Friedrich Merz feiert seinen Wahlsieg und will spätestens zu Ostern der neue Kanzler sein, aber nur mit einer Mehrheit gegen den Wahlgewinner AfD. Er setzt auf die abgewählte SPD. Was passiert, wenn auch dieses Regierungsprojekt scheitert?
Die Unionsparteien haben Platz eins erreicht. Obwohl 28,6 Prozent (bei 3,4 Prozentpunkten Zuwachs für die CDU und 0,8 Prozentpunkte Zuwachs für die CSU) in früheren Zeiten nicht gerade als strahlender Sieg gegolten hätten, hat Friedrich Merz das Ergebnis gestern als einen solchen gefeiert. Als er in Siegerpose vor seinen Anhängern auf die Bühne trat, war er so begeistert, dass er mit einem Versprecher für eine nette Wortschöpfung sorgte. Es sei, so sagte er als Aufruf zum Feiern, jetzt Zeit für „Rambo Zambo“. Dafür hatte der mutmaßlich künftige Kanzler selbst natürlich wenig Zeit, denn er hatte sich etlichen Interviews zu stellen und auch zur „Berliner Runde“ bei ARD und ZDF zu erscheinen.
Dabei musste er natürlich immer wieder dieser unangenehmen Frage ausweichen, mit wem er denn eigentlich seine Wahlversprechen durchsetzen will. Beispielsweise die versprochene Begrenzung der Migration; durchgreifende Maßnahmen gegen die illegale Einwanderung oder eine Wende in der Wirtschaftspolitik kann er kaum mit der SPD und den Grünen im Boot durchsetzen. Dafür hätte er zwar eine Mehrheit mit der AfD, aber er hatte bekanntlich auch versprochen, mit der ausgegrenzten Partei nicht zusammenarbeiten zu wollen.
Die AfD ist mit 20,8 Prozent bei 10,4 Prozentpunkten Zuwachs, also einer Verdopplung des Ergebnisses, wirklich ein Wahlgewinner. Doch nach dem erklärten Willen von Friedrich Merz sollen der kleine und der große Wahlgewinner aus ihrer gemeinsamen Mehrheit nichts machen – nicht einmal punktuell bei den Themen, in denen es unzweifelhaft eine weitgehende inhaltliche Übereinstimmung gibt. Dass es diese gibt, ist eigentlich nicht verwunderlich. Die AfD wirft der Union zwar vor, sie hätte bei ihrem Wahlprogramm von der AfD abgeschrieben. Doch die Christdemokraten können in vielen Punkten wohl zu Recht eine Urheberschaft beanspruchen, denn vieles, was die AfD heute vertritt, gehörte auch einmal zum Programm der Vor-Merkel-CDU. Aber Friedrich Merz fühlt sich der Merkel-CDU am Ende stärker verpflichtet.
Die Unionsparteien, insbesondere Markus Söder für die CSU, hatten auch erklärt, es werde keine Koalition mit den Grünen geben. Damit bliebe nur eine Koalition mit der SPD. Aber ob dieses einst „Große Koalition“ genannte Bündnis überhaupt eine rechnerische Mehrheit bekommen würde, war bis in den frühen Morgenstunden des heutigen Montags ungewiss. Die SPD erzielte nach einem Verlust von 9,3 Prozentpunkten mit 16,4 Prozent ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik. Ein bemerkenswerter Absturz einer Kanzler-Partei. Bei einem Koalitionspartner mit solch historischem Tiefstand konnte es eine Mandatsmehrheit nur geben, weil es FDP und BSW nicht schafften, in den Bundestag zu kommen. Bei der FDP – die am Ende der Auszählung bei 4,3 Prozent landete – wurde schon während der „Berliner Runde“, zu der FDP-Chef Christian Lindner noch eingeladen wurde, deutlich, dass sie es nicht schaffen würde. Lindner nutzte diesen letzten bundespolitischen Auftritt zu ein paar Abschiedsworten, mit denen er seinen vom Wähler erzwungenen Abtritt noch als persönliches Opfer darzustellen versuchte, das er für Deutschland gebracht hätte. Schließlich verdanke ihm das Land das vorzeitige Ampel-Aus. Das Land kann so undankbar sein. Lindner kündigte jedenfalls seinen Rückzug aus der Parteiführung an.
Die schwächste SPD fürchtet weitere Schwächung
Im Unterschied zur FDP verharrte das Ergebnis des Wagenknecht-Bündnisses in Hochrechnungen und bei den letzten Zwischenergebnissen der Bundeswahlleiterin noch bis tief in die Nacht bei 5,0 Prozent, um dann in den frühen Morgenstunden bei 4,972 Prozent anzukommen. Bei den Unionsparteien wusste das Führungspersonal, als es auf die Hochrechnungen reagieren und etwas zur künftigen Regierung sagen musste, noch nicht, ob nun eine oder zwei der gerade abgewählten Regierungsparteien die Chance bekommen müssen, wieder am Kabinettstisch mitzuspielen. Entsprechend milde sprach man übereinander.
Sie wussten: Wenn das BSW nicht in Bundestag kommt, dann reicht es mit der schwächsten SPD allein vielleicht zur Mehrheit, und die Christdemokraten könnten wenigstens um den Bruch des Wahlversprechens, nicht mit den Grünen zu koalieren, herumkommen. Diese Zweierkoalition mit einem Wahlverlierer lässt sich sogar noch irgendwie als Koalition der Mitte verkaufen, weil es links und rechts von ihr auch Oppositions- oder wenigstens Nichtregierungsparteien gibt. Natürlich ist das ein verklärtes Bild, schließlich existiert eine Mitte-Rechts-Mehrheit, die sofort für die wichtigsten der Sofortprogramm-Punkte aus den CDU-Wahlversprechen stimmen würde. Das ist von der SPD keinesfalls zu erwarten. Es mag die schwächste SPD in der Geschichte der Bundesrepublik sein, aber genau deshalb werden ihre Funktionäre fürchten, dass allzu große Nachgiebigkeit sie noch weiter schwächt.
Die Grünen verloren 3,1 Prozentpunkte und kamen auf 11,6 Prozent. Angesichts der Tatsache, dass die Ablehnung der Ampel-Regierung durch die meisten Bürger zu großen Teilen eine Reaktion auf grüne Politik und die Durchsetzung grüner Projekte war, ist es bemerkenswert, dass die Partei dafür den geringsten Verlust-Preis zahlen musste. Ihre früheren Wähler waren offenbar mit der Regierungsbilanz zufriedener als die von SPD und FDP. Das spricht dafür, dass der Eindruck, die Ampel habe größtenteils grüne Politik gemacht, richtig war. Aber um die Grünen müssen sich die Unionsparteien wohl nicht mehr bemühen. Zumindest wenn sich an den 4,972 Prozent für das BSW, wie es die Bundeswahlleiterin morgens um 4.15 Uhr vermeldete, nichts mehr ändert.
Kommen wir von den Wahlverlierern zum dritten Wahlgewinner nach AfD und CDU, das heißt eigentlich nach AfD und vor CDU, denn die SED-Erben von der Linken konnten 3,9 Prozentpunkte hinzugewinnen und kamen auf 8,8 Prozent. Der Jubel ihrer Kandidaten und Anhänger war sichtlich am größten, denn im Unterschied zu AfD und CDU hatten sie mit einem solchem Zugewinn nicht gerechnet. Noch wenige Wochen zuvor hätte eine Wette darauf, dass die Linksaußen-Genossen überhaupt in den Bundestag kommen, als äußerst riskant gegolten. Aber die Medien, die letztes Jahr vor den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg noch Sahra Wagenknecht mit größter Aufmerksamkeit bedachten, begeisterten sich kurz vor dieser Wahl für die Auftritte der jüngeren Heidi Reichinnek von den Linken. Da wanderten wahrscheinlich etliche Links-Wähler, die zuvor Sahra für die frische Alternative zu den meist wenig charismatischen Genossen aus der mehrfach umbenannten SED hielten, zurück zur Linken, die jetzt die noch frischere Heidi präsentieren konnte. Pech für die Wagenknechte.
Wo gibt es überzeugendes Personal?
Aber für die Regierungsbildung sind die Linken nicht relevant. Allenthalben wird dem Bürger vermittelt, dass der Kanzler Merz – quasi alternativlos – bald in einer Koalition mit den krachend Abgewählten von der SPD regieren will. Die wartete nicht lange, um damit anzufangen, das Abgewählten-Image abzustreifen. Nicht nur, dass der noch amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, er werde kein Verhandlungsführer bei eventuellen Koalitionsverhandlungen sein. Noch am späten Sonntagabend traf sich die SPD-Parteiführung, um schon mal weitere Personalien festzuzurren. Lars Klingbeil werde der neue Fraktionsvorsitzende der geschrumpften SPD-Fraktion, hieß es in den Meldungen zur Nacht. Rolf Mützenich wird offenbar aussortiert. Von „Verjüngung“ ist die Rede, was aber nicht gelten soll, wenn die Partei den angeblich unglaublich beliebten Boris Pistorius aufbietet – in welchem Amt auch immer.
Bild berichtete, dass es „Top-Genossen“ gäbe, die hinter vorgehaltener Hand sagen, dass der Parteichef nach so einer historischen Wahlklatsche nicht mit dem Fraktionsvorsitz belohnt werden dürfe, doch die hätten sich nicht durchgesetzt. Vielleicht wussten sie auch nicht, wen sie stattdessen nehmen sollten. Wo findet man bei der SPD noch überzeugendes Personal?
Angesichts dessen, dass allenthalben von einer Schicksalswahl die Rede war, verlief der Wahlabend aber insgesamt nahezu ohne aufregende Höhepunkte. Wenn man die Reaktionen der Spitzenpolitiker nach den Hochrechnungen Revue passieren lässt, so waren deren inhaltliche Aussagen eigentlich alle erwartbar. Man kennt ja die Textbausteinkästen der Akteure inzwischen. Allerdings war die Art des Vortrags zuweilen durchaus interessant. Bei den beiden größten Wahlgewinnern – AfD und Linke – herrschte Freude. Bei den Linken war es eher ausgelassene Freude, bei der AfD demonstrierten die Parteivorsitzenden gut gelaunte Gelassenheit.
Sie betonten vor jeder Kamera ihre ausgestreckte Hand zu den Unionsparteien und prognostizierten für den Fall, dass die Union lieber auf fragile Koalitionen mit den Abgewählten setze, vorzeitige Neuwahlen und danach ein noch stärkeres AfD-Ergebnis. Auch diejenigen, die gern alles für falsch halten, was von AfD-Vertretern gesagt wird, sollten an dieser Stelle wohl dringend darüber nachdenken, dass sehr viel dafür spricht, dass sie recht haben. Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn die neue Regierung tatsächlich in kurzer Zeit spürbar erfolgreich mit der Lösung der Migrationsprobleme und der Bekämpfung der Wirtschaftskrise beginnen würde. Aber wie wahrscheinlich ist das?
Abhängig von Abgewählten?
Friedrich Merz hat sich festgelegt und betonte auch am Wahlabend mehrfach, nichts mit der AfD zu tun haben zu wollen. Der Fakt, dass die Wähler ihm eine klare Mitte-Rechts-Mehrheit angeboten haben, ist für Merz nicht sonderlich bedenkenswert. In der „Berliner Runde“ sagte er dazu sinngemäß, dass die AfD-Wähler und auch die CDU-Wähler ja vorher gewusst hätten, dass es mit ihm diese Koalition nicht gäbe. Da haben die Wähler dann also Pech gehabt, wenn sie nicht nach den Vorstellungen des neuen Kanzlers votiert haben? Von einigen Kommentatoren hörte man dazu die Entgegnung, dass ja nur die AfD-Wähler auf Schwarzblau gesetzt hätten und die CDU-Wähler auf den Merzschen Brandmauerkurs. Aber vielleicht gibt es auch Wähler, die zwar einerseits eine klare Wende in der Migrations- und Wirtschaftspolitik wollen, wie sie wohl im nächsten Bundestag nur mit CDU-AfD-Mehrheit durchzusetzen wäre, aber beispielsweise Putins Russland für eine größere Gefahr halten, als es die meisten AfD-Politiker tun. Beides politisch dennoch zu verbinden, das verhindert die Brandmauer.
Aber wie fest steht diese christdemokratische Brandmauer, wenn Merz scheitern sollte? Interessant war in diesem Zusammenhang der Auftritt von Markus Söder. Der hat zwar nichts gesagt, was Merz direkt widersprach, aber beispielsweise in der „Berliner Runde“ klang sein Ton bei der Distanzierung von der AfD weit weniger grundsätzlich und entschieden als der von Friedrich Merz. Ihm ist auch jedes Umschwenken zuzutrauen, denn inhaltliche Prinzipien bedeuten ihm nichts, sobald sie seinen Interessen im Wege stehen. Will er sich vielleicht ein Hintertürchen offen halten? Bei einem Mann mit Tendenz zum Haltungswechsel sind Nuancen zuweilen recht wichtig. Das ist natürlich alles bloße Spekulation, aber der bayerische Ministerpräsident zeigt oft schon recht deutlich, dass er gern ein größeres Gemeinwesen regieren würde, als er es derzeit tut.
Doch genug der Spekulationen. Vielleicht sollte man am Morgen nach einem Wahlabend noch zu ein paar weiteren Zahlen und Ergebnissen kommen, die bemerkenswert sind. Zum einen ist das – grundsätzlich nicht mehr überraschend – die Stärke der AfD im Osten. In allen fünf neuen Ländern – natürlich nicht in Berlin – ist sie mit Werten zwischen 32,5 Prozent in Brandenburg und 38,6 Prozent in Thüringen mit Abstand die stärkste Partei.
Überraschender ist allerdings das Ergebnis in Berlin. Dass auch in der deutschen Hauptstadt SPD und Grüne deutliche Verluste hinnehmen mussten, war zu erwarten. Doch dass dort die Linke jetzt mit 19,9 Prozent zur stärksten Partei wurde, ist schon bemerkenswert. (Zumal dann, wenn man bedenkt, dass die Wagenknechtsche Linken-Abspaltung BSW auch noch 6,6 Prozent bekommen hat.) Der Linken folgt die CDU mit 18,3 Prozent, danach kommen die Grünen mit 16,8 Prozent, die AfD mit 15,2 Prozent, und erst dann kommt die einstmals Berlin regierende SPD mit 15,1 Prozent.
Das Parteiengefüge der alten Bundesrepublik erodiert offenbar weiter, und dieser Prozess lässt sich nicht mit Brandmauern aufhalten, egal ob man diese nach rechts oder nach links baut. Da hilft nur der spürbare Erfolg eigener pragmatischer Politik, wofür in unserer Nachbarschaft in den letzten Jahren die dänischen Sozialdemokraten ein Beispiel gegeben haben.
Dagegen schwächt es die Hoffnung derer, die einen politischen Wechsel gewählt haben, wenn man lieber mit den Abgewählten koaliert, als vielleicht etwas Neues zu wagen. Warum darf es kein Gespräch mit der AfD geben, die immerhin von einem Fünftel der Wähler in den Bundestag geschickt wurde? Dabei muss es nicht zwingend um eine Regierungsbeteiligung der Partei gehen. Es ist aber eine Art Politikverweigerung, wenn CDU und CSU von vornherein jedwede Kooperation in Sachthemen mit ihr ablehnen, ohne entsprechende Möglichkeiten und Grenzen konkret ausgelotet zu haben. Vor allem wenn sich die neue Kanzlerpartei stattdessen ohne jedes eigene Druckmittel sofort in eine Koalition der Abhängigkeit mit den Abgewählten begeben will.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.