Gustav Kuhn ist eine der schillerndsten, umstrittensten, aber auch visionärsten Persönlichkeiten der klassischen Musik der vergangenen Jahrzehnte. Über sein Leben könnte man ein Buch schreiben – aber leider wagt das kein Verlag.
Der österreichische Dirigent, Komponist, Regisseur, Musikpädagoge und Kultur-Impresario Gustav Kuhn ist ein bekannter, ja berühmter Mann. In Österreich ist sein Name den meisten Klassikfans ein Begriff, auch in Italien war er über Jahrzehnte omnipräsent. In Deutschland dagegen stempelte man ihn zur „persona non grata“, nachdem er 1985 wegen persönlicher und konzeptioneller Differenzen den Intendanten der Oper Bonn, Jean-Claude Riber, seinen damaligen Chef, öffentlich geohrfeigt hatte, was ihm den Beinamen „Watschn-Gustl“ einbrachte.
Ins gleiche Jahr datierte das Zerwürfnis mit seinem Mentor Herbert von Karajan, dessen künstlerisches Anliegen Kuhn zunehmend unter „industriellem Schutt“ begraben wähnte, wie er unvorsichtigerweise einem Journalisten anvertraute. Trotzdem absolvierte er unter Gerard Mortier, Karajans Nachfolger in der Leitung der Salzburger Festspiele, regelmäßige und viel beachteten Gastdirigate im Rahmen des weltbekannten Festivals.
Schon die beiden Episoden zeigen: Kuhn macht es sich und anderen nicht leicht. Der 1945 auf einer Almhütte in der Steiermark geborene Musiker kann als eine der schillerndsten, umstrittensten, aber auch visionärsten Persönlichkeiten der klassischen Musik der vergangenen Jahrzehnte gelten. Wobei er sich selbst nur widerstrebend als Teil des von ihm oft kritisierten „Musikbetriebs“ sah, sondern immer versuchte, eigene Wege zu gehen, abseits von „Opernkäse und Stimmenporno“. Spätestens mit der Gründung der Tiroler Festspiele Erl im Jahre 1997 glaubte er, diesen Weg gefunden zu haben.
Die „#MeToo“-Kampagne
Das Opern- und Musikfestival in dem Nordtiroler Dorf Erl mit einem ob seiner Akustik weithin gerühmten Passionsspielhauses aus den späten fünfziger Jahren, zu dem sich 2012 ein nagelneues Opern- und Konzerthaus in spektakulärer Architektur gesellen sollte, hatte für Kuhn zusammen mit seiner toskanischen Talentschmiede „Accademia di Montegral“ bei Lucca Modellcharakter und wurde schon bald mit den Bayreuther Festspielen („Tirols grüner Hügel“) verglichen. International Furore machte 2005 sein 24-Stunden-„Ring“, eine atemberaubende Nonstop-Aufführung sämtlicher Opern des Wagnerschen Welterklärungs-Zyklus.
Dass er sich mit wachsendem Ruhm und dem Einstieg des Macht bewussten Milliardärs und Kulturmäzens Hans Peter Haselsteiner bei den Tiroler Festspielen dann doch von Musikbetrieb und Kulturpolitik einfangen ließ und schließlich im Zuge einer undurchsichtigen #MeToo-Affäre geschasst wurde, entbehrt nicht einer gewissen Tragik. Ebenso wie die Tatsache, dass sich Kuhn schon früh gegen das „Tyrannentum“ von Dirigenten alter Schule ausgesprochen hatte, um schließlich in Teilen der Öffentlichkeit selbst als musikalischer „Gewaltherrscher“ zu gelten.
Enthüllungen eines den Grünen nahestehenden politischen Bloggers aus dem Ötztal über angebliche sexuelle Übergriffe, tyrannische Umgangsformen und finanzielle Unregelmäßigkeiten bei den Tiroler Festspielen zwangen Kuhn im Oktober 2018 zum Rücktritt von allen Ämtern; selbst den Tiroler Adler-Orden, verliehen für seine kulturellen Verdienste, musste er zurückgeben. Kuhn war der erste klassische Dirigent, der im Zuge einer „#MeToo“-Kampagne öffentlich an den Pranger gestellt wurde; sein Lebenswerk lag in Trümmern. Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen Kuhn wurde 2020 zwar ergebnislos eingestellt, doch sein Ruf war ruiniert.
Es müsste doch ein Leichtes sein, dafür einen Verlag zu interessieren!
Kultur war und ist für Gustav Kuhn „nicht ein Anhängsel am menschlichen Dasein, sondern Bedingung dazu“, wie er bereits in seinem 1983 erschienenen Buch „Aus Liebe zur Musik“ dargelegt hatte. Darin beschrieb der promovierte Philosoph, Psychologe und Psychopathologe, der in früheren Jahren überdies als Mitglied der österreichischen Olympiamannschaft im Segeln reüssierte, auch ein „Phänomen im Verhalten der Gesellschaft“ – nämlich „die Tendenz, jemandem in dem Maße zu vernichten, wie sich seine Persönlichkeit stärkt und daher nicht konform geht mit üblichen Verhaltensmustern“. Ein Satz, der im Nachhinein und gemünzt auf seine eigene Person als prophetisch gelten kann.
Aller öffentlichen Ämter ledig, zog sich Kuhn in sein toskanisches Refugium bei Lucca zurück, wo er im August 2025, wenn nichts dazwischenkommt, seinen 80. Geburtstag feiern wird. Ein idealer Anlass, Bilanz eines nicht unbedeutenden Lebenswerkes zu ziehen, sollte man meinen, in Buchform, wie es sich gehört. Vielleicht ein autobiografisches Interviewbuch, ein Debattenbuch, eine Bekenntnisschrift. Kuhn hat etwas zu sagen, ist sprachlich versiert, er kennt den Klassikbetrieb bis ins letzte Kapillargefäß, er nimmt kein Blatt vor den Mund, sprudelt vor oft skurrilen Anekdoten. Das müsste man nur aufschreiben und müsste, sollte man denken, ein Leichtes sein, dafür einen Verlag zu interessieren! Selbst wenn das Buch kein Bestseller würde, Kuhns erste öffentliche Äußerung seit der #MeToo-Affäre wäre in jedem Fall ein gefundenes Fressen für Journalisten. Wie würde er im Rückblick darüber denken? Schlagzeilen wären garantiert, zumindest in Österreich und Süddeutschland.
Kuhn verfügt über ein weit verzweigtes Netzwerk. Er ist persönlich mit Liz Mohn befreundet, der immer noch einflussreichen „großen Dame“ des Bertelsmann-Konzerns und der mächtigen Bertelsmann-Stiftung. Die Verbindung rührt daher, dass Kuhns Vater nach dem Krieg das Buchgeschäft von Bertelsmann in Österreich leitete. 1987 hatte Gustav Kuhn auf Initiative Liz Mohns die künstlerische Leitung des Gesangswettbewerbs „Neue Stimmen“ der Bertelsmann-Stiftung übernommen. Auch dieses Amt musste er im Zuge der Affäre aufgeben.
Dagegen wäre eine Kuhn-Autobiografie ein Blockbuster geworden
Trotzdem rissen die Kontakte nicht ab, eine „gemahde Wiesn“, sollte man meinen, wie man im Alpenraum ein Vorhaben nennt, das nach menschlichem Ermessen nicht scheitern kann. Doch die Suche nach einem Verlag, in die neben Kuhn selbst auch der Autor dieser Zeilen sowie ein in der Salzburger Medienszene vernetzter Kulturschaffender eingebunden war, gestaltete sich zäh. „Passt nicht ins Programm“, lautete die Standardabsage, wenn es überhaupt eine Reaktion gab. Eine Ausrede, dochProgramme sind biegsam, wie man aus anderen Zusammenhängen weiß. Wenn man etwas platzieren möchte, findet man immer eine Lücke.
Ein großer deutscher Publikumsverlag war für das Vorhaben nicht zu gewinnen, aber auch Musikverlage winkten ab. Selbst der Leipziger Seemann Henschel-Verlag, von dem Kuhn sein erstes Buch herausbringen ließ, nahm nach einem Anfangsinteresse wieder Abstand. Kuhn sei zwar, sowohl im österreichischen als im deutschen Raum eine „äußerst spannende Künstlerpersönlichkeit“, hieß es. Doch würden Bücher über Komponisten und Dirigenten derzeit nur „zögerlich“ angenommen, die Zielgruppe zu klein, um das Projekt wirtschaftlich abzusichern.
Wenn man sich letzte Veröffentlichungen bei Seemann Henschel ansieht, kommen Zweifel. Ob sich von Christian Gerhahers Interviewbuch „Halb Worte sind‘s, halb Melodie“ deutlich mehr Exemplare verkauft haben als beispielsweise von Ludwig Wittgensteins Erstausgabe des „Tractratus logico-philosophicus“? Klassischer Liedgesang, wie ihn der Bariton Christian Gerhaher meisterhaft pflegt, ist zwar ein sehr schönes Metier, doch außerhalb einer eingeschworenen Gemeinde von Liebhabern wenig populär. Dagegen wäre eine Kuhn-Autobiografie wohl ein Blockbuster geworden.
Pech gehabt
Wissen sollte man dagegen, dass bei Seemann Henschel ausschließlich Frauen arbeiten. So viel Geschlechtergerechtigkeit mag man begrüßen oder ein wenig einseitig finden. Tatsache ist, dass die gesamte Buchbranche als Dorado eleganter Hosenanzugträgerinnen gilt. Mehr als achtzig Prozent der Verlagsmitarbeiter sei weiblichen Geschlechts, erfährt man aus einem 2012 im Börsenblatt veröffentlichten Interview mit Jana Stahl, der vergangenes Jahr verstorbenen Vorsitzenden des Branchennetzwerkes BücherFrauen. Doch Stahl reichte das nicht, weil der Anteil von Frauen „in der Geschäftsführung größerer Verlage“ bei gerade einmal zwanzig Prozent liege.
Als sicher anzunehmen ist, dass die politische Gesinnung dieser achtzig Prozent in etwa der von Volontären des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (92 Prozent grün-rot-rot) entspricht, zuzüglich linkslastiger Buchhändlerinnen, die es im Zweifelsfall ablehnen, ihren Kunden politisch nicht genehme Bücher zu bestellen. Auf jeden Fall wunderte es da nicht, wenn alles durchs Raster fällt, was irgendwie mit dem Makel toxischer Männlichkeit behaftet sein könnte. Bei österreichischen Verlagen ein ähnliches Bild. Dass schließlich auch der traditionsreiche Salzburger Anton-Pustet-Verlag von einem Kuhn-Buch nichts wissen wollte, entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, hatte doch Kuhns Vater einst das Haus vor dem Ruin gerettet.
Die Absage bestand aus einem Satz: „Wir haben eine mögliche Publikation intern geprüft und sind zu der Entscheidung gelangt, dass wir leider nicht das geeignete Programmumfeld bieten können.“ Gezeichnet Dr. Michaela Schachner, Geschäftsführung und Verlagsleitung. Frau Schachner stieß vor gut einem Jahr zu Anton Pustet und hebt nun zumindest in Österreich den Frauenanteil in der Geschäftsführung größerer Verlage. Ihr Vorgänger war ein gewisser Gerald Klonner, der auf Fotos einen durchaus bodenständigen Eindruck macht. Pech gehabt.
Georg Etscheit ist Autor und Journalist in München. Fast zehn Jahre arbeitete er für die Agentur dpa, schreibt seit 2000 aber lieber „frei“ über Umweltthemen sowie über Wirtschaft, Feinschmeckerei, Oper und klassische Musik, u.a. für die Süddeutsche Zeitung. Er schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss und auf Achgut.com eine kulinarische Kolumne.