Kurz nach dem dramatischen Parteitag braut sich eine explosive Stimmung in der SPD zusammen. Das knappe „Ja” des Parteitags für Koalitionsgespräche mit der Union mit nur 56 Prozent der Delegierten-Stimmen wirkt für die SPD-Spitze, die geschlossen für die Große Koalition warb, unangenehm nach. „Es war eine schallende Ohrfeige”, sagt ein Präsidiumsmitglied in Berlin.
Vier peinliche Dinge sind nun offenbar: Erstens ist die Partei tief gespalten. Zweitens hat Parteichef Martin Schulz seine Autorität weitgehend verspielt. Drittens wankt die Mehrheit der Basisabstimmung. Und viertens kann diese zerrissene SPD – selbst wenn es noch klappen sollte – kaum eine stabile Koalitionsregierung bilden.
Das politische Momentum der SPD liegt nicht mehr beim 62 Jahre alten Martin Schulz, es liegt bei dem 28 Jahre jungen Kevin Kühnert. „Nicht einmal halb so alt, aber doppelt so überzeugend”, verkünden angriffslustige Jusos zu der wachsenden Putsch-Stimmung in der SPD. Im Willy-Brandt-Haus wächst die Angst, dass die Parteibasis am Ende der Koalitionsverhandlungen Kühnerts No-GroKo-Bewegung folgt, egal welche Verhandlungserfolge noch erzielt werden können. Und die werden nach den Aussagen von führenden Unions-Politikern ohnedies nur minimal ausfallen.
„Die Stimmung an der Basis ist nach dem Parteitag am kippen”, heißt es aus der Parteizentrale. Das Hashtag #NoGroKo von den Jusos wachse zu einem Banner der Widerständigkeit und löse alle Revolutionsreflexe eines gedemütigten Parteivolkes aus. Das knappe Abstimmungsergebnis auf dem Parteitag signalisiere der Basis, dass der Ausstieg möglich, dass die Juso-Bewegung mehrheitsfähig sein und das Ende von Schulz wie Merkel erreicht werden könne – das mobilisiere erst recht.
„Einen Zehner gegen die GroKo“
„Jetzt gilt es, möglichst viele GroKo-Kritiker in die Partei zu holen, damit wir beim Mitgliederentscheid das Ergebnis sprengen können”, kündigt nun der Juso-Chef in Nordrhein-Westfalen, Frederick Cordes, an. „Wir planen eine möglichst bundesweite Kampagne nach dem Motto, ‘einen Zehner gegen die GroKo’”. Fünf Euro, so viel kostet die SPD-Mitgliedschaft für Studenten pro Monat. Die Neu-Mitglieder könnten dann die Basisabstimmung mit entscheiden.
Diese Pläne erinnern stark an die britische Momentum-Bewegung, die Jeremy Corbyns Erfolg der Parteilinken dort erst ermöglicht hat. Kühnert twittert mit einem Verweis auf die SPD-Internet-Seite für Neueintritte: „Für den nächsten Schritt brauchen wir JETZT dich.”
Der große Zulauf zur No-GroKo-Bewegung hängt eng mit der Person Kühnert zusammen. Der Juso-Chef und Student der Politikwissenschaften vermeidet schrille Töne und Übertreibungen. Im Gegensatz zu Andrea Nahles, die sich gerne im Sprachrepertoire der Adoleszenz (vom Pippi-Langstrumpf-Geträller über „In-die-Fresse”-Sprüche bis zur Klage über den „blöden Dobrindt”) bedient, spricht Kühnert mit der analytischen Abgeklärtheit eines erfahrenen Ingenieurs der Macht.
Anders als viele Juso-Vorsitzende vor ihm macht er den Fehler des wild Provokativen nicht. Er agiert kontrolliert und zielt nicht auf den exaltierten linken Rand der Partei, er zielt auf ihr Herz in der Mitte. Kühnert wirkt daher wie ein Rebellenführer für Beamte. Und von denen gibt es in der SPD jede Menge.
Kühnert ist sich der Stärke seiner Position mittlerweile so sicher, dass er seine innerparteilichen Gegner sogar lobt, die Debattenkultur könne einen stolz machen, die Parteiführung verhandele gut und tapfer – gönnerhaft, wie der eigentliche Vorsitzende. Seine Revolte kommt nicht mit Barrikaden und Geschrei daher, sondern mit dem Notarzt-Köfferchen desjenigen, der jetzt die Seele der Partei lebensretten müsse. Seine Partei müsse den „Teufelskreis der ewigen Großen Koalition” überwinden, diagnostiziert er.
„Zwergenaufstand“ in der Vertrauenskrise
Als Leitspruch für die Abstimmung und den Neustart in der Opposition gibt er aus: „Heute einmal ein Zwerg sein, um künftig wieder Riesen sein zu können.” Damit spielt er auf die Provokation des CSU-Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt an, der den Jusos einen „Zwergenaufstand” vorgeworfen hatte. Kühnert bezieht den Angriff gerne gezielt auf sich selbst und berichtet der Öffentlichkeit, er selbst sei ja auch nur 1,70 Meter klein.
Es ist diese Verkörperung von Demut in Sprache und Geste, die den Mut zu einem echten Neuanfang für viele Genossen so faszinierend macht. Kühnert spricht entwaffnend offen von einer „tiefen Vertrauenskrise” in der Partei, die ihre Existenz als linke Volkspartei verspiele, wenn sie sich immer nur als Erfüllungsgehilfin von Angela Merkel zeige. „Nichts an Opposition ist romantisch. Und ich bin nicht in diese Partei eingetreten, um mit ihr Opposition zu machen. Aber ich bin auch nicht in sie eingetreten, um sie immer wieder gegen die gleiche Wand rennen zu sehen. Wir haben ein Interesse daran, dass hier noch etwas übrig bleibt von diesem Laden. Und ich sehe im Moment nicht, dass wir Strategien fahren, bei denen noch etwas übrig bleibt.”
Mit Kühnert hat damit ein Typus die große Bühne der SPD betreten, der zeitgeistig allenthalben angesagt ist. Eine neue Generation von politisch Inkorrekten, die lieber ihren Überzeugungen treu bleiben als der Macht, die in Martin-Luther-Manier rufen „Hier stehe ich, ich kann nicht anders”. Christian Lindner in der FDP, Robert Habeck bei den Grünen, Jens Spahn bei der CDU, Sahra Wagenknecht bei den Linken oder Alexander Dobrindt bei der CSU – sie alle verkörpern eine aufsteigende Kraft des Autonomen.
Das Überkonsensuale wirkt plötzlich alt
Das Überkonsensuale des politischen Korrekten wirkt neben den kantigen Positionen dieser Generation plötzlich alt und falsch. Es ist ein Trend, den man von Sebastian Kurz in Österreich bis Emmanuel Macron in Frankreich beobachten kann. Der statische Korporatismus des Merkelismus gerät gegenüber der jugendlichen Leidenschaft ins Hintertreffen.
Die neue Generation von Politikern, ob Lindner, Habeck oder eben Kühnert, erkennt man auch an ihrer unkonventionellen Sprache. Sie reden variantenreicher, eigenwilliger, weniger schablonenhaft und unberechenbarer. Sie verkörpern eine freiere, mutigere Denkweise und machen so den Blick frei für eine Perspektive jenseits von alternativlosen Welten des Großkoalitionären.
Das Zusammenwirken der neo-autonomen Generation von Christian Lindner (No-Jamaika) bis Kevin Kühnert (No-GroKo) könnte am Ende also nicht nur Martin Schulz stürzen, sondern auch den politisch korrekten Mechanismus des Machterhalts um seiner selbst willen. Sollten die SPD-Mitglieder der No-GroKo-Bewegung mehrheitlich folgen, dann wäre auch das Ende von Angela Merkel nah. Wie raunen die Jusos dieser Tage? „Kevin ist nicht alleine zu Hause. Und Merkel macht bald Pause.”
Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European.