Im aktuellen Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung wird ein „kollektives Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft“ gefordert. Ausführlich wird die haarsträubende Ideologie der Verantwortlichen präsentiert.
Fast die Hälfte aller Kindern unter sechs Jahren in Deutschland lebt in einer Einwanderungsfamilie. Die Sachverständigenkommission der Bundesregierung für den diesjährigen Kinder- und Jugendbericht bewertet Einwanderung allerdings rundum positiv als „volkswirtschaftlichen Stabilisator“ und kritisiert den Begriff „Migrationshintergrund“. Das Zusammenleben in Deutschland werde sich ändern – hin zu einem „kollektiven Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft“. Vor allem die aufnehmende Gesellschaft müsse sich anpassen.
Doch der Reihe nach: Am 18. September stellte Bundesjugendministerin Lisa Paus den mittlerweile 17. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung vor, der 632 Seiten umfasst und besonders zum Thema Migration haarsträubende Passagen enthält. Das Bundeskabinett beschloss eine Stellungnahme zu dem Bericht und hielt zusammenfassend fest: „In Deutschland leben derzeit rund 22 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.
Sie wachsen in einer Zeit tiefgreifender, teils krisenhafter Entwicklungen auf. Und sie sind die vielfältigste Generation, die es je gab. Junge Menschen blicken noch immer überwiegend positiv in die Zukunft, insgesamt hat ihr Zukunftsvertrauen aber abgenommen.“ Auch auf der Website des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) wird betont: „Die heutige junge Generation ist die diverseste, die es je gab.“
Merkmalsträger:innen
Was das im Klartext bedeutet, erfährt man besonders ab Seite 201 des Berichts: „Vier von zehn Schulpflichtigen leben in einer Einwanderungsfamilie (39,6 Prozent). Bei Kindern unter sechs Jahren lag dieser Anteil 2022 sogar bei 40,8 Prozent – Tendenz steigend.“ Und: „29 Prozent aller jungen Menschen unter 25 Jahren in Deutschland wiesen im ersten Halbjahr 2023 eine Einwanderungsgeschichte auf. 13 Prozent der zum gleichen Zeitraum in Deutschland lebenden jungen Menschen unter 25 hatten eigene Migrationserfahrung.“ Diese statistisch erhobenen Zahlen werden im Bericht allerdings ausschließlich positiv bewertet: Die Bundesrepublik Deutschland sei bereits seit ihrer Gründung „ein durch regelmäßige Zu- und Einwanderung geprägtes und hierdurch maßgeblich in ihrem Wohlstand abgesichertes Land“. Ähnliches gelte – in geringerem Ausmaß – auch für die ehemalige DDR. Zu- und Einwanderung seien „ein volkswirtschaftlicher Stabilisator beider Systeme“.
Die Verfasser des Berichts zeigen sich dagegen besorgt darüber, dass der Begriff „Migrationshintergrund“ bestimmte junge Menschen „zu Merkmalsträger:innen eines gesamtgesellschaftlichen Phänomens“ mache und damit zugleich „der Vielfalt und Diversität junger Menschen samt ihren Bedürfnissen und Lebenswelten nicht gerecht“ werde. Daher nehmen sie Abstand davon und heben vielmehr hervor, dass alle Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gleichermaßen vor komplexen Herausforderungen stünden, vor allem durch „eine alternde Gesellschaft, globale Fluchtmigration, den Verlust der vermeintlichen Selbstverständlichkeit von Frieden in Europa, eine Demokratie unter Druck, den Klimawandel, zunehmende Digitalisierung und Mediatisierung und die Nachwirkungen der Pandemie.“
Zum Hintergrund: Gemäß § 84 SGB VIII legt die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat in jeder Legislaturperiode einen Kinder- und Jugendbericht vor und nimmt dazu Stellung. Mit der Ausarbeitung des 17. Berichtes zwischen Juni 2022 und März 2024 wurde eine „unabhängige Sachverständigenkommission“ unter Leitung von Prof. Dr. Karin Böllert (Universität Münster) beauftragt, die insgesamt rund 5.400 junge Menschen zwischen fünf und 27 Jahren befragt und beteiligt hat. Neben Böllert gehörten zu der Kommission: Prof. Dr. Sabine Andresen (Goethe-Universität Frankfurt am Main), Lorenz Bahr (Staatssekretär im Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration in Nordrhein-Westfalen), Prof. Dr. Peter Cloos (Stiftung Universität Hildesheim), Prof. Dr. Jörg Fischer (Fachhochschule Erfurt), Marion von zur Gathen (Paritätischer Gesamtverband), Prof. Dr. Benedikt Hopmann (Universität Siegen), Prof. Dr. Davina Höblich (Hochschule RheinMain), Prof. Dr. Nadia Kutscher (Universität zu Köln), Dominik Ringler (Kompetenzzentrum für Kinder- und Jugendbeteiligung Brandenburg), Prof. Dr. Philipp Sandermann (Leuphana Universität Lüneburg), Dr. Talibe Süzen (Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt), Prof. Dr. Martin Wazlawik (Hochschule Hannover) und Dr. Gabriele Weitzmann (Bayerischer Jugendring).
Deutschland als Einwanderungsgesellschaft
Von den Sachverständigen wird unter anderem kritisiert, dass in öffentlichen Debatten oft „die infrastrukturellen Mängel bestimmter Gebiete mit einer stigmatisierenden und problematisierenden Wahrnehmung der Bewohner:innen verbunden“ sei. Da wüsste man schon gerne, wer von ihnen die eigenen Kinder auf eine Brennpunkt-Schule schickt. Jedenfalls fordern sie „migrationsfreundliche Ansätze und eine gerechte Teilhabe“. Zwar habe Deutschland besonders seit 2015 eine wichtige Rolle bei der Aufnahme von Geflüchteten eingenommen, doch politische Verfolgung und Krieg stellten nicht die einzigen Gründe für Migration dar. Auch Naturkatastrophen und daraus resultierende Versorgungskrisen bewegten Menschen zur Flucht. Die Verteilung von Geflüchteten insgesamt – aber auch von begleitet und unbegleitet geflüchteten jungen Menschen in Deutschland – zeige deutliche regionale Unterschiede, was die Teilhabechancen der Geflüchteten beeinflusse und ungleich werden lasse. Wörtlich heißt es: „Integration wird als ein beidseitiger Prozess verstanden, der Anpassungen sowohl von der Gesellschaft als auch von den Geflüchteten verlangt.“
Und weiter wird ausgeführt: „Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft, geprägt durch eine zunehmende natio-ethno-kulturelle Vielfalt. Diese Entwicklung, verstärkt durch demografische Trends, stellt öffentliche Institutionen vor Herausforderungen, da sie überwiegend monolingual deutsch funktionieren. Junge Menschen, insbesondere jene aus Einwandererfamilien, erleben eine mehrsprachige Gemeinschaft als normal. Allerdings wird Mehrsprachigkeit in Bildungseinrichtungen oft unzureichend anerkannt und wertgeschätzt, was institutionelle Diskriminierung verstärken kann. Kinder und Jugendliche aus Einwanderungsfamilien sind doppelt von Armut und Bildungsbenachteiligung betroffen. Ihre Integration in die Gesellschaft und das Entwickeln von Zukunftszuversicht bleiben eingeschränkt.“
Das Verständnis für geflüchtete junge Menschen und deren Akzeptanz seien besonders in Regionen mit geringer natio-ethno-kultureller Diversität von Bedeutung, da diese Kontakte die Toleranz und das gesellschaftliche Miteinander fördern könnten. Das gesteigerte wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Bewusstsein für die Relevanz geflüchteter junger Menschen könne jenseits von Angstkommunikation, Populismus und einseitigen Krisendiagnosen fruchtbar gemacht werden, um Chancen für ein massiv auf Einwanderung angewiesenes Land wie Deutschland zu nutzen.
Offene Gesellschaft
Deutschland sei im Jahr 2024 nicht nur faktisch, sondern auch der eigenen Wahrnehmung nach stärker in der historischen Kontinuität globaler Fluchtbewegungen angekommen, als dies über Jahrzehnte der Fall gewesen sei. Eine vergleichsweise deutliche Minderheit der bundesdeutschen Bevölkerung nehme diesen Umstand als politisch und/oder ökonomisch bedrohlich wahr. Sich dieser Bedrohungswahrnehmung zu widersetzen, sei zum einen moralisch angebracht, denn sich von Geflüchteten bedroht zu fühlen, bedeute, Menschen, die über ein Minimum an Ressourcen verfügen, für eigene Ängste verantwortlich zu machen. Zum anderen sei ein veränderter, migrationsoffener Ansatz auch mit Blick auf das Thema Fluchtmigration aber aus purem Eigennutz überfällig, da die deutsche Gesellschaft entgegen einer jahrzehntelangen Verleugnungsgeschichte massiv und perspektivisch noch zunehmend auf hohe Zu- und Einwanderungsraten – gleich welchen Ursprungs – angewiesen sei, um ihren aufgebauten Wohlstand angesichts von demografischem Wandel sowie Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel zu sichern. Hindernisse für eine Integration geflüchteter Menschen in den Arbeitsmarkt seien jedoch „entgegen rechtspopulistischer und rechtsextremer Propaganda“ nicht in einer mangelnden Eignung oder einem mangelnden Arbeits-, Ausbildungs- und Integrationswillen geflüchteter Menschen in Deutschland zu suchen.
Die Integration von Menschen mit Fluchterfahrungen sei nämlich keine Einbahnstraße, sondern zu ihrer Bewerkstelligung bedürfe es einer „offenen Gesellschaft“, die diesen Namen verdiene und entsprechend bereit sei, „bisher gängige Regeln an veränderte Bedingungen des Zusammenlebens der Bevölkerung anzupassen“. Beispiele hierfür seien eine stärkere Hinterfragung des politischen und gesellschaftlichen Umgangs mit Kategorien des sogenannten „politischen Asyls“ in Deutschland sowie geltender Grundsätze zu Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG), etwa hinsichtlich der dort gewährten Gesundheitsversorgung, sowie der Wohnsitzregelung gemäß dem deutschen Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Aber z.B. auch eine stärkere migrationsgesellschaftliche Öffnung privater und öffentlicher Organisationen im Sinne gelebter Mehrsprachigkeit und natio-ethno-kultureller sowie religiöser/weltanschaulicher Diversität sei für ein inklusives Verständnis des Zusammenlebens mit geflüchteten Menschen in Deutschland von hoher Relevanz. Jenseits einer maßgeblich über Angst und/oder Hass lautstark kommunizierenden gesellschaftlichen Minderheit sei die Bereitschaft einer Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland, sich in Einstellungen und Taten für eine „postmigrantische Gesellschaft“ stark zu machen, durchaus stabil und hoch.
Nach einer zeitweisen Verunsicherung in den Jahren 2017 bis 2019, die maßgeblich über „rechtsextremistische, nationalistische und identitätspolitische Reflexe“ befeuert worden sei, hätten im Jahr 2021 wieder 64 Prozent der deutschen Bevölkerung der Aussage widersprochen, Deutschland sei bezüglich der Aufnahme von Geflüchteten an seiner Belastungsgrenze angekommen. In den Jahren 2023/2024 sei diese Zuversicht der Mehrheitsbevölkerung Deutschlands insbesondere durch die „rechtsextremistischen Positionen der AfD“, vor allem aber auch durch einige an diese Positionen nur mit geringer Abweichung anschließende Meinungen von Führungspersonen aus „ansonsten demokratisch gefestigten Parteien“ erneut auf eine Probe gestellt worden. Wenn „potenziell oder manifest völkische Positionen“, die auf eine Logik rekurrieren, „wonach diejenigen, die später dazugekommen sind, sich an die Fiktion eines alten, etablierten und homogenen Gefüges“ entweder einseitig anzupassen haben oder gar gänzlich von dieser Gemeinschaft auszuschließen sind, auch aus Parteien heraus vertreten werden, die dem Programm nach entschieden grundgesetztreu sind, sei dies nicht nur moralisch zu verurteilen.
Kollektiverfahrung
Es sei dann auch deshalb Skepsis angebracht, weil ein mithilfe solcher Strategien erhoffter „Erfolg“ im Sinne besserer Wahlergebnisse für demokratisch etablierte Parteien empirisch höchst zweifelhaft sei. Dadurch, dass die Anzahl junger Menschen, die in Einwanderungsfamilien aufwachsen, kontinuierlich steige, verändere sich das Zusammenleben in Deutschland nicht nur für diese Gruppe junger Menschen, sondern für alle jungen Menschen in Deutschland. Vorstellungen von einer monolingual deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft seien damit allenfalls mittelfristig noch realitätskonform. Was und wer die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland ist und welche Biografien sie aufweist, wandele sich zunehmend.
In den bisherigen „Kinder- und Jugendberichten“ habe noch keine ausreichend systematische und detaillierte Betrachtung des Jungseins in natio-ethno-kultureller Vielfalt stattgefunden. Mehr gesellschaftliche Teilhabegerechtigkeit von Kindern und Jugendlichen in einer Einwanderungsgesellschaft setze jedoch zunächst einmal eine umfassende Anerkennung der Einwanderungsgesellschaft als solcher voraus. Hiermit einher gehe nicht nur die Aufgabe, öffentliche Strukturen (auch der Kinder- und Jugendhilfe) auf ihre natio-ethno-kulturelle und sprachliche Diversitätssensibilität zu prüfen. Dahinter stehe vielmehr die Grundaufgabe, zu verstehen, dass nicht lediglich diejenigen Menschen, die in Deutschland leben und eine Einwanderungsbiografie haben, die Einwanderungsgesellschaft umfassen, sondern Deutschland als Ganzes ein Einwanderungsland repräsentiere.
In der Kindheitsforschung ließen sich im Kontext des Vielfaltsdiskurses Mehrsprachigkeit und Mehrfachidentitäten als Merkmale dessen herausarbeiten, was ein Aufwachsen von Kindern mit Einwanderungsgeschichte charakterisiere und auch Kindern ohne eigene Einwanderungsgeschichte als wertvolle Erfahrung und Entwicklungsressource für das Aufwachsen in einer globalisierten Welt diene. Voraussetzung dafür sei es, das Aufwachsen junger Menschen in der Einwanderungsgesellschaft als Kollektiverfahrung zu erkennen und anzuerkennen. Eine aktuelle Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) zeige jedoch, dass beispielsweise Einrichtungen der Kindertagesbetreuung der natio-ethno-kulturellen Vielfalt der Kinder kaum positive Identifikationsfiguren gegenüberstellen und „insgesamt der Realität gesellschaftlicher Diversität in einer post-migrantischen Gesellschaft nicht gerecht werden“.
Migration ist positiv?
Dass ein hohes Maß an Zu- und Einwanderung nicht nur Herausforderungen, sondern vor allem auch Chancen für die Zukunft einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft berge, werde in Deutschland nach wie vor sehr unterschiedlich stark reflektiert. Insgesamt nähmen positive Sichtweisen der Gesamtbevölkerung auf Zu- und Einwanderung nach Deutschland zwar stetig zu, besonders gelte das jedoch für junge Menschen unter 29 Jahren. Begünstigt werde die zunehmende Selbstverständlichkeit und eine vermehrt positive Sicht auf Zu- und Einwanderung nach Deutschland u.a. dadurch, dass im Jahr 2022 der Anteil von Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland altersübergreifend bei 24,3 Prozent gelegen habe. Ein hohes und zukünftig noch zu erhöhendes Maß an Zu- und Einwanderung sei auch volkswirtschaftlich betrachtet ein entscheidender Faktor für die Sicherung gesellschaftlichen Wohlstands und sozialen Friedens in Deutschland. Kindsein und Jungsein innerhalb einer Einwanderungsgesellschaft könne nur angemessen beschrieben werden, wenn man bereit sei, nicht nur das Aufwachsen junger Menschen, sondern auch das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt als kollektives Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft zu begreifen. Und es wird hervorgehoben: „Sowohl gesellschaftlich integrierte Erwachsene wie junge Menschen in Deutschland können sich angesichts der dargestellten demografischen Entwicklung nur noch sinnvoll als Personen in der Einwanderungsgesellschaft begreifen – und zwar auch unabhängig von der persönlichen Einwanderungsgeschichte.“
Auch die Bundesregierung teilt ausdrücklich die Einschätzung, dass es Aufgabe aller ist, in der realen Einwanderungsgesellschaft „anzukommen“. Außerdem bedürfe es einer „entschieden anti-rassistischen Antidiskriminierungspolitik“. Mit Blick auf die unbegleiteten minderjährigen Ausländerinnen und Ausländer (UMA) stimmt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme der Einschätzung der Berichtskommission grundsätzlich zu, dass die für die Versorgung zuständige Kinder- und Jugendhilfe „an die Grenze ihrer Belastbarkeit“ stoße. Der Bund habe den Austausch mit den primär zuständigen Ländern und Kommunen daher intensiviert und diese im Rahmen der Möglichkeiten tatkräftig unterstützt.
Zwar werden im 17. Kinder- und Jugendbericht der Sachverständigenkommission auch noch zahlreiche weitere Themen mitunter durchaus differenziert behandelt (wie etwa die Situation von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Krise, Recht auf gewaltfreies Aufwachsen, demografischer Wandel, Fachkräftemangel, Digitalisierung und natürlich auch LSBTIQ* und „Klimagerechtigkeit“, wobei der ausdrückliche Hinweis auf die Agenda 2030 der Vereinten Nationen und die längst widerlegte Veröffentlichung „Grenzen des Wachstums“ des Clubs of Rome nicht fehlt), doch der Versuch, Migration ausschließlich als positiv darzustellen, nimmt auffällig großen Raum ein. Die Perspektive der autochthonen Bevölkerung spielt dabei allerdings offenbar so gut wie gar keine Rolle.
Junge Menschen, die angeblich „schon immer dagewesen“ sind
Wer Deutschland als Einwanderungsgesellschaft ernst nehme und das Aufwachsen junger Menschen in dieser Gesellschaft angemessen in den Blick nehmen möchte, müsse davon ausgehen, dass sich das Verhältnis zwischen den bereits in der natio-ethno-kulturell diversen Gesellschaft „angekommenen“ und den sich noch im „Ankommen“ befindenden (jungen) Menschen ständig neu herstellt. Die Unterscheidung zwischen bereits gesellschaftlich angekommenen und noch wenig angekommenen Menschen verlaufe damit zugleich auch nicht entlang althergebrachter Unterscheidungen von Ethnie, Nationalität und „Kultur“. Eine binäre Logik, die vereinseitigend auf Assimilation, Akkulturation und Integration von jungen Menschen mit Einwanderungsbiografie zielt und dabei suggeriert, dass diese „von außen kommen“, konstruiere im Gegenzug junge Menschen, die angeblich „schon immer dagewesen“ sind („Bio-Deutsche“). Eine solche Sichtweise sei nicht nur ethnozentrisch und im Zweifelsfall sogar in einer bedenklichen Weise „völkisch“, sondern sie werde angesichts der oben genannten bevölkerungsstatistischen Daten auch logisch zunehmend hinfällig und empirisch immer bedeutungsärmer.
Absehbar würden Menschen mit Einwanderungsbiografie die Mehrheit der jungen und schließlich der gesamten Bevölkerung Deutschlands ausmachen. Das habe entgegen geläufiger Vorurteile nicht allein etwas mit „kinderreichen Familien“ zu tun, sondern auch damit, dass viele dieser jungen Menschen und ihrer Familien – sogar im Sinne klassischer Akkulturationskriterien – als außerordentlich erfolgreich zu bezeichnen seien, was ihre gesellschaftliche Sozialisation in Deutschland betrifft, und dies wiederum zur Etablierung von die bundesdeutsche Volkswirtschaft nicht nur natio-ethno-kulturell, sondern auch ökonomisch bereichernden Netzwerken führe. Das Maß, in dem es im Sinne aller in Deutschland lebenden Menschen gelingt, diese Netzwerke zu fördern, statt Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu diskriminieren und dabei in einer Haltung von Migrationsabwehr bis hin zu rechtsextremistischen Positionen zu erstarren, werde maßgeblich über den demographischen sowie ökonomischen Wohlstand Deutschlands entscheiden.
Dem entgegen stünden aber auch im Jahr 2024 noch massive Diskriminierungen gegenüber jungen Menschen aus Einwanderungsfamilien. Das betreffe vor allem junge Menschen, die als deutschtürkisch, deutscharabisch oder afro-deutsch/afrikanisch „gelesen werden“. Sie seien einem deutlich höheren Maß an institutioneller und alltäglicher Diskriminierung vor allem in den Bereichen medialer Berichterstattung, Arbeits- und Ausbildungschancen und Wohnungsmarkt ausgesetzt als junge Menschen, die nicht als deutschtürkisch oder deutscharabisch gelesen werden. Die Aufgabe, in der Einwanderungsgesellschaft „anzukommen“, sei nicht einseitig jungen Menschen mit persönlicher oder familialer Einwanderungsgeschichte zuzuschreiben. Ein diesbezügliches Augenmerk solle stattdessen verstärkt auch auf autochthone (junge) Menschen gerichtet werden. Denn diesen werde nicht selten die sozialisatorische Chance vorenthalten, in der bundesdeutschen Einwanderungsgesellschaft Anschluss zu finden. Im Extremfall könne dies auf manipulative Weise durch eine völkisch-nationalistisch ideologisierte Umgebung geschehen. Aber auch im Falle lediglich räumlich isolierten Aufwachsens in einer vornehmlich natio-ethno-kulturell homogenen, „bio-deutschen Blase“ werde diesen jungen Menschen der Anschluss an die Einwanderungsgesellschaft Deutschland erschwert.
Anti-rassistischen Antidiskriminierungspolitik
Mit anderen Worten: Die Interessen der autochthonen jungen Menschen werden von der Kommission nur insofern berücksichtigt, als sie sich darum sorgt, dass diese in ihrer „bio-deutschen Blase“ die Segnungen der Einwanderungsgesellschaft verpassen. So wird tatsächlich ausgeführt: „Insofern Einwanderungsbiografien zu einer kollektiv weitgehend bewussten Lebensrealität der meisten jungen Menschen in Deutschland gehören, sind junge Menschen, die in Regionen mit außergewöhnlich niedrigen Einwanderungsraten leben, von der Kollektiverfahrung des Aufwachsens in einer Einwanderungsgesellschaft mit höherer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Dies gilt insbesondere für einige ländliche Regionen in Ostdeutschland. Auf diese Regionen ist dementsprechend, was die Möglichkeiten des Anschlusses an Vergesellschaftungschancen in der Einwanderungsgesellschaft betrifft, ein besonderes kinder- und jugendpolitisches Augenmerk zu legen.“
Doch es kommt noch doller. Die professoralen nahezu ausschließlich an westdeutschen Hochschulen lehrenden Sachverständigenen spitzen nämlich zu: „Insofern für junge Menschen in Deutschland überhaupt strukturelle Gefahren des Aufwachsens in einer ,Parallelgesellschaft‘ bestehen, in der zu wenig repräsentative gesellschaftliche Kontakte bestehen, so sind diese Gefahren am ehesten in ländlichen Regionen und hier vor allem in Ostdeutschland zu verorten.“
Hier könnten junge Menschen mittelfristig den „Anschluss an weit vorangeschrittene globale Entwicklungen“ verlieren. Da junge Menschen aus Einwanderungsfamilien in absehbarer Zeit den Großteil der Bevölkerung Deutschlands ausmachen würden, sei eine „konsequente Reflexion des Aufwachsens ,unserer Kinder‘ Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserer, sie alle umgebenden Einwanderungsgesellschaft eine historisch überfällige Aufgabe von Politik und Gesellschaft“. Dazu bedürfe es einer entschieden anti-rassistischen Antidiskriminierungspolitik, die auf in Deutschland verbreitete Formen ethnizistischer und ethno-sexistischer Diskriminierung konkret Bezug nehme und dabei auch das Thema Mehrsprachigkeitsakzeptanz klar im Blick behalte. Und es sei „präventive und interventive Unterstützung“ von jungen Menschen in Regionen nötig, „die den Anschluss an die Einwanderungsgesellschaft durch ein zu isoliertes Aufwachsen jenseits natio-ethno-kultureller Diversität zu verlieren drohen.“ Wohlgemerkt: Das behauptet eine Kommission, die – den Namen nach zu urteilen – ganz überwiegend aus autochthonen Deutschen besteht.
Nur in Bezug auf körperliche Gewalterfahrung werden im Bericht ausschließlich deutsche Tatverdächtigte nach Alter und Geschlecht aufgeschlüsselt, nicht nach Migrationshintergrund. Wahrscheinlich würde die Realität der Utopie einer grenzenlosen Welt, wie sie die Sachverständigen offenbar hegen, zu sehr widersprechen, denn der Polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 2023 ist eindeutig zu entnehmen, dass im vergangenen Jahr von den bundesweit 2.789 Tatverdächtigten im Bereich Mord und Totschlag 1.221 nichtdeutscher Herkunft und darunter 395 Zuwanderer waren. Im Bereich Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff gab es 10.295 Tatverdächtige, darunter 3.834 nichtdeutscher Herkunft (1.193 Zuwanderer). Raubdelikte wurden 32.337 Tatverdächtigen angelastet, von denen 15.013 nichtdeutscher Herkunft waren (5.544 Zuwanderer). 153.475 Tatverdächtige zählte der Bereich gefährliche und schwere Körperverletzung, davon 63.225 nichtdeutscher Herkunft (20.375 Zuwanderer).
Die Bundesregierung kann sich indes darüber freuen, dass die „unabhängige Sachverständigenkommission“ politisch so wunderbar auf ihrer Linie ist. Das wird im 17. Kinder- und Jugendbericht sogar wörtlich zugegeben: „Kinder- und Jugendhilfe ist nicht politisch neutral, weil sie demokratisch und parteilich ist“.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.
Quelle:
Der vollständige 17. Kinder- und Jugendbericht im pdf-Format