Der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy hat bekannt gegeben, dass er Kataloniens Regierung entmachten und die Region von Madrid aus verwalten möchte. Das erlaubt ihm zwar ein Artikel in der Verfassung, der aber in den vergangenen 40 Jahren noch nie angewandt wurde, was deutlich macht, wie ungewöhnlich der Schritt ist.
Am Freitag verlangte er Neuwahlen. Währenddessen tagten in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der EU – und die meisten hatten dazu nichts zu sagen, was sie als höhere Einsicht ausgaben, was tatsächlich aber wohl eher Ausdruck einer Eigenschaft ist, die so typisch scheint für diese Generation von Berufspolitikern: Sie sind überfordert. Sie wissen weder ein noch aus.
Wie schon so oft hat sich die mächtigste Frau des Kontinents, Angela Merkel, dabei auch als die am offensichtlichsten überforderte erwiesen. Die Verfassung sei einzuhalten, beschied die deutsche Bundeskanzlerin den Katalanen, und stellte sich bedingungslos auf die Seite der spanischen Regierung, die im Begriff ist, ihr Land zu zerstören.
Was machtvoll und entschieden wirkte, war nichts anderes als eine Kapitulation vor den Umständen. Merkel glaubt wohl, sie könnte das aussitzen, was ohnehin ihre oberste Handlungsmaxime zu sein scheint, die sie zwar bisher an der Macht gehalten, aber in Europa und in Deutschland vor allem Ruinen hinterlassen hat. Manchmal müssen Politiker auch etwas tun, das Mut erfordert, Merkel tut nur etwas, wenn alle ihr sagen, was zu tun wäre – und auch dann wartet sie, bis es zu spät ist und ihr alle dies bestätigen.
So führen sich Verlierer auf, bevor sie verloren haben
Insgeheim ahnen doch die meisten Politiker, dass Rajoy so nicht ans Ziel gelangt. Glaubt er denn wirklich, die Wünsche der Katalanen nach mehr Autonomie würden sich einfach in Luft auflösen, weil man sich fürchtet vor dem Verfassungsbruch? Niemand zittert in Barcelona. Wer hat Angst vor Mariano Rajoy, dem bärtigen Aussitzer selber, der eher wie ein frustrierter Primanerlehrer vor der Pensionierung aussieht als wie ein Mann der Tat? So führen sich Verlierer auf, bevor sie verloren haben.
Wenn Rajoy diesen Weg weiterverfolgt, wird er am Ende Truppen einsetzen müssen, denn nur mit Gewalt wird er seinen Brutalo–Kurs durchsetzen können. Der Tages–Anzeiger hat ihn vor kurzem mit Recep Erdogan, dem türkischen Diktator, verglichen, ein grotesker Vergleich, denn im Gegensatz zu Erdogan fehlt es Rajoy wohl an der nötigen Brutalität. Die Türkei führt seit Jahrzehnten einen ungerechten Krieg gegen die eigenen Kurden, man tötet und löscht aus, man prügelt und misshandelt; die Spanier haben in ihrer langen, blutrünstigen Geschichte zwar bewiesen, dass sie das ebenso gut meistern, doch inzwischen ist das lange her.
Es mangelt an türkischer Routine. Rajoy, dem bärtigen Technokraten, traue ich das nicht mehr zu. Irgendwann wird es trotzdem eine gültige Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von Katalonien geben – und Rajoy dürfte diese verlieren, weil er in der Zwischenzeit alles dafür getan hat, um auch noch den letzten Katalanen davon zu überzeugen, dass Spanien ein fremdes, feindseliges Regime darstellt.
Merkel wird das im Nachhinein alles bedauern. So wie sie wohl bedauert, dass sie eine Million Flüchtlinge einfach so aufgenommen hat und Deutschland mutwillig unsicher, ärmer und zerstrittener gemacht hat, genauso wie sie bedauert, dass ihre CDU zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ernsthaft von Konservativen bedrängt wird und auf lange Sicht ihre Mehrheitsfähigkeit eingebüsst hat, genauso wie sie auch bedauert, dass Grossbritannien die EU verlassen wird, was an erster Stelle die deutsche Bundeskanzlerin bewirkt hat, weil sie wie Rajoy auf Paragrafen herumgeritten ist, statt wie eine kluge Politikerin zu handeln.
Irrational, aggressiv und stur
Die Engländer, genauer: deren Premier David Cameron, hätten von der EU, also von Merkel, bloss einiger Konzessionen bedurft in Sachen Immigration, ein paar Paragrafen hätte man übersehen oder biegen müssen, damit England den Zustrom von Einwandern hätte besser steuern können – und es wäre nie zum Brexit gekommen.
Auch wird Merkel hinterher bedauern, dass die Verhandlungen, die jetzt über den Brexit stattfinden, von Seiten der EU so irrational aggressiv und stur geführt werden, als ob Rajoy damit betraut wäre – mit dem wahrscheinlichen Ergebnis, dass die Beziehungen zwischen Grossbritannien und der EU auf Dauer so gestört bleiben, dass wir alle hier in Europa Schaden nehmen.
Die Briten haben Europa drei Mal mit dem Blut ihrer jungen Männer und Frauen vor dem Untergang gerettet: Sicher hätten sie eine viel, viel bessere Behandlung verdient. Doch das alles erinnert an den Umgang der EU mit der Schweiz: wer, wie auch wir, alle Regeln ernst nimmt und höflich bleibt, wird von der EU kujoniert und misshandelt – wer dagegen auf die Regeln pfeift und macht, was er will und dabei sich noch von den Deutschen alles bezahlen lässt, weil diese aus schlechtem Gewissen ohnehin alles bezahlen, was man von ihnen verlangt, dem gibt man nach.
Seit Jahren signalisieren wir Schweizer der EU, dass die Personenfreizügigkeit unser spezielles, da vielsprachiges und kleines Land überfordert, dass wir andere Regeln bräuchten oder etwas Nachsicht, ohne Erfolg, ohne Ergebnis, stattdessen werden Volksabstimmungen ignoriert, unsere Diplomaten ausgelacht (was diese sich gerne gefallen lassen), Ressentiments gegen uns angebliche Rosinenpicker gehegt und gepflegt (wobei wir im Gegensatz zu den meisten EU-Ländern für diese sauren Rosinen teuer und pünktlich bezahlen); kurz, es herrscht der Geist von Rajoy und Merkel in Brüssel, die indessen nicht aus Stärke oder Raffinesse so selbstgerecht auf Paragrafen thronen, sondern aus Schwäche und Ratlosigkeit.
Verantwortung für das Desaster wird Merkel nie übernehmen
Wenn es Merkel nämlich passt, weil sie ans Ende des Aussitzens gelangt ist, dann gelten für sie keine Regeln. Als sie eine Million Einwanderer über Nacht nach Deutschland einreisen liess, ohne ihr Kabinett, die EU oder sonst jemanden zu fragen, sprengte sie kurzerhand das Schengen- und Dublin-Abkommen in die Luft – mit Folgen, von denen sich Europa vielleicht nie mehr erholt.
Das alles wird Merkel bedauern. Aber Verantwortung wird sie nie dafür übernehmen.
Als Griechenland faktisch bankrott war, setzte Merkel zahllose Regeln ausser Kraft, auf die man sich einst geeinigt hatte, um den Euro zu einer tauglichen Währung zu machen. Mit anderen Worten: Merkel oder die EU beugen die Regeln, wann immer es ihnen kommod erscheint, und die gleichen Politiker und Funktionäre machen uns, oder den Briten oder den Katalanen dann Vorhaltungen, wenn wir schon nur darüber verhandeln möchten, die Regel zu ändern.
Das alles wird Merkel bedauern. Aber Verantwortung wird sie nie dafür übernehmen. Denn sie hat ja gar nichts getan – dürfte sie sagen, während sie traurig auf die Ruinenlandschaften blickt, die sie den Europäern hinterlassen hat. Sie hat ja gar nichts getan. Da hat sie allerdings recht. (Basler Zeitung)
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler-Zeitung.