwickeln – ohne sie hätte der Westen nie sein heutiges Niveau an Wohlstand und Frieden erreicht. Den Alltag bestimmt für die meisten Bürger jedoch ein anderer Maßstab: die eigene Kultur.
Es wäre für den Einzelnen schlicht zu anstrengend, jede Entscheidung logisch zu durchdenken und die eigenen Argumente auf vernünftige Annahmen zu prüfen. Unsere geistige Rechenleistung kennt Grenzen. Und schließlich muss auch Staub gewischt und die Steuererklärung eingereicht werden. Das Leben ist kein Zauberwürfel und Kultur daher die Go-to-Strategie der meisten.
Kulturschaden
Man muss die Zahl Pi nicht bis auf die hunderttausendste Nachkommastelle aufsagen können, um zu ergründen, dass früher bestimmt nicht alles, aber einiges besser war. Kulturen entwickeln sich. Sie tun dies, wie jedes Phänomen in der physischen Welt, entlang von Bedingungen, die sich prinzipiell verstehen lassen. Und an dieser Stelle hilft uns die Vernunft eben doch weiter.
Die Entwicklung von Kulturen ähnelt der Evolution biologischer Arten. Das Forschungsfeld „kulturelle Evolution“ nutzt diesen theoretischen Hebel. Anders als in der Verhaltensgenetik werden hier nicht angeborene Haltungen und Handlungsweisen untersucht, sondern solche, die über Generationen hinweg durch Nachahmung und soziale Interaktion weitergegeben werden. Eine Grundannahme des relativ jungen Forschungsgebiets lautet: Wie bei biologischen Arten auch, gibt es adaptive und maladaptive Richtungen, in die Kulturen sich bewegen können – also Anpassungen, die sich positiv auf die Überlebensfähigkeit einer Kultur auswirken und Anpassungen, die schädlich sind.
Siehe da: Seine Umwelt komplett zu entwalden, um gigantische Sakralstatuen transportieren zu können, bringt Bodenerosion und Nahrungsmangel mit sich. So wurden die Rapa Nui von den Osterinseln Opfer ihrer eigenen Kultur. Von Generation zu Generation beschädigten sie mit dem kulturellen Erbgut ihrer Gesellschaft auch ihre physische Welt massiver. Umso größer und zahlreicher die sogenannten Moai-Statuen wurden, desto kleiner geriet die Überlebenschance ihrer Schöpfer. Schlecht für die Rapa Nui, gut fürs Vorabendprogramm.
Druckabfall
Der US-amerikanische Ökonom und interdisziplinäre Denker Robin Hanson betont, dass die Gesellschaften der Vergangenheit fast alle klein, isoliert und schwach waren. Gemeinschaften, die sich viele maladaptive Merkmale leisteten, gingen deshalb rasch unter. Unsere großen, mächtigen und mannigfaltig vernetzten Kulturen der Gegenwart sind einfallenden Armeen, Hungersnöten und Epidemien nicht mehr in dieser Form ausgeliefert. Der Selektionsdruck fällt deutlich geringer aus, auch weil die Zahl der konkurrierenden Kulturen drastisch gesunken ist. So schnell dreht uns keiner das Vorabendprogramm ab.
Hanson spricht davon, dass es vor wenigen Jahrhunderten noch einige hunderttausend sehr unterschiedliche Kulturen auf unserem Planeten gab. „Wir haben diese kleinen bäuerlichen Kulturen zu nationalen Kulturen verschmolzen und erlebten schließlich den Aufstieg einer Weltkultur“, sagt er. Die globale Elite würde sich im Großen und Ganzen sogar nur noch eine Makrokultur teilen. Was man zum Beispiel während der Corona-Krise habe beobachten können, als nach wenigen Wochen international eine einheitliche Strategie durchgesetzt und Abweichler geächtet wurden.
Diese Einförmigkeit birgt einen großen Nachteil – das Wegfallen des externen Drucks auf unsere Kultur schafft jede Menge Raum für erbärmliche Ideen. An die Stelle des Selektionsdrucks tritt kulturelle Drift. Wo äußerliche Notwendigkeiten die Entwicklung der Makrokultur des Westens nicht mehr steuern, regiert stattdessen der Zufall. Das bedeutet: Nicht mehr nur adaptive Merkmale setzen sich jetzt durch; auch Ideen und Praktiken, die keinen Vorteil bieten oder schädlich sein können, finden Verbreitung. Wir haben uns einen so gewaltigen Bizeps antrainiert, dass es uns langsam schwerfällt, die Schnürsenkel zu binden.
All dies geschieht dezentral. Wir verdanken die Durchgeknallten von Wokistan keinem findigen Bösewicht, der hinter den Kulissen sämtliche Fäden in der Hand hält. Unsere Kultur geht bottom-up vor die Hunde.
Irre Fahrt voraus!
Bottom-up ist dabei nicht so zu verstehen, dass etwa das „Frauentausch“-Prekariat unsere Kultur durchknallen lässt. Menschen, die Dosenravioli löffeln und Sarah Connor zujubeln, mögen ein hässlicher Anblick sein. Doch es braucht schon kulturelle Eliten, die tief verankerte Werte teilen, um das Ausmaß unserer Dysfunktion zu erklären. Kulturell Drift zeigt sich zuerst in der Oberschicht – in der Regel ist sie bunt.
Es waren bekanntlich keine Gerüstbauer, die bereits hinter dem Aufhalten von Türen Misogynie witterten, gleichzeitig aber die Grenzen für Millionen von Frauenfeinden aus Gewaltkulturen öffneten (ganz zu schweigen vom Antisemitismus und Hass auf Homosexuelle, den man durch diesen Kontrollverlust in die Höhe schnellen ließ). Um maladaptive Entwicklungen von solcher Größe anzustoßen, muss man Teil der Regenbogen-Aristokratie sein, denn nur sie kann die seltsamsten Widersprüche vertreten, ohne sofort Schaden zu erleiden. Status schützt.
Die Haltungen der Elite sickern in die Mittel- und irgendwann bis in die Unterschicht durch. Endlos ist mittlerweile die Zahl der Beispiele. So kultivieren die meisten von uns etwa einen Hyperindividualismus, der letztlich dazu führt, dass bei einem Geburtenrückgang, wie ihn der Westen erlebt, weiterhin der Lifestyle polyamorer Hipster glorifiziert wird. Waren Familienwerte je uncooler?
Zu vermuten ist auch, dass eine Industrienation, die an der eigenen Deindustrialisierung arbeitet, ein Problem hat. Geben wir es zu: Die Demolierung einer Kultur muss weit fortgeschritten sein, um sich eine Technologie aus dem Frühmittelalter wie das Windrad als Hightech-Innovation einreden zu können.
Apokalyptisches Denken, das von derartigen Kinderideen begleitet wird, ist leider nicht erst Teil unserer Kultur, seit Greta Thunberg die Schule schwänzte. Mehr Sinn ergibt es, solche Einstellungen der kulturellen Drift zuzuschreiben, die den Westen seit längerem prägt. Waldsterben – anyone?
Den Mund aufmachen
Wer bei alldem nach einem logisch nachvollziehbaren Warum sucht, könnte morgen auch vom DB-Vorstand erwarten, im Interesse der Bahnkunden zu handeln. Deswegen aber zu kapitulieren, wäre vorschnell. Kulturen sind zwar genauso wie Menschen in der Lage, durchzudrehen. Doch auch wenn die Vernunft beim Eins-zu-eins in der Gummizelle mit Sicherheit nutzlos bleibt – wer ein paar Schritte zurück tritt und den Wahnsinn von außen betrachtet, findet eine Lösung, um den Verstand des Westens wieder einzufangen. Die Unvernunft des Gegners wird mit etwas Abstand sogar zum Vorteil. Ein Irrer mag von seinem Irrsinn schwer abzubringen sein, dafür lässt er sich intellektuell mühelos ausdribbeln.
Wir haben Glück, denn ein Denkverbot kann nicht so leicht eingeführt werden wie eine Cookie-Richtlinie. Der Kulturkampf dürfte trotzdem kein leichter werden. Der erste Schritt im Gefecht um unsere kollektive geistige Gesundheit ist allerdings einfach. Er besteht darin, sich nicht den Mund verbieten zu lassen, wenn einem ein Warum auf der Zunge liegt. Keine Antwort, kein Gehorsam.
Florian Friedman ist freier Autor und Redakteur. Für zahlreiche Zeitschriften, Zeitungen und Blogs schreibt er über gesellschaftliche Themen, Kunst, Technologie und Musik. Friedman lebt in Hamburg. Seine Homepage finden Sie hier