Ahmet Refii Dener / 04.11.2024 / 16:00 / Foto: K.I / 20 / Seite ausdrucken

Keine Sehnsucht mehr nach der Türkei?

Die Krise in der Türkei und die türkische Flüchtlingspolitik sorgen dafür, dass Deutschland die türkeistämmige Bevölkerung für sich gewinnt, ohne viel dafür zu tun.

Den Spruch „Alles hat was Gutes!“ hasse ich. Der Türke sagt grundsätzlich: „In allem Schlechten liegt etwas Gutes.“ Das sagt man zum Beispiel, wenn jemand pleite gegangen ist oder wenn der Sohn oder die Tochter die Aufnahmeprüfung zur Universität nicht bestanden hat. Da fragt man sich, was daran gut sein soll. 

Und was hat das mit den Deutschlandtürken zu tun? Ich sage Dir, was der größte Traum eines Deutschlandtürken ist, denn allein wirst Du nicht darauf kommen. Die Mehrheit von ihnen will in die Türkei zurückkehren, oder, neuerdings kann man sagen, sie wollte zurückkehren.

Auch das Wort „zurückkehren“ ist nicht richtig, denn wir sprechen von den Kindern der ersten Generation der Gastarbeiter und deren Kindern, die die Türkei nur vom Urlaub her kennen. Dieser Traum ist nun ausgeträumt. Nur die Allerwenigsten möchten noch dorthin, wenn überhaupt, denn die Türkei ist wirtschaftlich und gesellschaftlich am Boden. Diesen Zustand hätte die Ära Erdogan auch von allein erreicht, aber sie bekam einen Booster in Form von Flüchtlingen.

Wirtschaftsflüchtlinge

Wer aus Syrien in die Türkei flüchtet, ist ein Flüchtling, aber in Deutschland angekommen, sind sie Wirtschaftsflüchtlinge, die auf den Sozialstaat Deutschland setzen. Wie viele Umfragen zeigen, sind mehr als 80 Prozent der türkischen Bevölkerung gegen die Flüchtlinge. Am liebsten würden sie sehen, dass diese zurück geschickt werden, wenn sie nicht freiwillig gehen. Im Gegenzug sind 75 Prozent der syrischen Flüchtlinge nicht gewillt, zurückzukehren. Eher würden sie nach Deutschland ziehen, als in ihre Heimat zurückzukehren. Die türkischen Grenzen sind offen für syrische, irakische und afghanische Flüchtlinge.

Diese Situation in der Türkei, die Missstimmung der Türken gegenüber den Migranten und die am Boden liegende Wirtschaft sehen auch die Deutschlandtürken und hegen immer weniger den Gedanken, irgendwann einmal in der Türkei zu leben. Ich habe früher viele Menschen gecoacht, die von Deutschland in die Türkei zogen und sich dort ein Leben aufbauen wollten. Wer bei einem deutschen Arbeitgeber unterkam, konnte sich glücklich schätzen. Sie fingen später mit Rauchen und Alkohol an als die anderen Rückkehrer, die bei türkischen Arbeitgebern anheuerten.

Die Menschen, die ich in die Türkei begleitete, waren anfangs zufrieden. Diejenigen, die länger zufrieden blieben, merkten nicht, dass sie ihre Erwartungen an das Leben in der Türkei immer weiter herunterschraubten. Am Ende waren sie lediglich glücklich, Türken um sich zu haben. Das war einmal! Mittlerweile spielen besonders die syrischen Flüchtlinge die erste Geige. Sie dürfen – vom Staat bzw. der Erdogan-Regierung gefördert – so ziemlich alles. Die Bürokratie können sie dabei fast gänzlich umgehen. Wer z.B. als Syrer einen Imbiss eröffnen möchte, tut dies einfach: keine Gewerbeanmeldung, keine Steuernummer, nichts. Das ist möglich!

Diese Ungleichbehandlung zugunsten der Syrer führt zu Spannungen mit den Einheimischen – nur allzu verständlich!

Eine Ungleichbehandlung gibt es auch hierbei

Auch wenn es fast eine Million schulpflichtige syrische Kinder geben soll, die keine Schule besuchen, so gibt es dennoch viele, die sogar Universitäten besuchen und ihren Abschluss machen. Die Abschlussfeiern werden oft im türkischsprachigen Internet geteilt. An den projizierten Namen der Absolventen anatolischer Universitäten kann man erkennen, dass viele von ihnen arabische Namen tragen. Man könnte meinen, das sei gut für die Türkei. Aber weit gefehlt! Auch über Straßeninterviews sieht man, dass viele syrische und afghanische Absolventen türkischer Universitäten den Wunsch hegen, nach Deutschland zu ziehen.

Eine Ungleichbehandlung gibt es auch hierbei. Die Syrer können ohne Aufnahmeprüfung in die türkischen Universitäten, während Millionen von türkischen Jugendlichen fast drei Jahre opfern, um die Prüfung zu bestehen. So lange besuchen sie die Kurse, als Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung.

Kommen wir von den Flüchtlingen weg. Die Inflation, als Folge der allgemein katastrophalen Wirtschaftslage, hat die Türkei in die Knie gezwungen. Schon mal von Mieten gehört, die jährlich um 25 bis 100 Prozent steigen? Die Löhne und besonders die Renten hinken hinterher, so extrem, dass viele Menschen auf der Straße landen oder zu Verwandten ziehen. Der sogenannte Mittelstand verkauft Eigentum, um sich noch als Mittelstand zu bezeichnen, doch die Richtung ist klar, und eine Wende der Situation kann es nur geben, wenn etwas dagegen unternommen wird. Eigentlich warten alle, auch die Regierenden, auf den großen Knall, damit es einen Neuanfang gibt.

Rente und Mindestlohn unter der Hungergrenze

Die Hungergrenze (September 2024) für eine Einzelperson liegt bei 19.830 TL und die Armutsgrenze bei 64.596 TL (Offizielle Zahlen des Dachverbandes der türkischen Gewerkschaften). Von den 16 Millionen Rentnern bekommen etwa 4 Millionen eine Rente von 12.500 TL pro Monat – weit unter der Hungergrenze, die lediglich das Existenzminimum für Essen und Trinken abdeckt. Miete, Heizung und andere Aufwendungen sind in der Armutsgrenze von 64.595 TL enthalten. Wenn man erwähnt, dass Mieten bei rund 15.000 TL liegen, sieht man die Ausweglosigkeit der Menschen. Es verdeutlicht sich noch mehr, wenn man die Anzahl der Pfändungsbeschlüsse nennt – aktuell 39 Millionen!

Der Mindestlohn ist nicht viel höher als die Mindestrente, nämlich 17.200 TL/Monat. 15.022.000 Personen arbeiteten im Januar 2024 zum Mindestlohn.

Deutschlandtürken machen ein- oder zweimal im Jahr Urlaub in der Türkei. Früher reichten ein paar Hundert Euro, um gut über die Runden zu kommen und zu denken, man sei im Schlaraffenland. Heute reicht dieser Betrag nicht mehr aus. Die Preise sind fast identisch mit Deutschland.

Viele Deutschlandtürken haben sich gedanklich umorientiert und denken nur noch deutsch. Die Zukunft liegt für sie in Deutschland. Hinzu kommt, dass sie – wie die meisten Deutschen – Wirtschaftsflüchtlinge, in der Türkei wie auch in Deutschland, ablehnen. Sie verdienen jetzt mehr Beachtung, weil sie ihre Zukunft in Deutschland sehen und planen.

Die türkeistämmige Community in Deutschland

Ich möchte auch nicht, dass sie, wenn man über nicht in die deutsche Mehrheitsgesellschaft integrierbare Muslime spricht, in einen Topf geworfen werden. Die meisten Türken kennen den Islam nur vom Hörensagen und praktizieren, wenn überhaupt, eine sehr vereinfachte Form. Sie wissen meist nur, was Verwandte oder die Umgebung darüber vermittelt haben.

Türkeistämmige haben sich stärker auf Deutschland fokussiert; das sollte man fördern, um ihre Identifikation mit Deutschland zu stärken – trotz des Islams. Deutschland sollte zeigen, dass es zu ihnen steht.

Wer hätte gedacht, dass das Potenzial an Arbeitskräften unter den Deutschlandtürken durch die Krise in der Türkei noch gestärkt wird: Die gut ausgebildeten Fachkräfte dieser Community bleiben Deutschland erhalten, ohne das Dazutun der deutschen Regierung.

 

Ahmet Refii Dener, Türkei-Kenner, Unternehmensberater, Jugend-Coach aus Unterfranken, der gegen betreutes Denken ist und deshalb bei Achgut.com schreibt. Mehr von ihm finden Sie auf seiner Facebookseite und bei Instagram.

Foto: K.I

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Ralf Pöhling / 04.11.2024

Der Koran ist arabisch, nicht türkisch. Das selbe gilt für die Muslimbrüder. Die Türken sind kein genuin islamisches Volk und schon gar keine Araber. Sie sind irgendwann mal islamisiert worden. Die Türkei ist seit etwa 20 Jahren faktisch in der selben Situation wie wir in Deutschland seit 2015. Stichwort: Zuwanderer dürfen alles, die angestammte Bevölkerung hingegen immer weniger. Ich gehe davon aus, dass ein erheblicher Teil der Türken das alles nicht freiwillig mitmacht. Entweder fallen die auf die Propaganda rein, oder sie werden über den hierarchischen Apparat dazu gezwungen. Genauso wie wir in Deutschland. Wenn ich ein Land übernehmen will, muss ich in an der richtigen Stelle im Machtapparat nur ein paar geschulte oder erpresste Leute platzieren und ich kann mit denen das ganze Land genau da hin steuern, wo ich es haben will. Die Anzahl an Leuten, die ich dafür brauche, passt locker in einen Reisebus. Genug Geld und die Mitarbeit der Geheimdienste vorausgesetzt. In der Politik passiert nichts aus Zufall. Gar nichts. Alles ist gesteuert. Alles.

W. Renner / 04.11.2024

Wirtschaftswachstum in der Türkei 2023 5.1 % Schätzungen für 2024 3,0 %. Wirtschaftswachstum Deutschland 2023 0,3 % Schätzungen für 2024 0,2 %. Wie kommen Sie zu der Aussage, dass die wirtschaftliche Lage in der Türkei schlechter sei als in Deutschland? Und wenn Deutschland sich die Flüchtlingspolitik der Türkei zu eigen macht, ist dies ein deutsches Problem und kein türkisches. Die Syrischen Flüchtlinge in der Türkei sind allerdings ein türkisches, zumal die Türkei ein sehr grosses Stück Verantwortung für die heutigen Zustände in Syrien mit trägt.

Hartmut Laun / 04.11.2024

Wer hätte das gedacht, Zugereiste aus der Türkei und anderen Ländern, in der 2. und höheren Generation sind die zukünftigen AfD - Wähler.

Lutz Liebezeit / 04.11.2024

Ich bin ein bißchen schadenfroh, daß es in der Türkei auch nicht läuft. Das stimmt mich für heute etwas milder.

Lutz Liebezeit / 04.11.2024

Es wäre für alle vorteilhafter gewesen, hätte VW, statt Gastarbeiter ins Land zu holen, Produktionsstätten in die Türkei ausgelagert. Da hätten alle was von gehabt und die deutsche Regierung hätte sich damit sogar einen gewissen Einfluß gesichert. Das wäre eine Friedensgeste gewesen. Natürlich wissen wir heute, daß eine Agenda dahinter gesteckt hat, es ging nie um Arbeitermangel, es ging darum, im Land einen möglichst rassistischen Konflikt anzuzünden, weil man vielleicht glaubte, daß dauernde Unruhe im Inneren Kriege im Aussen verhindern würden. Aber eigentlich ging es darum, einen Gen-Pool auszuschalten. Die Konfliktherde im Inneren haben keinen einzigen Krieg verhindert, womit auch bewiesen ist, daß es immer die Regierungen sind, die zum Krieg aufreizen - und nie das Volk.

Lutz Liebezeit / 04.11.2024

Das mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft, da meinen Sie wohl die 80er Jahre? Die Bio-Deutschen sind in den westdeutschen Großstädte, die ich kenne, und auf dem Land, nur marginal vertreten, eine mittlerweile winzige Minderheit.  Afrikaner, Türken, Syrer, Araber, ich kann die gar nicht alle auseinander halten, die drücken die deutsche Kultur mit Lärm, Krachfarben und schrillem Auftreten total an die Wand. Der Rassismus, das hat die Politik bestimmt, ist eine Einbahnstraße, der geht nur von den Weissen aus. Ich bin ständig Opfer rassistischer Anmaßungen und Anfeindungen. Das ist ja nicht so, daß die “Ausländer” nicht wüßten, wie der sozialdemokratische Nazi-Hase läuft. “Ja, man muss dem Deutschen Volk sagen, dass es den Tod gewählt hat, und dass der Tod des großen und intelligenten Deutschen Volkes der Tod Europas ist und das Unglück der Welt.” - Pierre Chaunu; Französischer Historiker

Ulrike Rotter / 04.11.2024

Also soll ich mich freuen, dass Menschen,  die in zweiter oder Dritter Generation hier leben, Deutschland nun doch okay finden, weil es im Land der Großeltern,  welches man nur aus dem Urlaub kennt, nur weil es dort wirtschaftlich bergab geht? Nee, das hat sowas von zweite Wahl. Und das ist auch kein bekennen zu Deutschland,  sondern mehr ein sich arrangieren, weil es ja hier trotz aller ganz furchtbaren Diskriminierungen leider eben doch besser leben lässt. Für wie lange, das ist halt die spannende Frage…

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