Die US-Wahlen stellen die Ukraine vor große Unsicherheiten: Harris will den bisherigen Kurs fortsetzen, Trump ein schnelles Kriegsende. Beide Szenarien bergen Risiken, während Kiew immer stärker auf die Unterstützung westlicher Partner angewiesen ist.
„Der Feind sitzt in deiner Tasche“, sagt ein altes russisches Sprichwort. Es erinnert daran, dass Bedrohungen manchmal unerwartet und in unmittelbarer Nähe auftauchen können. Mit Blick auf die bevorstehenden US-Präsidentschaftswahlen bekommt diese Weisheit für die Ukraine eine neue Dringlichkeit.
Kamala Harris will den bisherigen Kurs zur Unterstützung der Ukraine fortsetzen. Donald Trump hingegen verspricht, den Krieg schnell zu beenden. Beide Ansätze stellen die Ukraine vor Herausforderungen – von ungewissem Rückhalt im Kongress bis zur wachsenden Skepsis gegenüber einer langfristigen Militärhilfe.
Obwohl Harris mehrfach ihre Unterstützung für Kiew bekräftigte, bleiben Zweifel an ihrer Fähigkeit, diese Zusagen einzulösen. Die Juristin bringt nur begrenzte diplomatische Erfahrung mit und trat erst als Vizepräsidentin in der internationalen Politik in Erscheinung. Seit Kriegsbeginn traf sie den ukrainischen Präsidenten zwar siebenmal und repräsentierte die USA auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Deutliche Akzente setzen konnte sie jedoch nicht.
Stattdessen versprach sie, den bisherigen Ukraine-Kurs der Biden-Administration fortzuführen: Die USA sollen weiterhin Militärhilfen bereitstellen, direkte Verhandlungen mit Moskau ohne Kiews Zustimmung bleiben ausgeschlossen, und das Recht der Ukraine, eigene Friedensbedingungen festzulegen, soll geachtet werden.
Vor diesem Hintergrund sind die US-Wahlen für die Ukraine in doppelter Hinsicht bedeutend: Am 5. November geht es nicht nur um die Wahl des Präsidenten, sondern auch um die Zusammensetzung des Kongresses. Aktuell kontrollieren die Republikaner das Repräsentantenhaus, während die Demokraten die Mehrheit im Senat halten. Prognosen deuten jedoch auf eine mögliche Machtverschiebung hin, die Harris im Falle eines republikanisch dominierten Senats deutlich in ihrem Handlungsspielraum einschränken könnte.
Zunehmende Kriegsmüdigkeit
Unter den Republikanern zeigt sich eine gespaltene Haltung zur Unterstützung der Ukraine: Während rechtskonservative Akteure wie J.D. Vance, Tom Cotton und Josh Hawley gegen weitere Militärhilfen sind, sieht die traditionelle Parteiführung, darunter erfahrene Republikaner, in der Unterstützung Kiews einen strategischen Vorteil für die USA.
Ein republikanisch dominierter Senat könnte Harris' Handlungsspielraum erheblich einschränken. Entscheidender Faktor bleibt dabei Trumps Einfluss. Bereits im Dezember 2023 gelang es ihm, die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus dazu zu bewegen, monatelang Hilfsgelder für die Ukraine zu blockieren – wenngleich dies Teil eines größeren Konflikts über die Migrationspolitik war. Selbst mit Unterstützung des Kongresses könnte Harris somit im Falle einer Präsidentschaft eine prekäre Lage erwarten, verstärkt durch die zunehmende Kriegsmüdigkeit in den USA und Europa.
In diesem Kontext kündigt Trump an, den Krieg in der Ukraine rasch beenden zu wollen – im Wahlkampf sprach er sogar von einem möglichen Frieden innerhalb von 24 Stunden. Konkrete Details lässt er jedoch vermissen, betont jedoch: „Ich habe einen klaren Plan für Russland und die Ukraine“. Kritiker leiten daraus eine Kapitulation Kiews gegenüber Moskau ab. Medienberichte spekulieren, dass ein möglicher Friedensplan Trumps eine Aufgabe der Krim und des Donbass durch die Ukraine vorsehen könnte.
Hinzu kommt, dass Kritiker Trumps außenpolitischen Kurs oft als improvisiert und moskaufreundlich bewerten. Ein genauerer Blick offenbart jedoch, dass seine Präsidentschaft von konsistenten Prinzipien geprägt war: Trump setzte auf Konfrontation mit China und vermied bewaffnete Konflikte. So drängte er trotz pro-israelischer Haltung auf ein Ende des Konflikts in Gaza – eine Aufgabe, an der die Biden-Administration fulminant gescheitert ist.
Auch seine Skepsis gegenüber der NATO bleibt bemerkenswert – er forderte von europäischen Partnern, mehr finanzielle Verantwortung für ihre Verteidigung zu übernehmen. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine führte diese Forderung zu einem Umdenken: Inzwischen haben 23 NATO-Mitglieder zugesagt, 2 Prozent ihres BIP für Verteidigung aufzuwenden, darunter auch Deutschland.
„Die Front ist ins Wanken geraten“
Gleichwohl hat Berlin dieses Ziel im vergangenen Jahr nicht erreicht. 2023 lagen die Verteidigungsausgaben bei geschätzten 74 Milliarden US-Dollar, was etwa 1,64 Prozent des BIP entsprach. Erst für das Jahr 2024 meldete Deutschland der NATO geplante Verteidigungsausgaben von 90,6 Milliarden Euro, was einem Anteil von 2,12 Prozent des BIP entspricht.
Der Vorwurf, Trumps Russlandpolitik sei zu nachgiebig gewesen, entbehrt ebenfalls einer fundierten Grundlage. Während seiner ersten Amtszeit verschlechterten sich die Beziehungen zu Moskau trotz gelegentlich prorussischer Rhetorik deutlich: Die USA verhängten Sanktionen, wiesen 60 russische Diplomaten aus und beendeten zentrale Rüstungskontrollabkommen. Zudem hob Trump 2017 das Waffenembargo gegen die Ukraine auf. Dies deutet darauf hin, dass der Republikaner durchaus zu einer härteren Gangart gegenüber Russland fähig wäre, sollte ein Verhandlungsfrieden scheitern.
Unterdessen hat die russische Armee ihr Tempo bei den Angriffen auf die Ostukraine, insbesondere in der Region Donezk, deutlich erhöht. In den ersten beiden Herbstmonaten konnte sie nach Angaben von Militärexperten so viel Gebiet erobern wie seit Beginn der großflächigen Invasion nicht mehr. Einige ukrainische Militärs und Politiker warnen bereits vor einem möglichen Kollaps der Verteidigungslinien.
Der ukrainische General Dmytro Martschenko, der zu Kriegsbeginn die Verteidigung von Mykolajiw leitete, beschrieb die Situation am 27. Oktober mit den Worten: „Wir alle wissen – und das ist kein militärisches Geheimnis –, dass unsere Front ins Wanken geraten ist.“ Martschenko sieht die Gründe für diese Entwicklungen in der Munitionsknappheit, dem Personalmangel und häufigen Wechseln in der Führung der Einheiten. Besonders kritisch sei die Verlegung schlecht vorbereiteter Einheiten in umkämpfte Regionen, wie zuletzt bei Wuhledar im Oktober.
„Sehr schlecht, aber nicht katastrophal“
Am 29. Oktober meldete das russische Verteidigungsministerium die Einnahme der Stadt Selydowe, etwa 15 Kilometer von Pokrowsk entfernt. Wochenlang hatten die ukrainischen Truppen diesen Ort halten können, doch russische Einheiten umgingen schließlich die Stadt, unterbrachen die Nachschubwege und eroberten Selydowe. Damit steht den russischen Streitkräften der Weg zum südlichen Flügel von Pokrowsk offen, was einen weiteren Vorstoß in Richtung des strategisch bedeutenden Knotenpunkts Kuraichowe ermöglicht.
Laut dem ehemaligen Leiter der strategischen Kommunikation des ukrainischen Generalstabs, Oberst Jewhen Saschko, setzen die russischen Truppen auf eine „Kaumethode“: Mit starken Angriffskeilen an den Flanken versuchen sie, die Verteidigung stückweise zu zermürben. Diese Taktik könnte auch im Raum Kuraichowe angewandt werden, indem die russischen Truppen versuchen, die Stadt von Westen her zu umzingeln und wichtige Nachschubrouten abzuschneiden.
Als Reaktion auf die Angriffe hat das ukrainische Militär zusätzliche Einheiten nach Pokrowsk und Kuraichowe verlegt. Doch Militärexperten wie Oberst Markus Reisner warnen, dass ein Einsatz der strategischen Reserven, die eigentlich für eine Frühjahrsoffensive vorgesehen sind, die langfristigen Pläne der ukrainischen Streitkräfte gefährden könnte. Ein hochrangiger Regierungsvertreter in Kiew beschreibt die Lage als „sehr schlecht, aber nicht katastrophal“. Die ukrainische Führung hofft, dass das russische Tempo in den kommenden Wochen durch die Witterungsbedingungen verlangsamt wird.
In Kiew macht sich zunehmend Beunruhigung bemerkbar. Wolodymyr Selenskyj kritisierte, dass die Ukraine bisher nur 10 Prozent der zugesagten militärischen Unterstützung erhalten habe. Ursache seien bürokratische und logistische Hürden, nicht etwa fehlende finanzielle Mittel. Allerdings zeigt auch die finanzielle Unterstützung einen Abwärtstrend: Analysten warnen, dass sie im kommenden Jahr um bis zu 50 Prozent sinken könnte.
Zudem gibt es ein weiteres Problem: einen Mangel an Soldaten. Daher hat die ukrainische Regierung die allgemeine Mobilisierung bis Februar 2025 verlängert. Geplant ist die Einberufung von 160.000 zusätzlichen Soldaten, um bestehende Einheiten zu verstärken. Oleksandr Litwinenko, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, teilte im Parlament mit, dass bisher rund eine Million Ukrainer mobilisiert wurden. Ziel sei es, die Einheiten auf 85 Prozent ihrer Sollstärke zu bringen.
Kein Potenzial für künftige Offensiven?
Die Herausforderung bleibt jedoch groß: Während das Verteidigungsministerium etwa 11 Millionen potenzielle Wehrpflichtige zählt, haben viele Ukrainer seit Kriegsbeginn keine aktuellen Daten beim Militär hinterlegt. Ein Großteil der potenziellen Rekruten hat sich ins Ausland abgesetzt, arbeitet in systemrelevanten Berufen oder ist aus gesundheitlichen Gründen von der Einberufung ausgenommen.
Laut der Financial Times bleiben von den theoretischen 11 Millionen Männern lediglich 3,7 Millionen tatsächlich mobilisierbar. Ein Regierungsbeamter bezeichnete das Ziel von 160.000 neuen Rekruten als „eine schwer erreichbare Obergrenze“ und wies darauf hin, dass die Mobilisierung lediglich die Verluste an der Front ausgleiche, ohne signifikantes Potenzial für künftige Offensiven zu bieten.
Auch die Materialverluste belasten die ukrainische Armee schwer: Im September gingen Berichten zufolge 202 Fahrzeuge verloren, im Oktober weitere 163. Doch auch Russland verzeichnet hohe Verluste – allein im Oktober büßte die russische Armee innerhalb von zwei Wochen 54 Panzer, 114 Schützenpanzer und 57 weitere Fahrzeuge ein.
Während der Kreml Verluste durch eigene Rüstungsproduktion teilweise kompensieren kann, ist die Ukraine auf westliche Unterstützung angewiesen, da die heimische Rüstungsindustrie lediglich 20 Prozent des militärischen Bedarfs decken kann, wie Verteidigungsminister Rustem Umerow erklärte. Kritiker bemängeln, dass die Ukraine ihre Rüstungsproduktion zu spät hochgefahren habe (Achgut berichtete).
Auch Russland steht vor erheblichen wirtschaftlichen Belastungen. Der Haushaltsentwurf für 2025 sieht Rekordausgaben von 13,5 Billionen Rubel für Verteidigung vor, was die Zentralbank zur Erhöhung des Leitzinses auf 21 Prozent zwang, um die Inflation zu kontrollieren. Die Abhängigkeit von Munitionslieferungen aus Nordkorea verdeutlicht zudem, dass Russland seine Kriegsanstrengungen nicht allein stemmen kann. Der Kreml setzt nun auf eine langfristige Abnutzungstaktik, um die Ukraine zu schwächen und strategische Vorteile zu sichern.
Russland kann auf Zeit spielen
Die Verluste auf russischer Seite bleiben dennoch erheblich: Bis Mitte Oktober lassen sich die Tode von 74.000 russischen Soldaten belegen. Insgesamt belaufen sich die Verluste (Tote und Verletzte) laut US-Geheimdiensten auf bis zu 600.000 Mann. Doch die Ukraine kann daraus bislang keinen strategischen Vorteil ziehen. Stattdessen sieht sie sich mit der wachsenden Gefahr konfrontiert, dass die westliche Unterstützung im kommenden Jahr deutlich nachlassen könnte.
Ein Bericht des Kieler Instituts für Weltwirtschaft warnt davor, dass die Hilfszahlungen bis 2025 stark zurückgehen könnten – vor allem, falls Donald Trump erneut ins Amt gewählt wird oder alternative Finanzierungsquellen wie eingefrorene russische Vermögenswerte nicht aktiviert werden.
„Ohne neue Hilfspakete der USA würden die militärischen Hilfen auf rund 34 Milliarden Euro und die finanziellen Hilfen auf rund 46 Milliarden Euro sinken. Sollten auch europäische Geber ihre Hilfe reduzieren und der Ankündigung Deutschlands folgend ihre Beiträge halbieren, lägen die Militärhilfen nur noch bei 29 Milliarden Euro“, konstatieren die Analysten.
Die Ukraine setzt indes auf Präsident Selenskyjs „Plan des Sieges“, der sowohl weitere Operationen auf russischem Gebiet als auch eine NATO-Mitgliedschaft vorsieht. Dieser lange unter Verschluss gehaltene Katalog ist im Westen allerdings auf wenig Rückhalt gestoßen.
Eine aktuelle Entwicklung verdeutlicht, dass Russlands Strategie auf Zeit spielt: US-Militärs und Geheimdienstexperten sehen den Konflikt zunehmend als festgefahren an, da Russland seine Angriffe intensiviert hat. New York Times-Analysten berichten, dass US-Regierungsanalysten noch im Sommer 2024 davon ausgingen, Russland werde aufgrund mangelnder Ausbildung und Problemen bei der Durchbrechung der ukrainischen Verteidigung keine größeren Fortschritte erzielen.
Doch entgegen diesen Prognosen konnten russische Truppen im Osten der Ukraine erhebliche Geländegewinne verzeichnen und sogar über ein Drittel der zuvor in der Region Kursk von der ukrainischen Armee zurückeroberten Gebiete wieder einnehmen. Auch die Zahl der russischen Drohnenangriffe stieg drastisch – von 350 im Juli auf 750 im August und 1.500 im September.
„Respekt für die Unabhängigkeit der Ukraine“
„Die russischen Streitkräfte, die 2022 bei der Invasion ständig Fehler machten, gehören der Vergangenheit an“, zitiert die New York Times einen ranghohen US-Militär. „Die russischen Truppen haben sich stark weiterentwickelt und setzen sich nun in Bewegung.“ Diese Entwicklungen lassen einige US-Geheimdienste und Militärs zunehmend skeptisch auf die Fähigkeit der Ukraine blicken, die russische Offensive zu stoppen.
Dass weiß auch Wladimir Putin. Vor der Presse bekräftigte er am 25. Oktober 2024 auf dem BRICS-Gipfel in Kasan seine Bereitschaft zu Verhandlungen: „Wir sind bereit, Kompromisse zu suchen, und wir sind bereit, uns diesen Kompromissen zuzuwenden.“ Doch in Kiew glaubt niemand an Putins Erklärungen zur Ukraine. Genau 20 Jahre zuvor, am 26. Oktober 2004, hatte Putin in einer Rede an das ukrainische Volk versichert:
„Russland erkennt, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken nun eigenständige Staaten sind, und die Beziehungen zu ihnen sollten sich wie zu gleichwertigen Partnern entwickeln. Wir haben alle Grenzfragen geklärt. Das ist nichts anderes als die volle und absolute Anerkennung der Unabhängigkeit und der Respekt für die Unabhängigkeit der Ukraine.“
Auch die Zusagen der westlichen Partner bieten der Ukraine derzeit keine verlässliche Sicherheit – eine ungewisse Zukunft, deren Dramatik auch den amerikanischen Medien nicht entgangen ist. Mit Blick auf die zahlreichen ungelösten Probleme Kiews bringt es Christopher Miller in einem Beitrag für die Financial Times auf den Punkt: „Ukraine faces its darkest hour.“
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.