Markus Söder will Corona-Bußgeldverfahren einstellen, andere hoffen auf Aufarbeitungsforderungen des BSW, manche sogar auf eine Neubewertung durch das Verfassungsgericht. Aber leider sieht das alles nach dem Versuch der Verantwortlichen aus, möglichst billig davonzukommen.
Mein ärztlicher Kollege Friedrich Pürner hat sich in der Corona-Krise verdient gemacht. Als einer der ganz wenigen Gesundheitsbeamten, als Leiter des Gesundheitsamtes im Landkreis Aichach-Friedberg, kritisierte er früh und öffentlich die Pandemiepolitik seines Dienstherrn, in seinem Fall die Bayerische Landesregierung, klar und deutlich. Deren Ministerpräsident Markus Söder, der bekanntlich nicht nur sein Mäntelchen, sondern den gesamten Kleiderschrank nach jedem Wind hängt, war damals noch als harter Hund im Krieg gegen Corona unterwegs. Allein mit Interesse an seinen Umfragewerten und nicht an dem Leid, das er damit verursachte.
Bei den Maßnahmen setzte Bayern ja noch einen oben drauf und quälte die Menschen zum Beispiel mit FFP2-Masken. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof bewertete dann später etwa die Ausgangssperren als verfassungswidrig. Für die Betroffenen viel zu spät. Aber was kümmert den Maggus schon seine Politik von gestern. Er hat schon wieder gewittert, dass sich der Wind zu drehen beginnt und will jetzt alle Corona-Bußgeldverfahren in Bayern einstellen, denn „Wir brauchen hier mal einen Frieden“.
Aber keine Sorge: Sollte demnächst der Klimalockdown en vogue sein und geht es mal wieder darum, Kritiker staatlich zu verfolgen, ist Söder sicherlich wieder entschieden dabei. Übrigens, was oft vergessen wird, die bayerischen Sonder-Maßnahmen konnte der Ministerpräsident nur durchsetzen, weil sein Koalitionspartner, die Freien Wähler unter ihrem Chef Hubert Aiwanger, die schändlichen und schädlichen bis tödlichen Übergriffe auf die Bürger mit abgesegnet haben.
Ich möchte energisch widersprechen
Gegen diesen Irrsinn lehnte sich Friedrich Pürner lautstark auf. Er hat sich dem Bündnis Sahra Wagenknecht angeschlossen und wurde für das BSW ins Europaparlament gewählt. Nun hat er in einem Beitrag für die Berliner Zeitung das bemerkenswerte Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück treffend gewürdigt. Die Osnabrücker Richter kamen bekanntermaßen zu dem Schluss, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht als verfassungswidrig zu werten sei und legte diese Bewertung dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Entscheidung vor. Die Urteilsbegründung lässt sich eins zu eins auf die Beurteilung weiterer weitreichender Corona-„Schutzmaßnahmen“ wie beispielsweise Lockdowns übertragen. Das Besondere: Die nun vorliegenden Protokolle des Corona-Expertenrates des Robert-Koch-Instituts (RKI) wurden erstmalig als Maßstab für die Urteilsfindung genutzt. Denn die Hoch-Brisanz dieser Protokolle steht immer noch in einem unverständlichen Gegensatz zu deren öffentlicher Bekanntheit. Pürner wertet dieses Urteil als Steilvorlage für das Bundesverfassungsgericht, ohne Gesichtsverlust und ohne Fehler eingestehen zu müssen und die eigenen Corona-Fehlleistung zu revidieren.
Hier möchte ich ihm energisch widersprechen.
Die Coronakrise ist im Kern eine Verfassungskrise. Das BVerfG tolerierte die bisher massivste Aussetzung unserer Grundrechte als Voraussetzung, um weitreichende „Schutzmaßnahmen“ an der Bevölkerung exekutieren zu können. Infolge dieser massiven Grundrechtseinschränkungen wurden allein in Deutschland Millionen Bürger körperlich, psychisch oder wirtschaftlich geschädigt.
Es entwickelte sich voraussehbar eine humanitäre Katastrophe: Alte vereinsamten und starben allein gelassen, Kinder wurden isoliert, in Heimen teilweise wochenlang, Menschen wurden gegeneinander aufgehetzt, die Gesellschaft wurde tief gespalten. Infolge der Lockdowns und der verantwortungslos zugelassenen modRNA-Genimpfungen starben mutmaßlich Zehntausende auch jüngeren Alters. Wir reden schlicht über die größte Verwerfung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, abgesegnet durch das Bundesverfassungsgericht.
Tatsachen, die das Verfassungsgericht nicht interessierte
Bezüglich der Bedrohungslage durch Covid-19, auch einer theoretisch anzunehmenden, waren diese Grundrechtseinschränkungen jedoch zu keinem Zeitpunkt gerechtfertigt. Von Anfang an waren die Krankenhäuser unterbelegt und wurden nicht von der unter dramatischsten Warnungen angekündigten Krankheitswelle geflutet. Es herrschte vielmehr eine historische Unterbelegung von 16 Prozent, die in den gesamten Corona-Jahren anhielt. Sicher auch wegen abgesagter Operationen. Aber – von dieser historischen Unterbelegung wiesen trotz fragwürdiger Diagnosevergaben („mit/an“) nur zwei Prozent die Diagnose COVID-19 auf. Auf Intensivstationen nur vier Prozent. Saisonale und regionale Überbelegungen mit Notfallverlegungen sind im Winter die pure Normalität, es standen stets viele freie Betten zur Verfügung. All dies war schon im April 2021 in einer Analyse des Leibniz-Instituts nachzulesen, die Jens Spahn selbst (!) der Öffentlichkeit vorstellte und seitdem auf den Seiten des Bundesgesundheitsministeriums aufgerufen werden kann (s. Seite 4).
Das Hauptargument gegen eine schwere Bedrohungslage wird meist sogar übersehen. Wenn eine Infektionserkrankung ein durchschnittliches Sterbealter ein bis zwei Jahre über dem normalen aufweist, dann kann sie aus mathematischen Gründen keine relevante tödliche Gefahr für die Bevölkerung darstellen. Das schließt nicht aus, dass sie auch für Jüngere in seltenen Fällen schwer verlaufen kann. Aber an Covid-19 starben überwiegend Menschen, die – meist aufgrund hohen Alters oder im Endstadium befindlich – ein stark geschwächtes Immunsystem aufwiesen. Wäre es anders, wäre automatisch das durchschnittliche Covid-Sterbealter niedriger. Früher hat man solche terminalen Infekte schwer geschwächter und schwer kranker Menschen als natürliche Todesursache eingeordnet.
Haben Sie von diesen schwer zu widerlegenden Tatsachen etwas in den großen Medien gehört oder gelesen? Und dabei sind die vielen unnötig intubierten Beatmungstoten noch gar nicht berücksichtigt. Ein Kunstfehler, vor dem der Verband der Pneumologischen Kliniken unter ihrem Präsidenten Thomas Voshaar von Anfang an der Corona-Krise eindrücklich warnte (siehe hier und hier).
Sehr viele maßgebliche Epidemiologen, allen voran der Stanford-Professor John Ioannidis und der Wiener Professor Andreas Sönnichsen, warnten davor, dass die Maßnahmen viel mehr Schaden anrichten werden als das Virus selbst. Diese, genauso wie laut den Protokollen das RKI selbst (!), schätzten schon im Frühjahr 2020 das Bedrohungspotenzial richtigerweise ähnlich dem einer mittleren Grippe ein. Ioannidis teilte kürzlich in einem Interview mit: "Ich stand damals in Kontakt mit sehr vielen Top-Epidemiologen der Welt, die sich an mich gewandt haben. Sie meinten zur mir, das ist unglaublich, was hier gerade passiert, aber wir können nichts sagen. Wenn wir widersprechen würden, würden wir augenblicklich zerstört."
Sönnichsen bezahlte seine wissenschaftliche Aufrichtigkeit mit der Kündigung durch die Wiener Universitätsleitung. Nun könnte man argumentieren, dass diese allgemeine Unterdrückung wissenschaftlicher Gegenmeinungen nicht im Verantwortungsbereich des BVerfG liegt. Aber ist dies ein Argument dafür, diese bei der Urteilsfindung nicht zu berücksichtigen? Die Antragsteller wiesen in ihrer Klage auf Verfassungswidrigkeit auf diese fachlich hochqualifizierten kritischen Stimmen nachdrücklich hin. Doch das BVerfG bevorzugte es, sich ausschließlich auf das RKI zu verlassen.
Grundrechte brauchen kein Hintertürchen
Um es in Erinnerung zu rufen: Grundrechte sind vor allem Abwehrrechte der Bürger gegenüber einem übergriffigen Staat. Ihr Sinn besteht nicht darin, Bürger zu disziplinieren, sondern den Staat. Oft muss der Staat Grundrechte notwendigerweise einschränken, z.B. bei Sicherheitsfragen. Doch kann das Grundgesetz seine Schutzfunktion vor staatlicher Übergriffigkeit nur entfalten, wenn eine Instanz sorgfältig darüber wacht, ob diese Einschränkungen verhältnismäßig sind. In unserer freiheitlichen Gesellschaft obliegt die Wahrung dieses Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dem BVerfG. Wie wurden die aktuellen Verfassungsrichter, allen voran ihr Präsident Stephan Harbarth, dieser verantwortungsvollen Aufgabe gerecht?
In ihrem Beschluss vom 19. November 2021 erklärten acht Verfassungsrichter einstimmig die Corona-Schutzmaßnahmen der Bundesregierung als mit dem Grundgesetz vereinbar. Bei dieser Bewertung bezogen sich die Richter explizit auf die Empfehlungen des RKI als Kronzeugen. Den Aufgabenbereich des RKI beschrieben sie unter 178 wie folgt:
„Zu den Aufgaben des Robert Koch-Instituts gehört es, die Erkenntnisse zu solchen Krankheiten durch Auswertung und Veröffentlichung der Daten zum Infektionsgeschehen in Deutschland und durch die Auswertung verfügbarer Studien aus aller Welt fortlaufend zu aktualisieren und für die Bundesregierung und die Öffentlichkeit aufzubereiten“
In diesem Urteil haben die Karlsruher Richter auch eine kleine Hintertür eingebaut, um sich vor dem späteren Vorwurf eines Fehlurteils zu schützen. Unter 186 schreiben sie:
„Erweist sich eine Prognose nachträglich als unrichtig, stellt dies jedenfalls die ursprüngliche Eignung des Gesetzes nicht in Frage (…). Die Eignung setzt also nicht voraus, dass es zweifelsfreie empirische Nachweise der Wirkung oder Wirksamkeit der Maßnahmen gibt (…). Allerdings kann eine zunächst verfassungskonforme Regelung später mit Wirkung für die Zukunft verfassungswidrig werden, wenn ursprüngliche Annahmen des Gesetzgebers nicht mehr tragen.“
Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat nun die Bewertung der Verfassungsmäßigkeit erneut an das BVerfG zurückgespielt. Es wird nun spannend sein, wie das BVerfG mit dem Rückpass umgeht. Wird es behaupten, dass es 2020 nicht bekannt war, dass es sich beim RKI um eine weisungsabhängige Bundesbehörde handelt? Wird es behaupten, es sei damals nicht notwendig gewesen, die Möglichkeit zu erwägen, dass die Minister ihre eigene Politik durch das RKI gegen jede Fachlichkeit haben rechtfertigen lassen und es nicht notwendig war, den Präsidenten Wieler direkt dazu zu befragen? Oder dass es nicht notwendig war, die Argumente hochqualifizierter Kritiker anzuhören und unabhängig bewerten zu lassen?
Wenn die Karlsruher Richter sich auf diese Weise auf ihr Hintertürchen verlassen, dann ist grenzenlose Naivität noch der geringste Vorwurf, den man ihnen machen muss. Oder das BVerfG hält an seiner ursprünglichen Bewertung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht fest. Dann hat es jedoch seine Glaubwürdigkeit endgültig verloren.
Geradezu zynisch empfand ich die damalige Begründung, die einrichtungsbezogene Impfpflicht sei kein Zwang, man könne ja seinen Beruf wechseln. Ich habe eine altgediente Altenpflegerin unter meinen Patienten. Sie hatte gesehen, dass viele Heimbewohner Probleme nach der Covid-Genimpfung bekamen und deswegen große Angst vor der Impfung. Nachdem sie bei kargem Lohn 40 Jahre für unsere Alten hart gearbeitet hatte, sollte ich ihr nun empfehlen, mit 62 den Job zu wechseln? Was bliebe ihr da? Noch schlechter bezahlt als Verkäuferin oder Reinigungskraft zu arbeiten oder direkt die Arbeitslosigkeit?
Wer schützt uns vor dem Bundesverfassungsgericht?
Die gleichen Richter, in deren Hand eigentlich der Schutz unserer Grundrechte liegen sollte, haben übrigens auch bei anderen Themen der Zeit, wie beispielsweise dem Klimawandel, Urteile gefällt, in denen die individuellen Schutzrechte gegenüber dem Staat nicht das angemessene Gewicht erhielten.
Wer sich bei der Beurteilung von Bedrohungslagen, wie bei Corona oder Klimawandel geschehen, auf leicht zu manipulierende Modellrechnungen – Stichwort: bullshit in, bullshit out – und abhängige Experten verlässt, öffnet der Willkür jede Tür. Dahinter steckt ein Wissenschaftsbegriff, der nicht mehr von einer Staatsreligion zu unterscheiden ist und dem Trend zu dem postmodernen Totalitarismus folgt. Kurz: Ein Verfassungsgericht, welches sich einem "follow-the-science" Niveau unterwirft, kann seiner Aufgabe nicht gerecht werden.
Ich kann mir deshalb kein Szenario vorstellen, in dem die haarsträubenden Corona-Urteile des BVerfG ohne Eingeständnis eigener Fehler revidiert werden können. Wer diese Möglichkeit vorschlägt, verkennt, dass damit nichts gewonnen wäre. Es wäre eine Corona-Aufklärung light, welche den Protagonisten eben nicht das Handwerk legt, sondern sie geradezu ermutigt, die Gesellschaft weiter zu schädigen.
Ich hoffe, dass dies nicht der Strategie des BSW entspricht. Wenn doch, dann ist zu befürchten, dass das BSW die Corona-Aufarbeitung in den kommenden Koalitionsgesprächen mit der CDU zur Verhandlungsmasse degradiert, um noch mehr Sozialismus durchzusetzen. Dann wird das BSW auch Jens Spahn, einen der maßgeblich Verantwortlichen für die Corona-Verbrechen, als Partner akzeptieren, anstatt ihn zur Rechenschaft zu ziehen.
Die vielleicht dringlichste Frage einer Corona-Aufarbeitung müsste vielmehr lauten: Können wir uns Verfassungsrichter leisten, die mit unseren Grundrechten derart leichtfertig umgehen? Wer schützt meine Patienten in Zukunft vor weiteren unverantwortlichen Impfzwängen und ungeprüften Arzneimitteln, so wie es die geplanten WHO-Verträge vorsehen? Wer schützt uns vor staatlicher Willkür, die wirtschaftliche Existenzen vernichtet und das soziale Miteinander verbietet? Und wer schützt unsere Alten und Kinder zukünftig vor, nennen wir es, was es in vielen Fällen war: menschenverachtender Isolationsfolter? Ich habe meine Zweifel, dass dieses Verfassungsgericht dazu in der Lage ist.
Dr. med. Gunter Frank ist Arzt für Allgemeinmedizin und Buchautor. Er ist Mitglied des Bundesfachausschusses Gesundheit der WerteUnion.