„Der Mensch is guad, de Leit‘ san schlecht!“
(Karl Valentin)
Während die ungeimpften Passagiere panisch auf die neuesten Horrormeldungen des Bordfernsehens starren und täglich die erratischen Durchsagen über die sich widersprechenden Kursmanöver auf der Brücke erörtern, klappern die Behandelten immer zorniger mit den Blechtassen über die Gitterstäbe ihres Gefängnisses und beschimpfen alle, die in den Nachbarzellen schmachten. „Wann dürfen wir endlich die Früchte vom Baum der Zustimmung kosten? Wo bleibt es nur, das versprochene Post-Covid-Impfparadies? Warum sind wir noch im Laderaum gefangen, wurde uns nicht mindestens das Zwischendeck versprochen? Oder Ausgang? Ach bitte, bitte, darf ich wenigstens kurz an die frische Luft? Im Februar blühen auf Mallorca die Aprikosen!“ Auf der Brücke herrscht nach dem Wachwechsel eine Art unordentliche, aber heitere Panik. Wachoffizier ist nun der Klabautermann, der in der vorangegangenen Wache noch im Bordprogramm als abendlicher Alleinunterhalter viel beschäftigt war. Nun zieht er wild an allen Hebeln und kichert dabei hysterisch.
Doch das Ruder der MS Deutschland reagiert nicht, und egal wie oft und energisch der Knopf für den Autopiloten gedrückt wird, der Kahn bleibt querab in den C-Wellen liegen. Aus dem Maschinenraum der Wirtschaft kommen Hilferufe, weil die Motoren nicht laufen. Doch obwohl die Tanks zum Bersten gefüllt sind und der Treibstoff bereits durch alle Bilgen schwappt, dreht sich keine Schraube. Antwort von der Brücke: „Solange wir hier noch Knöpfe drücken können, ist das Schiff manövrierfähig! Wir schicken euch mehr Diesel!“
Auch das Licht auf dem Schiff flackert schon. Die Generatoren werden nämlich gerade heruntergefahren, weil auf der MS Deutschland Energie fortan aus warmen Worten und dem Zerbröseln von Glückskeksen gewonnen werden soll. Glücklich, wer jetzt ein Handtuch hat und per Anhalter durch die Galaxis weiterreisen kann.
…
Ich wache auf. Die Hand mit dem ausgestreckten Daumen guckt unter der Decke hervor. Die Gitterstäbe an der Tür sind noch da, im Bordfunk spricht der Klabautermann von irgendeiner Gefahr. Ich muss also noch an Bord sein. Richtig wach werden, Kaffee muss in die Tasse. Die Kaffeemaschine funktioniert, noch ist also nicht alles verloren. Ein Blick auf den Kalender zeigt, dass wieder einmal die Zeit für Jahresrückblicke gekommen ist. Doch wer möchte freiwillig zurück in den „Ozean 2021“ aus Idiotie, Größenwahn und Lügen tauchen, an dessen Oberfläche man sich nur noch mit Mühe halten kann?
Diesmal also lieber ein Blick voraus? Es ist gar nicht so leicht, gegen die eigenen Hoffnungen zu wetten, denn selbst wer seine Phantasie im Jahr zwei neuer Zeitrechnung frei fließen ließ, dessen kühnste Dystopien wurden schon nach wenigen Monaten (wenn nicht Wochen) von der Realität überrollt. Man müsste sich also noch mehr anstrengen, sich den nervösesten Klabautermann an den Hebeln vorstellen und dessen Überreaktionen gedanklich noch verdoppeln. Hab‘ ich schon getan, hat mir nicht gefallen. Und da ich gerade mit ausgekühltem Daumen aus einem Albtraum erwacht bin, will ich nicht schon wieder in Morpheus' neblige Gefilde abtauchen. Ich denke, es genügt, aus der gegenwärtigen Panik auf der Brücke auf das zu schließen, was uns in kurzer Zeit erwarten könnte und zu hoffen, dass es nicht schon wieder noch schlimmer kommen möge.
Omikron ante portas
Um sich auf das Paniklevel eines Klabautermannes einzuschwingen, müssen wir zunächst alle guten Nachrichten ignorieren, die uns vom Herkunftsort der neuen Variante erreichen. In Südafrika, und dort speziell der Provinz Gauteng, in der auch die Großstadt Johannesburg liegt, ist die neue Variante mittlerweile dominant und hat das halbe griechische Virenalphabet verdrängt. Bemerkenswert sind neben der offenbar sehr leichten Übertragbarkeit die evident milden Symptome, die eher einer leichten Erkältung als dem vom Oberoberarzt Montgomery prophezeiten Ebola zu entsprechen scheinen. Laut Dr. John Campbell, einem englischen Medizinprofessor, der auf seinem YouTube-Kanal meist sehr unaufgeregt die weltweiten Anstrengungen bezüglich der C-Wellenseuche verfolgt, dringen die Omikron-Viren kaum bis in die Lungenbläschen vor, sondern bleiben in den Bronchien, was dazu führt, dass sich in den Lungen nicht wie früher bei schweren Verläufen viel Flüssigkeit sammelt, was viele der Intensiv-Fälle ja erst verursachte. Doch warum sollte man Hoffnung verbreiten, wenn man auch das Schlimmste annehmen kann?
Leicht übertragbar und weniger gefährlich also – zumindest soweit wir dies momentan wissen können. Allerdings sind diese Annahmen aufgrund der klinischen Befunde aus Südafrika und Großbritannien weit wahrscheinlicher als all das panische Brückengeschwätz von Ebola, Monsterwellen und Viruswänden, die auf unser angeschlagenes Schiff treffen würden. Die Zahl der Todesfälle, die mit der neuen Variante des Virus in Zusammenhang gebracht werden, scheint sich in Südafrika von den gemeldeten „Fällen“ abgekoppelt zu haben, denn während dort die Anzahl positiver Tests nach oben schnellte (und bereits wieder leicht abklingt), bleibt die Kurve der Mortalität erfreulich flach. Sollte sich also bestätigen, was viele Epidemiologen hoffen? „Eine gute Portion natürlicher Immunisierung zu geringen Kosten“, wie Campbell sagte? Oder um es im Jargon deutscher Energiewender zu sagen: „Omikron schickt keine Rechnung“? Schon bei dem Gedanken stürzt die Pfizer-Aktie um 100 Punkte ab – und das kann ja nun keiner wollen!
Man darf auch nicht Südafrika mit Großbritannien oder Deutschland vergleichen – so würde sicher sofort der Einwand des Klabautermanns lauten. Das stimmt zum Teil, denn die Bevölkerung ist im Durchschnitt jünger und gerade hat der Sommer am Kap begonnen. Wenn dort also die Fallzahlen steigen, was würde erst geschehen, wenn Omikron auf unseren Winter träfe? Doch andererseits hat Südafrika eine Impfquote von gerade mal 25%, und glaubt man den Spritzenpolitikern auf der Brücke der MS Deutschland, kann nur die So-oft-wie-möglich-Impfung wirksam vor der Seuche schützen. Auf ewig! Bei dem Gedanken allein steigt die Pfizer-Aktie wieder um 100 Punkte. Was da gerade am Kap der guten Hoffnung (was für eine naheliegende Metapher!) passiert, kann man deshalb nur als höchst „illegalen“ Erfolg bezeichnen. Somit verhält sich entweder das Virus in Südafrika oder die Brückencrew der MS Deutschland gerade höchst irrational.
The good, the bad and the ugly
Etwas zeitversetzt ist Omikron längst in Europa angelangt und lässt sich selbst mit den durchgeknalltesten Ausweichmanövern nicht mehr aufhalten. Das Personal auf der Krankenstation unseres Schiffes, jahrelang vor allem mit Händeklatschen und Topfschlagen bezahlt und mit immer neuen Regeln drangsaliert, ist ausgedünnt und ausgebrannt wie nie. Das lukrative neue Geschäftsmodell des Gesundheitssystems, die Seuche herbeizutesten, wo immer sie aufzutreiben ist, und das noch profitablere der Pharmaindustrie, unsere Ärmel gar nicht mehr herunterzurollen, treffen dann ab Januar sehr wahrscheinlich auf das Phänomen, dass die ersten laufenden Omikron-Nasen, Nieser und Kopfschmerzen ausgerechnet bei denen auftreten, die als Ärzte, Krankenpfleger, Klinikpersonal, Busfahrer, Supermarktangestellte, Lehrer oder Polizisten am stärksten exponiert sind.
Und weil Symptome den Test und ein positiver Test stets eine mehrtätige Quarantäne samt umständlicher „Freitestung“ nach sich zieht, wird wohl ausgerechnet dort die Personaldecke am schnellsten dünn. Aus dem Lockdown der Ungeimpften könnte dann schnell der Lockdown der Unverzichtbaren werden, und während das Klinikpersonal vielleicht mit Paracetamol und einer Großpackung Taschentücher zuhause eine Woche lang Netflix leergucken muss, fällt denen auf der Brücke der MS Deutschland vielleicht ein, dass… ja was nur? Weiter Knöpfe drücken? An längeren Hebeln ziehen? Verordnungen raushauen, die kein Abstandsholz mehr finden, sie durchzusetzen? Fixiert auf Inzidenzen, eindimensional und linear denkend, folgt dann vielleicht der längst fällige emotionale Zusammenbruch des Klabautermanns, idealerweise bei seinem Nebenjob im abendlichen Unterhaltungsprogramm, und unter Tränen bricht es dann aus ihm heraus: „Ich weiß es doch auch nicht!“
Dann halten alle kurz die Luft an, betretenes Schweigen erfüllt die Welt, und der Moment ist gekommen, in dem auch der Letzte begreift, dass er wieder selbst Verantwortung für sein Leben, seine Familie, seine Gesundheit und seine Firma übernehmen muss. Der unsichere Kunde wird weiter Maske tragen, und der Kunde ohne Maske wird höflich Abstand halten. Der Ungeimpfte wird seinen Nachbarn fragen, ob es ihm nach der vierten Impfung gutgeht, oder ob er ihm die Mineralwasserkiste aus dem Auto heben soll und vielleicht, nur vielleicht könnte Omikron uns dazu bringen, akzeptieren zu können, dass wir neben Erkältungen und der Grippe nun für einige Zeit eine weitere saisonale Viruserkrankung haben, vor der wir uns vielleicht einigermaßen zu schützen vermögen, sogar mit Impfungen, die wir aber wohl so schnell nicht wieder loswerden… verdammt, ich war schon wieder eingeschlafen und träumte. Nur diesmal mit beiden Daumen unter der warmen Decke.
Keine Pause
Corona macht keine Weihnachtspause, so sagte Olaf Scholz, der neue Kapitän der MS Deutschland. Deshalb sollen wir alle ab dem 28.12. eine machen. Ob zum Kurve abflachen, zum Welle brechen oder um uns an omikronösen Wänden die Schädel einzuschlagen… keine Ahnung, ich habe nicht weiter zugehört. Warum auch Speicherplatz im Kopf für Politikerreden verschwenden, deren Haltbarkeit kürzer ist als die von Frischmilch und deren Brennwert geringer als von Magerquark? Ich werde erst wieder aufmerksam zuhören, wenn den Reden und Beteuerungen unserer Politiker ein verbindliches Mindesthaltbarkeitsdatum beiliegt. Ich fordere eine Kennzeichnungspflicht!
Behalten Sie trotz aller Ungewissheiten den Kopf über Wasser, liebe Leser, und hören Sie auf die Stimmen derer, die Ihnen nahestehen und denen Sie sich verpflichtet fühlen. Achten Sie auf sich und Ihre Nächsten, ganz ohne deren Impfstatus zu kennen. Umarmen Sie Ihre Familie, feiern Sie, was und wann immer Sie wollen, und finden Sie heraus, ob es wirklich ein erstrebenswertes Ziel sein kann, eines hoffentlich sehr fernen Tages der geboostertste Mensch auf dem Friedhof zu sein und voller Stolz einen vergoldeten QR-Code auf dem Grabstein zu haben.
Danke!
Bei meinen Lesern hier auf Achgut.com, unbesorgt.de und bei der Jüdischen Rundschau bedanke ich mich für die Unterstützung, den Zuspruch, positive wie kritische Resonanz und spontane nächtliche Lektorate eilig getippter Texte. Ebenso für die vielen tausend Lachsmileys in den dampfablassenden „sozialen Medien“. Vor allem danke ich jedoch für die viele Zeit, die Sie freiwillig mit meinen Gedanken verbracht haben. Manche davon flossen mir in Minuten wie Wasser aus der Feder, andere mussten wie zähes Harz aus hartem Holz gekratzt werden. Ich bin ehrlich froh, zu Beginn des Schreibens nie zu wissen, mit welcher Art Saft ich es diesmal zu tun haben werde.
Meinen Freunden und Kollegen gilt mein Dank, dass ich mich als kleine Birke stets zwischen freundlichen, starken Bäumen weiß. Ein Sturm wie das Jahr 2021 wäre kaum zu überstehen gewesen ohne solchen Wald. Auch wenn ich gelegentlich etwas niedergeschlagen schreibe, lasse ich mir doch einen gewissen Grundoptimismus nicht nehmen. Ich würde es „vom Ende her denken“ nennen, aber in seiner humanistischen, nicht seiner technokratischen, merkelianischen Ausprägung. Ich komme aus der DDR, vom Ende her denken gibt mir Hoffnung. Es kostet mehr Kraft als früher, diesen Optimismus zu bewahren, aber wenn man erkannt hat, was ihn niederdrückt und zerstört, schaltet man den Fernseher eben ganz ab und schaut statt in die Tageszeitung oder ins Internet lieber in ein gutes Buch, den Sternenhimmel oder ein freundliches Gesicht.
Kommt alle gut ins nächste Jahr. Mich findet man auch weiterhin – mal öfter, mal seltener, mal langweiliger, mal unterhaltsamer – genau hier.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.