Von Snorre Martens Björkson.
Es gibt Zeiten, da fallen Frühling und Herbst zusammen, Tage, da ist das Licht auf eine ähnliche Art mild, und der Mensch ist gewillt, sein Auge über die Natur streifen zu lassen. Ja, sagt er dann für gewöhnlich und seufzt: Was für ein Symbol für unser vergängliches Sein. Da umkreist eine Wespe einen faulen Apfel oder umgekehrt, da drängelt eine blaue Blüte durch den Gitterrost vor der Haustür. Eben ging der DHL-Bote darüber und stellte, wie verabredet, ohne zu klingeln, das Paket mit den Schutzmasken (die einfachen, die einzigen, die überhaupt halbwegs bezahlbar zu bekommen sind) neben dem Blumentopf ab. Hier fällt alles zusammen: Frühling und Herbst, Leben und Tod. Freude und nackte Angst.
Es wären Tage für gute Bücher, aber woher nehmen und nicht stehlen? Gerade ist Leipzig abgesagt und die Lit. Cologne fällt aus. Ob es eine Frankfurter Buchmesse geben wird, kann man auch jetzt schon bezweifeln. Ich war einmal in Frankfurt, als ich noch fast jung war und dachte, ich wäre ein Schriftsteller, und ich war irritiert: Was hatte dieses Menschenmarktgewusel mit Büchern zu tun? Jetzt schließt man sich ein, und wenn man nicht die ganze Zeit panisch die Nachrichten im Internet verfolgen würde, könnte man vielleicht endlich mal die zweite Seite vom Proust lesen. „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen ...“ Ja, das kann man ja inzwischen auswendig, aber wie geht es eigentlich weiter?
Und dann fragt man sich: Ja, warum ist es eigentlich in den letzten Jahren nicht weiter gegangen mit der Literatur? Warum wurden zwar unglaublich viele Bücher gedruckt, aber kaum noch welche geschrieben? Warum waren die Veröffentlichungen und Bepreisungen der letzten Jahre so durchsichtig, dass einem renommierte Verlage auf einmal vorkamen wie das Propagandaministerium? Wo sind denn die echten Geschichtenerzähler?
Erinnern wir uns doch einmal an unsere eigene Geschichte: Zum Beispiel vor sechstausend Jahren oder etwas später kamen aus Russland diese Jamnaja-Leute, die ihre Fürsten gerne in Hügeln begruben, und drängten fast allen Europäern ihre Sprache auf – und ja, ob sie die meisten Männer umbrachten oder diese einfach zufällig an der Pest starben, wissen wir nicht, aber die Jamnaja-Männer bekamen die meisten Frauen ab. Sie sind heute der größte männliche Genpool in Mitteleuropa.
Was hätten diese Chronisten daraus machen können?
Nun stellen wir uns Marcel Proust oder Uwe Johnson vor fünftausend Jahren vor: Das Pferd setzt sich als Reittier durch, Kupfer wird gehandelt, Sprachen verschwinden. Was hätten diese Chronisten daraus machen können? Aber Europa war noch nicht so weit, der Roman noch nicht geboren. Es gab noch nicht einmal das griechische Theater. Also vielleicht ein paar Lagerfeuergeschichten oder Mythen, die sich über die Jahrtausende verändern und deren Kern wir heute nicht mehr verstehen. Kriege, Umwälzungen, Entdeckungen, Krisen – sie sind eigentlich das Futter der Schriftsteller. Was wäre der großartige niederländische Schriftsteller Harry Mulisch ohne die deutsche Besatzung? Wir wissen es nicht.
Aber wieso wird seit 2015 so wenig geschrieben? Kaum etwas hat so viel Veränderungen in Deutschland bewirkt. Was für ein Stoff! Ehen gingen kaputt, Menschen wurden Freunde, Menschen starben, der Wohnungsmarkt brach zusammen, eine Mini-Antieuropa-Partei erreichte auf einmal unvorstellbaren Zulauf und wurde zum größten Gespenst der deutschen Nachkriegsgeschichte, jedenfalls bis vor kurzem. Erinnern wir uns an die riesige Welle der Wende-Literatur nach 1989. Da kam einer aus dem Osten, konnte einen Bleistift halten und schon war er ein Schriftsteller. Aber was geschah nach 2015?
Ich erinnere mich noch an das Geschrei über Monika Marons zaghaften Roman („Munin oder Chaos im Kopf“). Vorsichtig, tastend, etwas nebulös hatte sie sich herangewagt und dafür ihren großen Namen in den Ring geworfen. Getarnt mit einem literarischen Kniff ließ sie nicht sich selbst sprechen, sondern sozusagen ihre Handpuppe, einen der beiden berühmten mythologischen Raben. Ärger bekam sie dennoch! Andere wurden nicht einmal verlegt. Ich selber plagte mich drei Jahre mit der Suche nach einem Verlag für mein Lamento Abendland, einen Roman über den zusammenbrechenden Wohnungsmarkt. Lektoren, die ich für Freunde hielt, brachen den Kontakt zu mir ab. Dann gab ich auf, aber ich gab auch auf zu lesen.
Was bitte sollte ich mit diesen gut gemeinten Befindlichkeitsbüchern anfangen? Sie erzählten einfach nichts, sie lenkten meistens nur ab. Und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass der Humangenetiker David Reich, der eben auch über jene Jamnaja-Männer schreibt, bis jetzt nicht übersetzt ist. Und nun ist 2015 schon vergessen. Eine noch tiefgreifendere Krise erschüttert Europa, und wieder trifft es trotz aller Warnungen vorab Deutschland unvorbereitet. Wieder glauben sich die Deutschen unverwundbar. Statt Ausgangssperre fordern sie Coronaparty. Eine Bundeskanzlerin, die den Leuten jahrelang eingeredet hat, dass ihre Ängste unbegründet seien, wirkt nun irritiert darüber, dass niemand mehr auf die eigenen Ängste hört. Und täglich tickern die Zahlen näher …
Wird man davon erzählen dürfen, wenn das alles vorbei, wenn der Spuk überstanden ist? Wenn dann noch ein alter weißer Mann oder eine alte weiße Frau übrig ist, um zu erzählen: Werden wir schreiben dürfen über 2020 oder gilt auch dann: Kein Buch, nirgends?