Die Münchner Sicherheitskonferenz 2025 offenbarte, dass die USA keine Rücksicht mehr auf die Befindlichkeiten des EU-Apparats nehmen wollen und Washington längst eine geopolitische Neuausrichtung eingeleitet hat.
Was als Routineveranstaltung begann, wurde zum diplomatischen Paukenschlag – ein Moment, der die transatlantischen Beziehungen neu definierte. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit vollzog US-Vizepräsident J.D. Vance eine schonungslose Abrechnung mit dem europäischen Establishment (eine detaillierte Analyse der Rede findet sich hier). Die größte Bedrohung für den Westen sei nicht Russland oder China, sondern sein eigener innerer Verfall. Der Rückzug von fundamentalen Werten, allen voran der Meinungsfreiheit, gefährde Europas Zukunft weit mehr als äußere Feinde.
Vance, der bereits im vergangenen Jahr als Senator nach München gereist war, trat diesmal als Lehrmeister der Demokratie auf. Er warf den europäischen Regierungen vor, die Meinungsfreiheit zu unterdrücken, illegale Migration nicht zu stoppen und sich von ihren Wählern zu entfremden. Seine Kernbotschaft klang wie eine Warnung: „Wenn Sie Angst vor ihrer eigenen Bevölkerung haben, kann Amerika nichts für Sie tun.“
Besonders scharf attackierte er die EU – jene Institution, die sich als Hüterin der Demokratie sieht, von Vance aber der Wahlmanipulation und Medienzensur bezichtigt wurde. „Wenn Gerichte Wahlen absagen und hohe Beamte mit weiteren Annullierungen drohen, müssen wir uns fragen, ob wir wirklich den Standards gerecht werden, die wir zu verteidigen vorgeben.“ Mit Blick auf die vorderen Reihen der Zuschauer, in denen zahlreiche Mitglieder der scheidenden Bundesregierung saßen, erklärte Vance: „Es reicht nicht, ständig über demokratische Werte zu sprechen – man muss sie auch leben.“
Besonders in Deutschland sorgte Vance’ Kritik an der Migrationspolitik für Aufsehen. Er bezeichnete Massenmigration als „die dringendste Herausforderung“ für Europa und verwies auf den islamistischen Anschlag der vergangenen Woche. Kein Wähler habe den Parteien seine Stimme gegeben, um die Grenzen für ungezügelte Masseneinwanderung zu öffnen. Zudem forderte er ein Ende der strikten Abgrenzung zu rechten Parteien: „Wir müssen nicht mit allem einverstanden sein, aber wenn sie große Teile der Bevölkerung vertreten, ist es unsere Pflicht, zuzuhören.“
Die EU reagierte umgehend: EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas sprach von einem „künstlich geschaffenen Konflikt“ und lud die Außenminister zu einer Krisensitzung über die transatlantischen Beziehungen ein. Die Spannungen zwischen Washington und Brüssel vertiefen sich – nicht nur in der Ukraine-Frage, sondern zunehmend in der Auseinandersetzung über Werte und politische Grundsatzfragen. In Russland hingegen feierte das Staatsfernsehen seine Worte als „öffentliche Abrechnung mit der europäischen Heuchelei“.
Bruchlinien auch im Werte-Kanon
Dass Vance in München kaum auf den Ukraine-Krieg einging, war kein Zufall – es war ein klares Signal für den außenpolitischen Kurswechsel der US-Regierung. Die Rede verdeutlichte, dass das Weiße Haus künftig nicht mehr mit den linksliberalen Regierungen Europas kooperieren will, die über Jahrzehnte die europäische Politik geprägt und die von ihm adressierten Missstände verursacht haben.
Während frühere US-Regierungen Europa noch als Partner behandelten, setzt Washington nun seine innenpolitische Agenda – den offenen Kampf gegen das linke Establishment – auch international fort. Die transatlantische Partnerschaft steht vor einer neuen Realität: Die Bruchlinien zwischen den USA und Europa verlaufen nicht mehr nur entlang sicherheitspolitischer Fragen, sondern erstmals auch entlang gesellschaftlicher und ideologischer Werte.
Dass die USA ihre europäischen Partner nicht mehr ernst nehmen, wurde in München auf mehreren Ebenen sichtbar. Ein deutlicher Indikator war die Diskrepanz im politischen Format der Akteure. Während Vance mit einer hochrangigen Delegation aus Spitzen-Diplomaten auftrat, standen ihm auf deutscher Seite Politiker wie Annalena Baerbock und Robert Habeck gegenüber – Persönlichkeiten, die weder über außenpolitische Expertise verfügen noch in ihren Ressorts etwas anderes als politischen Flurschaden hinterlassen haben.
Die Amerikaner kamen nicht, um globale Sicherheitspolitik zu debattieren, sondern um Klartext zu sprechen: Die Zeit der europäisch geprägten Diplomatie ist vorbei. Vance’ Aussage vom ‚neuen Sheriff in der Stadt‘ war mehr als nur eine markige Phrase – sie war eine Kampfansage: Die USA sehen sich nicht länger als Partner Europas, sondern als Machtzentrum, das die Regeln vorgibt.
Ein weiterer frappierender Unterschied zwischen Amerikanern und Deutschen zeigte sich in ihrer Fähigkeit, große Probleme zu managen. Während J.D. Vance hierzu die Abkehr von einer aus seiner Sicht irrationalen und selbstzerstörerischen Politik forderte, klammerte sich Olaf Scholz unbeirrt an die gewohnte Berliner Dogmatik – starr, unflexibel und ohne jedes Anzeichen von Selbstreflexion.
Ärger statt Argumente
Statt seine Position mit Argumenten zu untermauern, reagierte Scholz dünnhäutig. Mantraartig und sichtlich verärgert wiederholte er jene altbekannten Floskeln, die in Deutschland längst wie hohle Phrasen klingen. Berlin müsse seiner „historischen Verantwortung“ gerecht werden, weshalb eine Zusammenarbeit demokratischer Parteien mit „rechten Kräften“ ausgeschlossen bleibe, betonte er. Diese Rhetorik mag auf einer Bundespressekonferenz noch funktionieren – dort, wo die Fragen vorher feststehen. Doch auf der großen Bühne der Weltpolitik entlarvte sie sich als das, was sie ist: Symbolpolitik ohne Substanz.
Während die USA seit Trumps Amtsantritt eine faszinierende Fähigkeit zur inneren Erneuerung unter Beweis stellen, offenbarten sich ihre europäischen Gegenüber als rückwärtsgewandte Verwalter des Status quo – gefangen in erstarrten Denkmustern und unfähig, sich den geopolitischen Realitäten anzupassen. Washington hat daraus längst Konsequenzen gezogen. In München suchte Vance nicht etwa das Gespräch mit Scholz, sondern traf sich mit Friedrich Merz und Alice Weidel – ein unmissverständlicher Affront gegen die deutsche Regierung, die in Washington nicht mehr als relevanter Gesprächspartner betrachtet wird.
Die Machtlosigkeit Deutschlands im Konzert der Mächte spiegelte sich auch in den Rahmenbedingungen der Veranstaltung wider. Es hatte eine bittere Ironie, dass ausgerechnet ein Land ohne schlagkräftige Streitkräfte und ohne ein substanziell untermauertes sicherheitspolitisches Konzept eine Sicherheitskonferenz ausrichtet – und dennoch erwartet, von der größten Militärmacht der Welt als Partner auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden.
Dass Verteidigungsminister Pistorius auf Vances Mahnung, wonach auch abweichende Meinungen akzeptiert werden müssten, mit der Aussage reagierte, diese Äußerung sei „inakzeptabel“, war bezeichnend. Es offenbarte den geistigen Dämmerzustand der deutschen Politik – eine Haltung, die nicht auf Argumente setzt, sondern auf moralische Entrüstung, wo strategische Klarheit gefragt wäre.
Dieser Realität musste sich auch Präsident Wolodymyr Selenskyj stellen – doch wie seine europäischen Partner hatte er wenig Neues anzubieten. Seine Rede am Samstag folgte dem gewohnten Muster: Russland sei eine Bedrohung für ganz Europa, und wenn die Ukraine die Aggression nicht aufhalte, werde der gesamte Kontinent in Gefahr geraten. Seine Botschaft, die vor drei Jahren noch frenetische Beifallstürme ausgelöst hätte, klang nun wie eine ermüdende Wiederholung – ein Appell, der zunehmend an Wirkung verliert.
Selenskyj träumt von der europäischen Armee
Trotzdem versuchte Selenskyj, das Publikum zu emotionalisieren. Gleich zu Beginn seiner Rede erklärte er, Russland habe die Schutzhülle des Atomkraftwerks Tschernobyl angegriffen. „Das ist nicht nur Wahnsinn“, sagte er, sondern Teil einer gezielten Strategie, kritische Infrastruktur der Ukraine zu zerstören. Eine russische Drohne habe am Freitag die Anlage beschädigt – ein Zufall sei das nicht, betonte er. Der Kreml dementierte den Vorfall.
Mit Blick auf die jüngsten Diskussionen über eine diplomatische Lösung zeigte sich Selenskyj ernüchtert: „Russland möchte keinen Frieden. Es bereitet sich nicht auf Dialog vor.“ Putin könne keine echten Sicherheitsgarantien anbieten – nicht nur, weil er ein Lügner sei, sondern weil sein Machterhalt vom Krieg abhänge. „Putin lügt, er ist vorhersehbar, er ist schwach – und das müssen wir ausnutzen.“
Ein weiteres Problem sei, dass Russland weiterhin von seinen Öl- und Gasexporten profitiere. „Putin kann es sich leisten“, sagte Selenskyj. Ohne entschlossenere Sanktionen werde sich daran nichts ändern. Zuvor hatte er betont, dass direkte Verhandlungen mit Putin nur unter einer Bedingung denkbar seien: „Ich werde mich mit nur einem Russen treffen – Putin. Aber erst, wenn wir einen gemeinsamen Plan mit den USA und Europa haben.“
Besorgt äußerte sich Selenskyj über mögliche russische Truppenbewegungen. Geheimdienstinformationen zufolge plane Moskau, im Sommer Soldaten ins verbündete Belarus zu verlegen. Offiziell werde dies als Militärübung deklariert – doch genauso sei auch der Angriff auf die Ukraine vorbereitet worden. „Belarus grenzt an drei NATO-Staaten. Es ist zu einem Standbein für russische Militäroperationen geworden“, warnte er und verwies auf dort stationierte Raketen und Atomwaffen.
Angesichts der geopolitischen Lage plädierte Selenskyj für eine europäische Armee, um Russland effektiv entgegenzutreten. „Jetzt ist die Zeit. Ich kann Sie nur dazu aufrufen, zu handeln – zu Ihrem eigenen Wohl und zum Wohl Europas.“ Die Ukraine halte Russland derzeit noch zurück, doch das könne sich ändern.
Auf verlorenem Posten
Trotz aller Unsicherheiten hielt Selenskyj an einem NATO-Beitritt der Ukraine fest. „Ich werde diesen Aspekt nicht vom Verhandlungstisch nehmen.“ Das eigentliche Problem sei jedoch, dass Putin mittlerweile den größten Einfluss auf das Bündnis habe. „Seine Launen haben die Macht, NATO-Entscheidungen zu blockieren.“ Dass die USA eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine kategorisch ausgeschlossen haben, schien er nicht als problematisch wahrzunehmen.
Selenskyjs teils verzweifelt wirkende Bemühungen, Europa und die USA auf einen künftigen Krieg mit Russland einzuschwören, machten deutlich, dass er in München auf verlorenem Posten stand. In Kiew hat man längst verstanden, was Vance den Europäern unverhohlen ins Gesicht sagte: Ihre wohlklingenden Worte bleiben folgenlos, und sie sind einem effektiven Krisenmanagement nicht gewachsen.
In einem Interview mit NBC News zeigte sich der ukrainische Präsident besorgt: „Es wird sehr, sehr schwer. Ohne die Vereinigten Staaten haben wir nur geringe Chancen zu überleben.“ Zudem warnte er, dass Russland lediglich einen temporären Waffenstillstand anstreben könnte, um Zeit für eine erneute Truppenverstärkung zu gewinnen. Ebenso kritisierte Selenskyj, dass Donald Trump in ihren Gesprächen mit keinem Wort erwähnt habe, Europa für seine Verhandlungen mit Putin zu brauchen.
Die diesjährige Münchner Sicherheitskonferenz war jedoch nicht nur bemerkenswert, weil die Amerikaner die Europäer in die hintere Reihe verwiesen. Sie war auch eine pompös inszenierte Makulatur. Denn bereits am 12. Februar hatte Donald Trump mit Wladimir Putin telefoniert und im Alleingang die Weichen für eine mögliche Neuausrichtung der US-Russland-Beziehungen gestellt.
Trump sprach von einem „sehr langen und produktiven Gespräch“ und erklärte, beide hätten umgehend Verhandlungen über ein Ende des russischen Angriffskriegs vereinbart. Brisant war dabei nicht nur der erste direkte Austausch zwischen Washington und Moskau seit Kriegsbeginn, sondern vor allem die dahinterstehende Botschaft: Trump signalisiert das Ende der politischen Isolation Russlands – und plant, die Zukunft der Ukraine ohne Kiew zu verhandeln.
Auf seiner Plattform Truth Social bekräftigte er: „Wir haben uns auf eine enge Zusammenarbeit verständigt, einschließlich gegenseitiger Besuche. Unsere Teams sollen unverzüglich Verhandlungen aufnehmen. Der erste Schritt ist ein Gespräch mit Präsident Selenskyj, um ihn zu informieren – das werde ich jetzt direkt in die Wege leiten.“ Mit den Verhandlungen beauftragte Trump den Sondergesandten Steve Witkoff, Außenminister Marco Rubio, CIA-Direktor John Ratcliffe sowie den Nationalen Sicherheitsberater Michael Waltz.
Mit den Schwachen spricht man nicht
Besonders brisant ist die Rolle von Witkoff, einem engen Vertrauten Trumps, der bereits eine Schlüsselrolle in den Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Israel und der Hamas spielte. Laut Fox News führte er kürzlich geheime Gespräche in Moskau – ein Umstand, der in europäischen Diplomatenkreisen für wachsende Unruhe sorgt.
Aus ukrainischer Sicht ist das denkbar schlechteste Szenario eingetreten: Die USA werden ihre Unterstützung für Kiew drastisch zurückfahren und sind entschlossen, in direkten Verhandlungen mit Moskau eine Einigung zu erzielen. Dass deutsche Politiker ausgerechnet in München darin einen Verrat an der Ukraine konstatieren, offenbart eine bemerkenswerte Geschichtsvergessenheit. 1938 wurde auf der Münchner Konferenz die Landkarte Europas neu gezeichnet – über die Köpfe von Tschechen und Slowaken hinweg. Schon damals galt: Mit den Schwachen spricht man nicht.
Wer Washington in die Pflicht nehmen will, argumentiert moralisch – und verkennt, dass die USA der Ukraine nichts schuldig sind. Die Amerikaner sind keine idealistischen Weltverbesserer, sondern pragmatische Machtstrategen, die ihre Entscheidungen konsequent an geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen ausrichten. Die Illusion vom Gegenteil konnte in Europa nur deshalb zur falschen Wahrheit werden, weil die USA seit 1945 die Sicherheit des Kontinents garantiert haben. Doch diese Ära ist nun vorbei.
Die neue Realität offenbart die Grenzen einer Politik, die sich in Appellen an Völkerrecht, demokratische Werte und Freiheit erschöpft. Entscheidend sind nicht Worte, sondern Entschlossenheit, Tatkraft und die Fähigkeit, diese auch durchzusetzen – all das fehlt den zerstrittenen Europäern, die es trotz der EU nie vermocht haben, mit einer Stimme zu sprechen. Oder wie Vance es formulierte: „Europa muss für seine eigene Sicherheit sorgen!“
Der hastige Vorstoß der Europäer, nun zu prüfen, welche Länder Soldaten für ein Friedenskontingent in der Ukraine abstellen könnten, ist erneut ein Zeichen reaktiver Politik – und macht deutlich, woran es Europa fehlt: Eigeninitiative und ein tragfähiges strategisches Konzept.
Als die USA 1945 die Vorherrschaft in West- und Mitteleuropa übernahmen, war der Kontinent führungslos, konzeptlos, unfähig, seine eigene Sicherheit zu gewährleisten. Doch obwohl sich die Rahmenbedingungen seither grundlegend verändert haben, bleibt Europas sicherheitspolitische Bilanz desaströs. Umso unmissverständlicher ist die Botschaft der Amerikaner: „Regelt eure Angelegenheiten selbst – diesmal werden wir nicht bleiben, um das Chaos zu ordnen!“ Und so dürfte die Ukraine als erste die Konsequenzen dieses Versagens tragen.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.