Annette Heinisch / 07.12.2022 / 06:15 / Foto: achgut.com / 72 / Seite ausdrucken

Kapitulation des Verfassungsgerichts?

Durfte Deutschland der EU die Aufnahme von 807 Milliarden Euro Gemeinschaftsschulden und damit letztlich den direkten Zugriff auf deutsches Steuergeld erlauben? Die Verfassungsrichter haben dies der Regierung mehrheitlich zugestanden, allerdings nicht alle.

Mit sehr klaren Worten, die er anschließend näher ausführt, kritisiert der Richter am Bundesverfassungsgericht Peter Müller, ehemaliger Ministerpräsident des Saarlandes, in seinem Sondervotum die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum sogenannten Eigenmittel-Ratifizierungsgesetz

„Den Vorhang zu und alle Fragen offen“ mag eine häufig zitierte, bühnentaugliche Maxime sein. Dennoch scheint sie mir zum effektiven Schutz des grundrechtsgleichen Rechts auf Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht geeignet. Trotzdem lässt die Senatsmehrheit in ihrer Entscheidung nahezu alle relevanten unionsrechtlichen Fragen unbeantwortet, verweigert den Dialog der europäischen Verfassungsgerichte, nimmt eine Verletzung der Integrationsverantwortung in Kauf und deutet einen Rückzug des Senats aus der materiellen Ultra-vires-Kontrolle an. Daher sehe ich mich zu meinem Bedauern außerstande, diese Entscheidung mitzutragen.

Die Senatsmehrheit selbst listet zahlreiche Bedenken gegen die Kompetenz der Europäischen Union zur Schuldenaufnahme gemäß Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Buchstabe a Eigenmittelbeschluss 2020 auf. Dennoch verzichtet sie auf eine eigenständige Bewertung des Vorliegens eines Kompetenzverstoßes (1.). Angesichts der von der Senatsmehrheit selbst ausgeführten, schwerwiegenden Zweifel an der Primärrechtskonformität des Eigenmittelbeschlusses 2020 hätte es vorliegend zumindest einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union bedurft (2.). Der (im Ergebnis untaugliche) Versuch, Grenzen für künftige Kreditaufnahmen der Union aufzuzeigen, ändert nichts daran, dass die Senatsmehrheit den Einstieg in eine dauerhafte und grundlegende Veränderung der europäischen Finanzarchitektur ohne die erforderliche primärrechtliche Grundlage hinnimmt (3.). Damit wird die Entscheidung den Anforderungen an eine effektive Ultra-vires-Kontrolle im Rahmen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht gerecht (4.). Über den konkreten Einzelfall hinaus begründet die Vorgehensweise der Senatsmehrheit die Gefahr einer substantiellen Entleerung der unionsrechtlichen Kompetenzkontrolle (5.).

Beim sogenannten Eigenmittel-Ratifizierungsgesetz geht es um die rund 807 Milliarden Euro Schulden, welche die EU zur Bewältigung der Covid-19-Folgen an den Kapitalmärkten aufnimmt. Die größten Beträge gehen davon nach Italien und Spanien, im Rahmen des sogenannten „Next Generation EU“ sollen die Gelder für Wasserstoff-Forschung, klimafreundliche Mobilität und ein digitaleres Bildungssystem eingesetzt werden. Laut Bundesrechnungshof ist Deutschland mit 65 Milliarden Euro – möglicherweise mehr –  größter Nettozahler.

Die Beschwerdeführer hatten geltend gemacht, dass dieses Programm keine Grundlage in den europäischen Verträgen hätte und eine unabsehbare Schuldenlast auf Deutschland zukäme.

Nachdem das BVerfG zunächst die Unterschrift des Bundespräsidenten unter diesem Gesetz verhindert hatte, wurden die Eilanträge gegen das Gesetz dann doch abgelehnt. Die Folgenabwägung habe ergeben, dass die Folgen des Aufhaltens des Gesetzes schwerer wögen als die Folgen des Inkrafttretens. Bereits an dieser Stelle waren die Würfel gefallen, denn zumeist wird bei einer Folgenabwägung in die Überlegung mit einbezogen, ob ein nicht wiedergutzumachender Schaden eintreten wird. Dies war hier der Fall, nach der Kreditaufnahme war das Kind in den Brunnen gefallen.

Eine „carte blanche“ für die Politik

Nun musste das BVerfG die Erklärung nachschieben. In seiner Entscheidung hat es sehr viele kritische Punkte angesprochen, welche die Verfassungsbeschwerden zulässig und substantiiert machten, in den weiteren Ausführungen aber der Politik praktisch eine „carte blanche“ ausgestellt. Nur dann, wenn Deutschland durch Kreditaufnahmen praktisch handlungsunfähig sei, würde eine Schuldenaufnahme der EU das Haushaltsrecht des Bundestages zu weit einschränken. Im Originalton heißt das so:

Das Recht auf demokratische Selbstbestimmung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 79 Abs. 3 GG vermittelt den Bürgern nicht nur Schutz vor einer substantiellen Erosion der Gestaltungsmacht des Deutschen Bundestages, sondern auch ein Recht darauf, dass Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union nur die Zuständigkeiten ausüben, die ihnen nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 1 GG übertragen worden sind….Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 79 Abs. 3 GG schützt insoweit auch vor einer eigenmächtigen Inanspruchnahme hoheitlicher Befugnisse durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union.(…) Nehmen diese Aufgaben und Befugnisse in Anspruch, die ihnen das im Zustimmungsgesetz niedergelegte Integrationsprogramm nicht überträgt, so verletzen sie damit den durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kern der Volkssouveränität.

….

Ob und inwieweit sich unmittelbar aus dem Demokratieprinzip eine justiziable quantitative Begrenzung der Übernahme von Zahlungsverpflichtungen oder Haftungszusagen herleiten lässt, hat der Senat bislang nicht entschieden. Insoweit kann es jedenfalls lediglich auf eine evidente Überschreitung von äußersten Grenzen ankommen. Eine unmittelbar aus dem Demokratieprinzip folgende Obergrenze könnte allenfalls überschritten sein, wenn sich die Zahlungsverpflichtungen und Haftungszusagen im Eintrittsfall so auswirkten, dass die Haushaltsautonomie für einen nennenswerten Zeitraum nicht nur eingeschränkt würde, sondern praktisch vollständig leerliefe.“

Das wiederum hat nach den Ausführungen des Gerichts in erster Linie der Gesetzgeber zu entscheiden, der über einen „weiten Entscheidungsspielraum“ verfüge, welchen das BVerfG zu beachten habe. Grundsätzlich verfügten die Organe über einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum; vorhandene Risiken müssen sie erwägen und politisch verantworten. Ultra-vires- und Identitätskontrollen, mit welcher das BVerfG prüft, ob die Organe außerhalb ihres Kompetenzbereichs agieren, seien zurückhaltend und europarechtsfreundlich vorzunehmen, so das Gericht.

So mancher wird sich fragen, wozu man das BVerfG eigentlich noch braucht, denn es erscheint vielen nur noch als verlängerter Arm der Politik, nicht aber als die begrenzende Kontrolle, die es eigentlich sein sollte. Statt politische Macht zu begrenzen, verlagert es die Verantwortung für die Entscheidung auf die Organe zurück, die rechtliche Überprüfung lässt der politischen Verantwortung den Vortritt. Man könnte es eine Kapitulation nennen – der Richter am BVerfG Müller würde dem sicherlich zustimmen.

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Karl-Heinz Boehnke / 07.12.2022

Das Argument, die Untersagung der Beteiligung bedeute größeren Schaden als die Genehmigung, ist Unsinn und scheint vorgeschoben, da ja wohl klar ist, daß es dann bei einer ersten Tranche der über 800 Mrd nicht bleiben wird, weil “kleiner Finger > ganze Hand”. Natürlich ist auch hier das Ende mit Schrecken besser als der Schrecken ohne Ende. Daraus folgt, daß mit der Gabe der eigenen Zuständigkeit zurück an die Regierung die Auflösung des BVGs seitens seiner selbst beschlossen ist, was in den Urteilen auch zu Covid19 schon zum Tragen kam. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Marsch durch die Instanzen mit der hemmungslosen Befolgung der Zerstörungakte der Nachwiedervereinigungszeit erst bei Richter Müller geendet hat. Es muß noch eine andere, panisch gefürchtete Kraft dahinterstecken, das Hab und Gut Europas mittels Investitionen in schädliche Spritzen, ruinöse Energiewendeerzeugnisse und abgeschriebenen Militärschrott in großen Mengen schlagartig ins Ausland zu schaffen, begleitet mit vernichtender Sabotage. So uninformiert und belogen muß ich fragen: Was droht?

Thomas Brox / 07.12.2022

Was will man denn von dem BVerfG (Bundesbeamtengericht) erwarten? Von 16 Richtern sind 15 Beamte mit hoher Besoldungsstufe und millionenschweren Pensionsansprüchen. Die fetten, leistungslosen Privilegien hängen davon ab, dass der parasitäre EU/deutsche Beamtenfeudalismus weiter läuft wie bisher. Das System beginnt beim EU-Behördenapparat (z.B. EU-Kommission, EuGH, EZB, ... ) und endet in den lokalen nationalen Behörden. ++ Erstaunlich ist die jämmerliche Feigheit derjenigen Bürger, die diesen Schmarotzerstaat mit ihrer wertschöpfenden Arbeit per Zwang unterhalten müssen. Der Abstieg wird sich beschleunigen. Millionen und Abermillionen unproduktiver Staats- und Asozialschmarotzer kann man nicht wegzaubern. ++ Hier zwei hervorragende und mutige Kommentare im aktuellen “Westfernsehen”, siehe [NZZ: Deutschland wird seit einem Jahr eher schlecht als recht von der «Ampel» regiert]: (1) “Ein sehr guter Beitrag zum Deutschen Wintermärchen. Es fehlt noch das leidige Thema der Beamtenalimentation die langsam aber sicher apokalyptische Ausmasse annimmt. Von der Politik wie das Migrationsthema ausgeblendet wird. Der neue Bürgermeister soll nach diversen Publikationen den Beamten die Bezüge und Pensionen steigern. Wie ist mir ein Rätsel aber durchaus möglich. Diese Gattung schöpft uns alle bis zum geht nicht mehr.” (2) Darauf die passende Antwort: “Sehr richtig. Man sollte das Beamtentum weitgehend abschaffen und die Zahl dieser Stellen inkl. des ÖD-Stellen um mindestens den Faktor 3 verringern. Rückwirkend müssten auch die Luxuspensionen auf das Normalmaß reduziert werden, analog zu den Angestelltenrenten.”

Florian Hauser / 07.12.2022

Dieses Verfassungsgericht kommt seinen Aufgaben nicht nach und sollte komplett aufgelöst werden. Es ist ein zahn- und willenloser Wurmfortsatz des Parteienstaats. Egal ob Klima, Corona oder EU, dieses Gericht unter seinem unappetitlichen Merkelzögling geht immer opportunistisch den Weg des scheinbar geringsten Widerstands. Kann weg!

heinrich hein / 07.12.2022

Das BVerfG war einst eine Institution. Ich kenne mittlerweile aber keinen einzigen Juristen mehr, der noch irgendetwas von dieser Einrichtung halten würde. Können wir genauso gut sofort abschaffen. Dank Herrn Harbarth. Zumindest wird er Erwähnung in den Geschichtsbüchern finden.

Gert Köppe / 07.12.2022

Inzwischen genießt eine Stubenfliege bei mir mehr Ansehen als das BVG.

Jochen Lindt / 07.12.2022

Im Grunde ist es egal, ob wir den Staatsetat an den Club Méditerranée verschenken, oder an die 5 Millionen Orks, die hier seid 2015 über die Grenze gestürmt sind.  Weg ist weg.

Gerhard Schweickhardt / 07.12.2022

Es ist furchtbar, dass das BverG das GG unter die politischen Ansprüche der ever closer unit stellt. Nach meinem Empfinden ist das Verfassungsbruch. Auch die Finanzierung eines Unternehmens aus der Medien-Branche wird der Selbst-Automie untergeordnet. Wir sind dem kommenden Grünen Reich ausgeliefert. Gegen Milliarden haben wir keine Change.

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