Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 17.02.2007 / 12:28 / 0 / Seite ausdrucken

(K)ein Atlas der Globalisierung

Das Ende des Kalten Krieges (1947-1991) hat in uns das Gefühl verstärkt, dass wir es mit einer neuen Welt zu tun haben. Diese Welt kommt uns bedrohlicher vor, weil sie uns weniger vertraut ist und wir uns an die Konstellationen und Kräfteverhältnisse der bipolaren Welt gewöhnt hatten (die freilich, unter anderem wegen der Gefahr eines Atomkriegs, keineswegs weniger gefährlich war).

Deshalb brauchen wir ein kartographisches Werk, das die unentbehrlichen Informationen aus allen Gebieten zusammenbringt: aus Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Kultur, Ideologie, Militär und Umwelt, damit wir die - oft unsichbare - Lebenswirklichkeit der Völker und Staaten besser einschätzen können. Angesichts der ungeheuren Vielfalt und Komplexität der Daten müsste sich sonst jeder Student und jeder Lehrer, jeder Journalist und jeder Politiker oder Verbandsfunktionär eine Synthese dieser Wissensgebiete erarbeiten, die so seriös wie irgend möglich die Arbeit der Spezialisten auswertet, und das auch noch in einer Form, die für eine möglichst breite Öffentlichkeit verständlich ist.

So erklärt Ignacio Ramonet, der Herausgeber von “Le Monde diplomatique”, die Motivation hinter dem von seiner Monatszeitung veröffentlichten “Atlas der Globalisierung”. Ein durchaus löblicher Ansatz, der an die Enzyklopädisten der Aufklärung um Diderot und d’Alembert erinnert. Das Wissen zu bündeln, Angaben mit Quellen zu belegen und gleichsam unparteiisch Fakten vorzulegen: ein hoher Anspruch. Leider nur wird ihm der Globalisierungsatlas nicht gerecht. Vielmehr sind viele der Übersichtsartikel von der jeweiligen politischen Überzeugung ihrer Verfasser gefärbt. Und deren Herz schlägt ziemlich eindeutig links. Dafür nur einige wenige Beispiele.

Zum Thema “Wasser” kann man im Atlas lesen: “Sauberes Trinkwasser ist ein ebenso kostbares wie kostspieliges Gut.” Das sollte unstrittig sein. Ohne Wasser ist kein Leben möglich, aber die Versorgung mit Wasser ist nicht zum Nulltarif zu gewährleisten. Für die Autoren des Atlas folgt aus dieser trivialen Feststellung über das Wasser jedoch unmittelbar: “Es muss weltweit besser geschützt und gerechter verteilt werden.” Ein klarer Fall von non sequitur: Nur weil ein gut knapp ist, heißt dies nicht, dass die Lösung des Problems in einer “gerechteren” Verteilung besteht. Die Erfahrung mit knappen Gütern legt eigentlich einen anderen Schluss nahe. Dort, wo wir es mit Knappheiten zu tun haben, braucht es einen Mechanismus, der den knappen Gütern Preise gibt, die diese Knappheit reflektieren. Ein Mechanismus, der dies im Allgemeinen sehr gut bewirkt, ist der Markt. Für die Atlas-Autoren ist dies jedoch eine inakzeptable Lösung. Sie beschließen ihren Eintrag zum Thema wie folgt:

Vor allem die Weltbank und der Internationale Währungsfonds sowie manche Regierungen halten die Privatisierung des Wassers für das Mittel der Wahl. Bislang sind erst 5 Prozent der Weltwasservorräte privatisiert. Viele zivilgesellschaftliche Bewegungen verurteilen eine solche Vermarktung des Wassers und wollen den Zugang zu sauberem Wasser als “menschliches Grundrecht” verankern: Wasser müsse kostenlos sein, so lautet die Forderung, oder zum Selbstkostenpreis abgegeben werden - die Ärmsten der Armen werden freilich nicht einmal den bezahlen können.

Merke: Weltbank und Währungsfonds arbeiten gegen das Menschenrecht auf kostenloses Wasser. Und da es kaum ein Unternehmen geben dürfte, das seine Produkte kostenlos oder zum Selbstkostenpreis vertreibt, kann die - nicht explizit formulierte - Forderung nur lauten, die Wasserversorgung ausschließlich staatlich zu organisieren. Merkwürdig nur, dass der Atlas den offensichtlichen Selbstwiderspruch nicht bemerkt. Einerseits beklagt er in dem Wasser-Artikel die unzureichende Versorgung der Weltbevölkerung mit Wasser, andererseits stellt er fest, dass 95 Prozent der Wasservorräte derzeit nicht in privater Hand sind. Ob das eine vielleicht etwas mit dem anderen zu tun hat?

Spannend sind auch die Ausführungen des Atlas zur grünen Gentechnik. Schon die Überschrift gibt die Linie vor: “Falsche Versprechen - Gentechnik in der Landwirtschaft”. Dazu kann man dann Sätze wie die folgenden lesen:

Jedes neue Medikament wird auf Verträglichkeit und “Nebenwirkungen” getestet, über die Risiken transgener Pflanzen jedoch soll nicht lange nachgedacht werden - wünschen sich ihre Befürworter. Immer mehr Menschen konsumieren immer mehr genveränderte Lebensmittel. Wenn Umweltaktivisten Gentech-Versuchsfelder abmähen, mag das durchaus medienwirksam sein, an den Tatsachen ändert es jedoch wenig: Ende 2004 zählte man in der Welt 8,25 Millionen Landwirte, die 81 Millionen Hektar solcher Experimentierflächen bewirtschafteten.

Im gesamten Eintrag zur grünen Gentechnik findet sich kein einziger Hinweis auf eine konkrete, nachgewiesene Gesundheitsschädigung durch gentechnisch veränderte Lebensmittel. Dennoch werden die Bauern, die gentechnisch veränderte Pflanzen anbauen, zu potentiellen Umweltverschmutzern gestempelt. Bei den “Experimentierflächen” handelt es sich übrigens um über 5 Prozent der gesamten Anbauchfläche der Welt - die Gentechnik hat also die Phase des Experiments verlassen und ist heute bereits ein wichtiger Faktor in der Landwirtschaft geworden. Ansonsten kann man sich fragen, ob der Atlas nicht klammheimliche Freude an den (rechtswidrigen) Sabotage-Aktionen der Umweltaktivisten ausdrückt.

Noch aus einem anderen Grund lehnt der Atlas die Gentechnik ab:

Ob Lebensmittel aus gentechnisch veränderten Organismen etwas gegen die unausgeglichene Ernährungslage der Welt ausrichten können, wird sich zeigen. Zunächst werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach die Abhängigkeit der armen Länder von wenigen großen Firmen wie Monsanto oder Bayer erhöhen.

Die Chancen werden somit skeptisch beurteilt, obwohl sie eigentlich anhand von Ertragszahlen leicht zu belegen wären. Gleichzeitig wird die Gentechnik quasi als ein Komplott der westlichen Großindustrie gegen die ärmsten Länder dargestellt. Die Auswahl der weiterführenden Literatur im Internet ist nicht weniger einseitig. Sie besteht überwiegend aus Links zu NGOs gegen genetisch veränderte Pflanzen sowie Hinweisen auf Greenpeace und die “International Federation of Organic Agriculture Movements.”

Auch im Bereich der Geopolitik hört sich der Atlas weniger an wie eine aufklärerische Enzyklopädie, sondern eher wie ein Kommentar. Unter der Überschrift “Der erfundene Kampf der Kulturen” ist zu lesen:

Ein Aspekt seiner These [die Rede ist von Huntingtons Clash of Civilizations, OMH] hat jedoch überlebt: der “Zusammenprall” der westlichen, christlichen Welt auf der einen mit der muslimischen Welt auf der anderen Seite. Paradoxerweise vertreten islamistische Fundamentalisten selbst diese These. Ihre Hasstiraden gegen “Kreuzritter und Juden” schüren wiederum eine Islamophobie, deren rassistische Klischees und Projektionen aus Zeiten des Kolonialismus stammen oder noch ältere Wurzeln haben.

Eine solche Passage kann den Leser, insbesondere in einem Atlas, nur verwirrt zurücklassen. Bestätigen islamistische Fundamentalisten also Huntingtons These oder dienen sie lediglich als Vorwand für “rassistische Klischees”, denen dann wohl auch Huntington selbst aufgesessen ist?

Anderes Beispiel: Selbst Wal-Mart wird ein eigener Abschnitt im Atlas der Globalisierung gewidmet. Zitat:

Vom Laden um die Ecke zum größten Einzelhändler der Welt - Wal-Mart ist mit seinen heute mehr als 1,6 Millionen Angestellten und einem Umsatz, der 2,5 Prozent der US-Wirtschaftsleistung entspricht, zum Inbegriff der Macht der Multis geworden.

Wieviel Macht “Multis” wie Wal-Mart haben, konnte man gerade in Deutschland sehen. Auf dem dortigen Einzelhandelsmarkt ist Wal-Mart mit Pauken und Trompeten gescheitert. Für den Atlas aber kein Grund, nicht vor Wal-Mart und anderen “Multis” zu warnen, von denen jeder zweite seinen Sitz in den USA hat, wie der Atlas nicht zu erwähnen vergisst. Auch die Literaturhinweise hierzu sind eindeutig und einseitig: der Wikipedia-Artikel zu Wal-Mart ist da noch das Objektivste. Ansonsten Links zu http://www.againstthewal.com, http://www.walmartwatch.com, http://www.corporatewatch.org.uk und einem Attac-Positionspapier zur “Alternativen Weltwirtschaftsordnung”.

Geradezu unfreiwillig komisch ist auch ein Eintrag über die Europäische Union. Dort heißt es tatsächlich:

Obwohl die neuen Beitrittsländer im Durchschnitt wesentlich ärmer und viel stärker landwirtschaftlich geprägt sind, beziehen sie nicht dieselben Transferleistungen, die noch die Länder Südeuropas, Irland und auch Ostdeutschland einstreichen konnten. Das Projekt eines europäischen Verfassungsvertrags diente schließlich dazu, dieser undurchsichtigen und sozial rückschrittlichen Ausrichtung der EU politische Legitimität zu verleihen. Deshalb wurde die Verfassung als einzig mögliche Grundlage für die Entwicklung eines vorgeblich solidarischen Europas dargestellt, während in Wirklichkeit die EU zu einem Projekt schrumpft, das nur noch die allgemeine Marktkonkurrenz organisiert.

Ausgerechnet die EU-Landwirtschaftspolitik ist also der Maßstab für das “soziale Europa” und daher sollte sie nun am besten sofort auf Osteuropa ausgedehnt werden? Man darf sich wundern. Im übrigen ist es eine merkwürdige Vorstellung, dass man zur Organisation “allgemeiner Marktkonkurrenz” einen Acquis communautaire, also ein europäisches Gemeinschaftsrecht, mit einem Umfang von über 85.000 Seiten benötigt.

Über die Themen, die im “Atlas der Globalisierung” behandelt werden, lässt sich sicherlich gut streiten: für oder gegen die Privatisierung des Wassers, für oder gegen grüne Gentechnik, für oder gegen die These vom Kampf der Kulturen, für oder gegen die “Macht der Multis”, für oder gegen die EU. Dass es dort völlig konträre Meinungen gibt, ist absolut legitim - und ich kritisiere auch nicht die Autoren des Atlas für ihre Meinung, obwohl ich sie im Wesentlichen nicht teile.

Was ich aber sehr wohl kritisiere, ist das Verpacken eindeutiger Meinungsäußerungen in das Format eines angeblichen Atlas - besonders dann, wenn er auch noch im Vorwort mit dem Anspruch der Objektivität verknüpft wird. Dieser Atlas hat sehr wenig mit den “neuen Daten und Fakten zur Lage der Welt” zu tun, wie er es in seinem Untertitel verspricht. Vielmehr ist es ein globalisierungs-, neoliberalismus- und amerikakritisches Pamphlet geworden, das seine politischen Überzeugungen mit einigen bunten Schaubildern zu kaschieren versucht.

Als provokative Polemik wäre das Buch noch akzeptabel gewesen, als Sach- und Faktenbuch ist es jedoch kaum zu gebrauchen.

Le Monde Diplomatique (Hrsg.): Atlas der Globalisierung - Die neuen Daten und Fakten zur Lage der Welt, mit einem Vorwort von Klaus Töpfer, 198 Seiten, 2. Auflage, taz-Verlag, Berlin 2006.

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