Heute, am 8. Mai, gedenkt die Bundesrepublik des Kriegsendes vor 80 Jahren. Politik und Medien erwecken dabei den Eindruck, als gehörte auch Deutschland zu den Opfern der Nationalsozialisten. Das stellt die Geschichte auf den Kopf.
„Je länger das Dritte Reich tot ist, umso stärker wird der Widerstand gegen Hitler und die Seinen.“ Dieser Satz des Publizisten Johannes Gross kommt einem in den Sinn, wenn man sieht, wie Deutschland in diesen Tagen an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren erinnert. Nach einer Serie von Gedenkveranstaltungen will am 8. Mai auch der Bundestag zu einer Feierstunde zusammenkommen. Berlin hat sich sogar einen zusätzlichen Feiertag genehmigt, rund um den „Tag der Befreiung“ findet eine Themenwoche mit über 100 Veranstaltungen statt. Man könnte meinen, Hitlers erstes Opfer wäre Deutschland gewesen.
Das überbordende Gedenken steht im krassen Gegensatz zur historischen Wirklichkeit. Keiner der Alliierten hatte 1945 vor, die Deutschen zu befreien. Ihr einziges Ziel war es, sie zu besiegen, und zwar so vollständig, dass sie bedingungslos kapitulierten. „Nun stehen wir vor der Höhle, aus der heraus die faschistischen Angreifer uns angegriffen haben,“ hatte Sowjetmarschall Tschernjakowski am 12. Januar 1945 vor dem Einmarsch in Deutschland seinen Soldaten befohlen. „Wir bleiben erst stehen, nachdem wir sie gesäubert haben. Gnade gibt es nicht – für niemanden.“ Und US-Präsident Harry S. Truman wies seinen Generalstab am 10. Mai 1945 an: „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat.“
Auch die Deutschen waren weit davon entfernt, den alliierten Streitkräften jubelnd entgegenzulaufen. Dazu trugen nicht nur die unvorstellbaren Gräueltaten der Roten Armee beim Einmarsch in die deutschen Ostgebiete bei, die Millionen Menschen in die Flucht trieben. Die Mehrheit der Bevölkerung hielt Adolf Hitler vielmehr bis zum Schluss weitestgehend die Treue. Im Gegensatz zu anderen Ländern bildeten sich in Deutschland weder Partisaneneinheiten, noch kam es zu irgendwelchen Aufständen.
Stattdessen leistete die Wehrmacht bis zuletzt erbittert Widerstand, vor allem an der Ostfront. Die Kämpfe gingen sogar dann noch weiter, nachdem Hitler am 30. April 1945 Selbstmord begangen hatte. Als Berlin am 2. Mai endlich kapitulierte, waren bei der Schlacht um die deutsche Hauptstadt noch einmal 170.000 Soldaten ums Leben gekommen. Für Historiker steht deshalb außer Frage: Nicht Deutschland wurde vor 80 Jahren befreit, sondern Europa von den Deutschen.
Eine Befreiung nur für eine Minderheit
Als die Deutschen endlich geschlagen waren, dachten die Alliierten auch nicht daran, ihnen nun die Freiheit zu schenken. Die Truppen der Sieger besetzten vielmehr das gesamte deutsche Staatsgebiet und übernahmen die alleinige Regierungsgewalt bis in die Kommunen. Jede politische Betätigung, auch von Gegnern Hitlers, musste von ihnen genehmigt werden.
Für Millionen Deutsche bedeutete das Kriegsende sogar das Gegenteil von Befreiung. Trotz der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht nahmen die Alliierten weiter im großen Stil deutsche Soldaten gefangen. Über drei Millionen wurden zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert, wo ein Drittel von ihnen starb. Auch hunderttausende Zivilisten wurden verhaftet und fast 280.000 in sowjetische Arbeitslager verschleppt. Am Ende annektierte die UdSSR ein Viertel des deutschen Reichsgebietes und installierte zwischen Oder und Elbe eine neue Diktatur.
Eine Befreiung bedeutete der Sieg der Alliierten nur für eine Minderheit. Etwa 200.000 bis 300.000 Menschen hatten die Haft in deutschen Konzentrationslagern überlebt und kamen nun frei. Dasselbe galt für die acht Millionen ausländischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter – wobei Stalin die aus der Sowjetunion Verschleppten gleich wieder in Haft nehmen und die arbeitsfähigen als „Vaterlandsverräter“ in Arbeitslager deportieren ließ. Auch Deserteure und Regimegegner konnten nach dem 8. Mai aufatmen und rassisch Verfolgte ihre Verstecke verlassen. Doch die überwiegende Mehrheit der Deutschen stand 1945 auf der anderen Seite der Barrikade.
Der Wunsch, die Täterrolle abzustreifen
Schon früh machte sich allerdings in Deutschland der Wunsch bemerkbar, die Täterrolle abzustreifen. Als erstes schlugen sich die Kommunisten von der Verlierer- auf die Siegerseite. Im Gründungsaufruf der KPD, verfasst unter Stalins Augen in Moskau, hieß es im Juni 1945, die Rote Armee und ihre Verbündeten hätten dem deutschen Volk „Befreiung aus den Ketten der Hitlersklaverei gebracht.“ Dass die KPD mit ihrer jahrelangen Agitation gegen die Weimarer Republik selbst zu deren Untergang beigetragen hatte, wurde nicht erwähnt.
Schon kurz nach der Gründung der DDR erklärte die SED den 8. Mai zum Feiertag. Von nun an versammelte sich die Partei- und Staatsführung am „Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus“ jedes Jahr zu einem pompösen Festakt. Fahnen und Transparente schmückten Geschäfte und Bürogebäude, Zehntausende defilierten zu sowjetischen Soldatenfriedhöfen und Heldendenkmälern, um der Roten Armee für die Befreiung zu danken. Dass ein erheblicher Teil Ostdeutschlands von britischen und amerikanischen Truppen erobert worden war, fiel unter den Tisch.
Die Behauptung, die Rote Armee hätte Deutschland befreit, wurde bald zur wichtigsten Legitimationsgrundlage des SED-Staates. Dass die Sowjetunion entscheidend dazu beigetragen hatte, Hitler zu besiegen, konnte niemand bezweifeln. Ohne sie wäre das nationalsozialistische Morden noch lange weitergegangen. Obendrein hatte sie dafür gesorgt, dass vom NS-Regime verfolgte Kommunisten in Ostdeutschland die Macht übernahmen. Also, so die Argumentation, waren die Besatzer Befreier.
Nazis nur im Westen
In Wirklichkeit wurde die nationalsozialistische Diktatur lediglich durch eine kommunistische ersetzt. Die Rote Armee installierte ein Vasallenregime und hielt es jahrzehntelang mit 500.000 Soldaten in Schach. Als sich die Ostdeutschen am 17. Juni 1953 dagegen erhoben, wurde der Aufstand mit Panzern und Infanterie niedergeschlagen. „Befreiung?“, so raunte man sich in der DDR mit Blick auf die sowjetischen Plünderungen zu, „ja – von Uhren und Fahrrädern!“
Doch der Begriff „Befreiung“ bot auch Entlastung. Wenn Deutschland 1945 befreit worden war, gehörten auch die Deutschen zu Hitlers Opfern. Und da der SED-Staat im „Bruderbund“ mit der Sowjetunion stand, standen die Ostdeutschen im Grunde auf der Siegerseite. Weil sich die DDR zum „antifaschistischen Staat“ erklärte und behauptete, Nazis gäbe es nur im Westen, brauchte man sich mit Schuld und Verstrickung nicht mehr auseinandersetzen.
Bald dienten die Feiern am 8. Mai vor allem nur noch dazu, die „unverbrüchliche“ Freundschaft mit der Sowjetunion zu beschwören. Statt den Befreiern zu danken, sandte die SED jetzt „brüderliche Grüße“ nach Moskau, die ebenso „brüderlich“ erwidert wurden. Von den Gräueln des Krieges war nur noch floskelhaft die Rede. Als Ausgleich für die Einführung der Fünf-Tage-Woche wurde der Feiertag schließlich 1968 abgeschafft.
Sich selbst ein gutes Zeugnis ausstellen
Die Feiern mussten nun ohne Werktätige oder am Abend erfolgen. Zum 30. Jahrestag des Kriegsendes versammelten sich 40.000 Jungkommunisten aus der DDR und der Sowjetunion in der Dunkelheit am Sowjetdenkmal im Berliner Treptower Park, um mit leuchtenden Fackeln den Sozialismus zu bejubeln. Später nutzte die SED das Datum vor allem dazu, um sich selbst ein gutes Zeugnis auszustellen. „Unter Führung der Partei wurde in der DDR die historische Chance des 8. Mai genutzt“, schrieb das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ über den Festakt zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. Doch dann wurde es zunehmend still um die deutsch-sowjetische Freundschaft – weil Kreml-Chef Michail Gorbatschow Reformen einleitete, die sich viele DDR-Bürger auch für ihr Land wünschten.
In der Bundesrepublik nahm die Entwicklung gewissermaßen den entgegengesetzten Verlauf. Obwohl die westlichen Siegermächte in ihren Zonen bereits 1946 freie Wahlen zuließen, gab es aus Sicht der führenden Politiker am 8. Mai nichts zu feiern. Wenn das Datum überhaupt gewürdigt wurde, dann um die Ambivalenz des Tages zu betonen. „Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns“, erklärte Theodor Heuss am 8. Mai 1949 im Parlamentarischen Rat. „Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“
Solange sich viele noch persönlich an das Kriegsende erinnern konnten, änderte sich an dieser Einstellung wenig. Am 20. Jahrestag betonte Bundeskanzler Ludwig Erhard in einer Rundfunkansprache vor allem die „Gnade“, dass die westlichen Alliierten der Bundesrepublik beim Wiederaufbau geholfen und sie wieder in die Völkerfamilie aufgenommen hatten. Zugleich wies er daraufhin, dass den Bewohnern der DDR kein solcher Neubeginn vergönnt war. „Ja – wenn mit der Niederwerfung Hitler-Deutschlands Unrecht und Tyrannei aus der Welt getilgt worden wären, dann allerdings hätte die ganze Menschheit Grund genug, den 8. Mai als einen Gedenktag der Befreiung zu feiern. Wir alle wissen, wie weit die Wirklichkeit davon entfernt ist.“
Der Wunsch, zu den Opfern Hitlers zu zählen
In dieser Zeit, als Studenten begannen, für den Kommunismus auf die Straße zu gehen, und die Bundesrepublik eine neue Ostpolitik einschlug, setzte ein frappierender Paradigmenwechsel ein. Nach den dogmatischen Linken erfasste er zunächst nur SPD und FDP, später aber auch führende CDU-Politiker. Nun wurde auch in der Bundesrepublik immer häufiger erklärt, die Deutschen seien 1945 befreit worden. In Frankfurt am Main erklärte der nachmalige Vorsitzende des deutschen Schriftstellerverbandes, Bernt Engelmann, 1975 vor 25.000 Demonstranten sogar, „die Tatsache, dass hierzulande der 30. Jahrestag der Befreiung kein Staatsfeiertag ist“, sei ein Beleg dafür, dass „der Faschismus als latente Gefahr wieder vorhanden ist.“ Paradoxerweise wurde den Vätern und Großvätern gleichzeitig der Vorwurf gemacht, sie hätten zu den nationalsozialistischen Verbrechen geschwiegen oder daran mitgewirkt.
Der Wunsch, zu den Opfern Hitlers zu zählen, spiegelte sich auch in den Reden der Bundespräsidenten. 1970 erklärte Gustav Heinemann im Bundestag: „Wir hatten ungezählte dunkle Stunden zu ertragen, ehe die verbrecherische Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten von uns genommen wurde.“ Fünf Jahre später benutzte sein Nachfolger Walter Scheel erstmals das Wort „Befreiung“, als er über das Kriegsende sprach: „Wir wurden von einem furchtbaren Joch befreit, von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei.“ 1985 verkündete Bundespräsident Richard von Weizsäcker schließlich autoritativ: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
Dass von Weizsäcker auch ein persönliches Interesse an dieser Deutung hatte, war nur wenigen bewusst. Sein Vater war vom Nürnberger Militärgericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, weil er als NSDAP-Mitglied und NS-Staatssekretär Deportationsbefehle für französische Juden nach Auschwitz abgezeichnet hatte. Als junger Anwalt hatte von Weizsäcker seinen Vater mit verteidigt und blieb auch danach von seiner Unschuld überzeugt. Vergessen hatten die meisten inzwischen auch, dass der CDU-Politiker noch 1970 bei der Gedenkstunde im Bundestag betont hatte, der 8. Mai sei „für uns kein Feiertag“. Zwar seien die „Verirrungen und ruchlosen Verbrechen des Nationalsozialismus“ zu Ende gegangen, doch „eine neue Zwangsherrschaft fand ihren Eingang auf deutschem Boden.“
Als die DDR-Bevölkerung sich 1990 plötzlich selbst befreite
Das neue westdeutsche Geschichtsbild blendete nun immer mehr aus, dass die Sowjetunion im Osten Deutschland alles andere als befreiend gewirkt hatte. Manche hielten dies sogar für die verdiente Strafe für die Verbrechen Hitlers. Umso unerwarteter kam es für die politischen Eliten, dass sich die DDR-Bevölkerung 1990 plötzlich selbst befreite. Weil es nun einen gesamtdeutschen Bundestag gab, in dem die Ostdeutschen nur eine Minderheit darstellten, wurde die westdeutsche Sicht auch auf Gesamtdeutschland übertragen. Den abgesetzten Kadern der SED war das nur recht, zählte doch nun auch der Westen die Sowjetunion zu den Befreiern.
In dieser Zeit nahm Deutschland noch einen weiteren Rollenwechsel vor. 1995 lud Bundespräsident Roman Herzog die früheren Alliierten erstmals zu einem Staatsakt nach Berlin ein. Gemeinsam mit dem französischen Präsidenten, dem britischen Premierminister, dem Vizepräsidenten der USA und dem russischen Ministerpräsidenten feierte man den 50. Jahrestag des Kriegsendes. Die Bundesrepublik war nun, wie einst die DDR, gleichermaßen im Kreis der Sieger angekommen.
2020, zum 75. Jubiläum, sollte diese Art des Gedenkens in noch viel größerem Maßstab wiederholt werden. Zu diesem Zweck lud Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 1.600 Gäste aus dem In- und Ausland zu einem Staatsakt vor dem Reichstag ein, auf dem sowjetische Soldaten einst die rote Fahne gehisst hatten. Wegen der Corona-Pandemie musste die Veranstaltung abgesagt werden, doch Politiker der Grünen, der FDP und der Linken forderten, den 8. Mai bundesweit zum Feiertag zu erklären.
Nun müssen die Deutschen also allein ihre Befreiung feiern
Auch in diesem Jahr wird sich Deutschland nicht mit den Siegermächten zeigen können. Putins brutaler Krieg gegen die Ukraine würde einen gemeinsamen Auftritt nachgerade zynisch erscheinen lassen. Und mit Trump den Sieg über Hitler zu feiern, möchte in Deutschland ebenfalls kaum einer. Doch manchen ist das Bedauern darüber förmlich anzusehen. „Es tut mir sehr weh, dass wir keine Russen hier begrüßen können,“ erklärte der Vorsitzende einer Hausgemeinschaft in Berlin-Tempelhof, wo die deutsche Hauptstadt am 2. Mai 1945 vor den Sowjets kapitulierte und Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner deshalb einen Kranz niederlegte. Auch die Gemeinde Seelow und die Stadt Torgau schickten der russischen Botschaft Einladungen zu ihren Gedenkveranstaltungen.
Nun müssen die Deutschen also allein ihre Befreiung feiern. In zahlreichen Städten finden dazu Veranstaltungen statt, in der Berliner Akademie der Künste wurde bereits ein Oratorium mit dem Titel „Befreiung“ aufgeführt. Auch die Medien bedienen fleißig dieses Narrativ. Auf Initiative der Linkspartei ist der 8. Mai in Bremen und in fast allen ostdeutschen Bundesländern staatlicher Gedenktag. In Sachsen stimmte erstmals auch die CDU kürzlich einem entsprechenden Antrag der Linken zu.
Was wirklich am 8. Mai 1945 in Deutschland geschah, interessiert heute dagegen nur noch wenige. Menschen, die das Kriegsende selbst erlebt haben und das holzschnittartige Geschichtsbild korrigieren könnten, gibt es kaum mehr. Umso ungehemmter erklären die später Geborenen die Deutschen zu Befreiten und damit zu Hitlers Opfern.
Ihnen täte es gut, einmal die Rede Ludwig Ehrhards zur Hand zu nehmen, der über das Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb:
„Es war ein Tag so grau und trostlos wie so viele vor oder auch noch nach ihm, und so wir die Meldung von der totalen Kapitulation überhaupt vermerkt haben, bedeutete sie uns in der Stumpfheit jener Zeit kaum mehr als ein Aufatmen, dass das Menschenmorden endlich aufhören werde.“
Hubertus Knabe ist Historiker an der Universität Würzburg. Sein Buch „Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland“ ist im Verlag Langen Müller erschienen.
Die in diesem Text enthaltenen Links zu Bezugsquellen für Bücher sind teilweise sogenannte Affiliate-Links. Das bedeutet: Sollten Sie über einen solchen Link ein Buch kaufen, erhält Achgut.com eine kleine Provision. Damit unterstützen Sie Achgut.com. Unsere Berichterstattung beeinflusst das nicht.