Es tut mir leid. Mit meiner Warnung komme ich leider zu spät. Niemand sollte sich die Neujahrsansprachen unserer hohen Volksvertreter freiwillig angehört haben.
Auf der nach oben offenen Worthülsenskala, erreichten sie regelmäßig solch erschütterndes Niveau, dass Menschen mit Allergien gegen Beschwörungs- und Betroffenheitsrhetorik, zeitgeistige Durchhaltepropaganda oder schamlos praktizierte Langeweile Juckreiz und Durchfall bekommen. Das ist das Resultat, wenn Teleprompter und Medientraining „Staatsmänner“ zu Sprechapparaten ohne glaubhaft emotionale Regung machen. Man nimmt ihnen die zur Schau gestellte Rührung um die Opfer und Helfer von Magdeburg, die gefährdete Demokratie und das gespaltete Gemeinwesen, die desaströse Wirtschaftslage und die Zukunftsangst der Menschen einfach nicht mehr ab.
Das Abliefern erwartbarer Stereotype ist ein Kennzeichen deutscher Politiker im Angesicht des kausalen Zusammenhangs zwischen ihrem persönlichen, politischen Versagen und Deutschlands Regression in die anale Phase. Das Kind (gemeint: der Bürger) erlebt, dass es entweder gut oder auch böse sein kann, sein „Häufchen“ (Hass oder Hetze) zu machen – je nachdem, ob es sich den Vorstellungen der Erziehungsberechtigten (gemeint: der Regierenden) beugt oder seinem spontanen Bedürfnis nachgeht.
Das ist die neue Form des Bekenntnisses zu den trügerischen Prinzipien der Solidarität und Wohlanständigkeit. Man soll den „Mist“ glauben, der als korrekte Haltung im Rahmen dessen bleibt, was vorgegeben wurde (Framing), Hauptsache man ignoriert den Gestank, der von den Ereignissen und Entwicklungen ausgeht. Und Hauptsache man macht, was gesinnungsmoralisch vorgegeben wurde, und setzt seinen Haufen genau auf den der folgsamen Herde. Anstelle eines Bürgers ist ein stubenreiner, formbarer, gehorsamer Einwohner das Ziel, der die Seelenlosigkeit des Apparats und seiner Sprecher nachahmt und für erstrebenswert hält. Das ist genau genommen das kollektive Erlebnis, das uns die Herren empfehlen und in ihren Neujahrsansprachen lobpreisen. Der Haufen wird dabei größer, aber stinkt deshalb nicht weniger zum Himmel.
Der Vorhof zur Legitimation von Unrecht
Daran erinnern uns Scholz und Steinmeier regelmäßig: Wir sollen verstehen, anerkennen, erdulden und ausbaden, aber ja nicht anklagen und beschuldigen – um dann die Ausblendung der Realität zum gemeinsamen Erlebnis des Zusammenhalts zu verklären, damit nicht die Ursachen und Verursacher erforscht, sondern die Dynamik der Betroffenen beherrscht werden kann. Das funktioniert jedoch nur noch bei Leuten, die nicht gelernt haben nachzufragen und ideologiekritisches Verhalten tatsächlich für Verrat, Hetze oder Majestätsbeleidigung halten. Gesetze dafür wurden in den letzten Jahren geschickt in Stellung gebracht: Sie sind alle gegen aufmüpfige Bürger gerichtet, die sich weigern, stromlinienförmig zu sein.
Überhaupt: Auch die Politik und die Politiker sehen zunehmend das Verhältnis zwischen ihnen und den Bürgern als heikel an. Darum wird um das demokratische Recht auf scharfzüngige Widerrede eine Grauzone der Gesetzesverstöße gelegt, die die Meinungsfreiheit zum relativen Recht degradieren und den Politikern ein Vorrecht auf präventiv hysterische Verfolgung einräumen. Diese zeitgeistige Paranoia der Politik vor dem Souverän ist keine gute Entwicklung und gehört wieder abgeschafft.
Linientreue gilt heute also wieder als Tugend. Sie ist jedoch der Vorhof zur Legitimation von Unrecht. „Wehret den Anfängen“... rufen uns nicht Politiker dies so gern zu? Sie sollten bei sich selbst beginnen und dem kategorischen Imperativ als oberste Maxime wieder zur Geltung verhelfen. Doch das scheint nicht in ihrem Interesse. Ein Zweiklassendenken (die Richtigen und die Falschen, Oben und Unten, Links und Rechts) ermächtigt sie wieder zum Handeln im Namen des „Guten“ und „Sittlichen“. Die Erkenntnissimulation, es gelte die Demokratie und die gesellschaftliche Einheit zu retten, ist ein Grundmotiv heutiger Politik. Sie allein ist permanente Zumutung und Ablenkungsmanöver.
Keine Verantwortung, keine Verlässlichkeit
Olaf Scholz in seiner erwähnten Neujahrsansprache: Er beginnt mit einer zweiminütigen Moritat über Magdeburg, in der eine vor Trivialadjektiven strotzende Beschreibung vorherrscht. Das Böse ist jäh hereingebrochen: „unvorstellbar... grausam... fassungslos... menschenverachtend... wahnsinnig... so viel Leid“. Er fragt: „Woher die Kraft nehmen?“ Und gibt gleich die schablonenhafte Antwort: „Kraft entsteht aus Zusammenhalt“. Fällt Scholz wirklich nicht mehr ein, als diese angestaubte Propaganda-Formel aus deutschen Diktatur-Jahrzehnten vom Teleprompter abzulesen? „Und wir sind ein Land, das zusammenhält.“ Tatsächlich?
In anderen Situationen warnen er und der Worthülsenexperte Frank-Walter Steinmeier vor dem Gegenteil, nämlich vor der Spaltung der Gesellschaft. Es ist egal: Es geht nicht um den konkreten Inhalt und dessen konsistenten Vortrag, sondern um ein formales Statement vor der dumpfen Nation, der man nur ein paar Signalworte hinwerfen muss, um von der tieferen Problematik dieses Landes abzulenken. Diese Problematik ist die Politik selbst, die sich im Selbstzweck ihres Daseins verloren hat, in der es keinen Auftrag, keine Verantwortung, keine Verlässlichkeit und kein echtes Versprechen mehr gibt.
Laut Scholz ist der Zusammenhalt „in den vergangenen Tagen in Magdeburg eindrucksvoll zu spüren gewesen“. Der Zusammenhalt galt nicht ihm. Wenn es die linientreuen Staatsmedien nicht folgerichtig unterlassen hätten, neutral zu berichten, wie der Kanzler aller Treudoofen unter lauten Buhrufen und skandiertem „Hau ab“ am Gedenkort in Magdeburg Spalier laufen musste, könnte diese seine Behauptung schlicht als Fake-News, als Täuschung oder Wahnvorstellung abgewiesen werden.
Unsägliche Kaskade des Versagens
Auch in Magdeburg gibt es sehr viele Menschen, die das Leid des Attentats nicht als Anlass zu einem Schulterschluss mit Scholz und seinen Jasagern sehen – die unter echtem Zusammenhalt eine empathische, aber keine politische Leistung verstehen. Es ist schamlos, wie der Kanzler versucht, politisch aus dem Attentat Profit zu schlagen, um das Versagen seiner Regierung in den letzten Jahren und aktuell der Beamten in Magdeburg hinter die Kulisse eines herbeigerufenen Pseudo-Erweckungserlebnisses zu schieben: „Zusammenhalt“, wohl eher eine Scholz’sche Fata Morgana für die Wahl am 23. Februar 2025.
Der Kanzler kommt nicht zum Punkt, der ihn selbst betrifft. Er kann nicht die wahren Verursacher benennen, die seit vielen Jahren in einer Menschenkette aus Unterlassern, Günstlingen, Feiglingen, Schönrednern, Denunzianten und Opportunisten – vom kleinen Beamten über den servilen Journalisten bis zum drögen Kanzler selbst – eine unsägliche Kaskade des Versagens verursacht haben und sich nun erdreisten, dies alles im Worthülsenrausch zu verklären. Er erzählt den Menschen vor dem Flimmerkasten eine Moritat aus Magdeburg, wo Menschen im Leid zusammengehalten haben. Und er meint, das sei jetzt eine weltberühmte Ermutigung fürs Volk, das jedoch mit der Angst im Nacken leben muss, weil sich so etwas jederzeit irgendwo in Deutschland wiederholen kann. Der Kanzler sagt dazu kein Wort.
Denn dieses Gespenst geht seit 2015 in Deutschland um, und Scholz trägt dafür Mitverantwortung. Egal ob der Täter als Islamist auf dem Breitscheidplatz in Berlin durch die Menschenmenge walzt oder als islamkritischer Verschwörungstheoretiker in islamistischer Terrormanier durch die Menschenmenge in Magdeburg pflügt: Die Frage, ob beides mit einer extremistischen Gesinnung im Zusammenhang mit dem Islam zu tun hat, erläutert der Kanzler nicht, obwohl genau dies die Verunsicherung im Lande verursacht und von dringender Relevanz ist. Scholz ignoriert es im Namen des Volkes und im Namen eines „Wohlergehens“, das nur für ihn und seine Seilschaft nachvollziehbar ist. Prost Neujahr.
Wahnbild von „Demokratierettung“
Scholz schweigt zur eigentlichen Immanenz des Magdeburger Attentats. Deshalb ist seine Rede vom „Zusammenhalt“ völkischer Kitsch und gefährlicher Nonsens zugleich. Man muss ihm widersprechen: Der Zusammenhalt der Deutschen existiert erst dann, wenn die Gründe einer real existierenden, ideologisch inszenierten Spaltung beendet werden, welche von einer Politik ausgeht, die sich für absolut und ermächtigt sieht. Die Spaltung geht von einer Politik aus, die einem Wahnbild von „Demokratierettung“ nacheifert, die „gute“ von „schlechten“ Bürgern unterscheiden will und die Diffamierung oder Zensur unliebsamer Dissidenten betreibt, ohne dass dies von Außenstehenden vor dem Grundgesetz als Skandal betrachtet wird. (Ausgenommen die Auslandspresse und allen voran Elon Musk, den gefallenen Engel der Klimarettung.)
Der von Scholz so hochgelobte „Zusammenhalt“ wird an den Schaltstellen der politischen Macht täglich sabotiert. Sein Scheitern wird nicht als das, was es tatsächlich ist, benannt, nämlich als Politikversagen, sondern kontrafaktisch als Wählerversagen inszeniert und skandalisiert. Das ist das vornehmliche Tagesgeschäft einer SPD, die mit Scholz und Steinmeier zwei Führungspersönlichkeiten für niederschwellige Märchenstunden geboren hat, mit denen das Land intellektuell und gesellschaftlich an die Wand fährt, denn beide sind so ungeheuer parteiisch, dass sie nahezu alles nach ihren Regeln der Ausgrenzung bemessen dürfen und dem Land ein gesinnungstechnisches Abziehbild von einseitiger Demokratie aufgezwungen haben.
Walter Ulbricht hätte sich nie träumen lassen, dass einst ein so kostengünstiger „antifaschistischer“ Schutzwall Deutschland teilen könnte, eine imaginäre Mauer, die nur durch die Köpfe der Menschen verläuft und in beliebiger Höhe aufgetürmt werden kann (von einem Parteienkartell, an dem die CDU maßgeblich beteiligt ist). Wie antifaschistisch Ulbrichts Mauer war, wissen heute die meisten Deutschen. Was wird man wohl über die sogenannte Brandmauer sagen, den neuen „antifaschistischen Schutzwall“, der 35 Jahre nach den mutigen Montagsdemonstrationen, die zur Wende führten, in den Köpfen aufgebaut wurde?
Die „unverzeihliche“ Wahl rückgängig machen
Kanzler Scholz würdigt in seiner Neujahrsansprache die Leistung hunderttausender Demonstranten im Jahre 1989 als eine Art demokratische „Urszene“ – und doch ist er geradezu gleichzeitig der Protagonist einer neuen Einheitsfront, die das sozialistische System der DDR in vielerlei Hinsicht eifrig nachahmt.
Scholz führt in seiner Neujahrsansprache aus: „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, so sind wir“. Ich sage: Liebe Leserinnen und Leser: So sind Sie nicht. Sie lassen sich doch nicht ungefragt in ein „Wir“ zwängen, das nach dem Gusto eines vergesslichen und geschichtsvergessen agierenden Kanzlers geformt ist. Das „Wir“ von Olaf Scholz ist das kollektive Märchen von Duldsamkeit und Unbedarftheit, das nicht nach den Verantwortlichen fragt, sondern brav die Bürde der Politikfolgen übernimmt, damit alles so weitergehen kann wie bisher und die Machtversessenen davon profitieren. „Wir“ wollen dennoch nicht vergessen, wer heute das Versagen verkörpert wie kein anderer.
„So ist Deutschland [...], ein Land des Miteinanders. Und daraus können wir Kraft schöpfen, erst recht in schwierigen Zeiten wie diesen“. Zugespitzt könnte der Kanzler erkannt haben: Deutschland braucht schwierige Zeiten, um daraus endlich Kraft zu schöpfen. Also Lernen durch Schaden. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der Deutschen. Deshalb erinnert er an die Wende als „das Ergebnis hunderttausender Einzelner, gemeinsam das Richtige zu tun“. Das sagt er. Man möchte ihn nun fragen, was er zu tun gedenkt – als „guter“ Demokrat – wenn sich am Wahltag hunderttausende, vielleicht Millionen Einzelne entscheiden das „Falsche“ zu tun. Würde er den Notstand ausrufen oder es der Amtsvorgängerin gleichtun, „seiner“ Demokratie die Ehre zu erweisen, indem er die „unverzeihliche“ Wahl rückgängig macht?
Lernen aus Fehlern und Neuanfang
Die wirklich guten Beispiele der deutschen Geschichte, an denen sich das geknickte Selbstwertgefühl der Nation immer wieder gern aufrappelt, waren zu ihren Lebzeiten für die Machthaber stets die denkbar schlechtesten: die Wende und die Montagsdemonstrationen 1989, die weiße Rose und die Geschwister Scholl 1943 – und noch weiter zurück zum Ursprung unserer Landesfarben: das Hambacher Fest 1832. Als begeisterte Liberale sich versammelten, um die nationale Einheit, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie die Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu fordern, folgte eine Prozesswelle gegen die Veranstalter. Massive militärische Präsenz beendete im pfalzbayerischen Raum die Träume einer freien, vereinten Nation. Heute gelten diese Freigeister als Helden, damals als Kriminelle und Aufwiegler. Für die Obrigkeit sind alle Widerständler und politischen Innovatoren ihrer Zeit stets die Bösen.
Auch für Olaf Scholz ist es wohlfeil, im Rückblick auf die deutsche Geschichte und die „Kraft“ der Deutschen das Bild zu wählen, das ihm heute genehm ist. Hätte er 1832, 1943, 1989 genauso gedacht und geredet, oder hätte er wie ein Feigling, Opportunist, vielleicht sogar wie ein Hardliner reagiert? Zu solch einer Reflexion fehlt es in der Bundesregierung jedoch an intellektuellem Vermögen und entsprechender Demut.
Erfolgreicher Widerstand gegen (neo)feudales Unrecht und Unterdrückung, die Bildung eines subversiv-demokratischen „Miteinanders“, das zur Rechtsstaatlichkeit führt oder sie bewahrt, mutiges Beharren auf Rechtsansprüchen, Lernen aus Fehlern und Neuanfang – Geschichte entsteht nicht als verirrter Plan der Regierenden, sondern meist als ihr Scheitern und Abgang. Das ist keine saubere marxistische Dialektik, sondern schlicht positives Denken. Das sollte Olaf Scholz mindestens aus der deutschen Geschichte gelernt haben. Ob ihm schon in diesem Jahr diese Gnade zuteilwerden wird, bleibt abzuwarten.
Ich wünsche Ihnen alles Gute zum Neuen Jahr und Olaf Scholz Ende Februar angemessen demokratische Konsequenzen!
Dieser Text erschien zuerst im wöchentlichen Newsletter von Achgut.com (jeweils am Freitag), den Sie hier kostenlos bestellen können.
Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.