Hätte man den Merz-Scholz-Auftritt gleich anders genannt, müssten heute nicht so viele Kollegen über diese Plauderstunde berichten, als wäre es ein Wahlkampf-Duell gewesen.
Ich gebe zu, ich habe lange überlegt, wie man dieses Gespräch zutreffend beschreiben könnte, das da gestern Abend als ein Höhepunkt des Wahlkampfs angekündigt wurde. Eines war es ganz gewiss nicht: ein Duell. Es muss in der Tat heutzutage bei dieser Zuschreibung nicht mehr um Ehre, Leben und Tod gehen, aber eine richtige Auseinandersetzung sollte dem Zuschauer einer Sendung unter diesem Etikett schon geboten werden.
Aber was war es nun? Ein Alt-Neu-Kanzler-Kuscheln nach einer von zwei Mediendamen betreuten Sprechblasen-Kissenschlacht? Ein Stuhlkreis zu zweit unter Anleitung von Fernseh-Gouvernanten? Nein, das klingt zwar originell, trifft es aber nicht. Es gab durchaus Dissonanzen, die wirkten aber nur halbherzig vorgetragen, wie zu einer Schultheater-Aufführung. Dabei war aber bemerkenswert, dass Scholz es geschafft hat, wenigstens seine Betriebstemperatur beim Vortrag der gewohnten Sprechblasen etwas zu steigern, während Merz die seine wiederum ausbremste. Dadurch haben sie sich im Auftritt so weit angenähert, dass die Zuschauer diese schläfrige Atmosphäre des ermüdenden Gleichklangs umhüllte.
Ich habe die Kollegen nicht beneidet, die heute Morgen über das Scholz-Merz-Gespräch lange Duell-Berichte verfassen mussten, die selbstverständlich unterhaltsamer und spannender werden sollten als die Sache selbst, um keine Leser, Hörer oder Zuschauer zu vergrämen. Zum Glück durfte ich mir bis heute Mittag Zeit lassen. Man kann auch über die Reaktionen schreiben, verständigten wir uns in der Redaktion.
Also habe ich nun viele gute Kommentare gehört, gelesen und gesehen, die erstens allesamt interessanter waren als das Gespräch selbst und zweitens bei mir oft die Frage aufkommen ließen, ob die Kommentatoren etwas anderes gesehen hatten als ich. Können so viele Medienschaffende irren oder befinde ich mich auf der Geisterfahrerspur? So bin ich – statt an der Analyse der Reaktionen – an der Frage hängengeblieben, was war das nun, was wir da alle gesehen haben?
Wie Kleinkinder beim Türmchen-Bauen
Der Kanzler und sein potenzieller Nachfolger waren freundlich und höflich zueinander, selbst beim Vorwurf des Tabubruchs. Das könnte man zivilisiert nennen, wenn trotzdem eine ernsthafte Auseinandersetzung geführt worden wäre. Aber sie spielten mit ihren gewohnten Textbausteinen wie Kleinkinder beim Türmchen-Bauen. Alles war vollkommen erwartbar. Sie überraschten mit nichts. Und ernstlich wehtun wollten sie sich natürlich auch nicht, denn sie brauchen sich ja ab 24. Februar.
Natürlich sah das Textbaustein-Türmchen von Fritz und Olaf nach Meinungsgegensätzen aus. Der amtierende Kanzler spazierte durch sein inzwischen sattsam bekanntes Wolkenkuckucksheim, in dem es keine Deindustrialisierung gibt und seine versprochenen staatlichen Förder-Pläne zum neuen Aufschwung führen werden. Zudem kommt da noch der wundersame Aufstieg der SPD in den nächsten Tagen, der Olaf Scholz wieder ins Kanzleramt tragen wird. Da konnte Friedrich Merz ganz leicht seine Textbausteine aus dramatischen realen Wirtschaftsdaten draufsetzen. Ähnlich lief das Spiel auf anderen Themenfeldern auch. Mit kleinen regelbestätigenden Ausnahmen, die wohl dem Versuch geschuldet waren, den Auftritt ein bisschen nach einem Duell aussehen zu lassen.
Und bei der Migration kam man natürlich nicht umhin, gemeinsam die AfD zu verurteilen und in einen Bekenntniswettstreit zur Brandmauer zu treten. Klarheit gewann der Zuschauer nicht bei der Frage, ob Friedrich Merz nun hatte an der Brandmauer kratzen wollen und zurückgepfiffen wurde oder ob er sich von vornherein nur als der Mann inszenieren wollte, der – entgegen der Merkel-Linie – endlich die Begrenzung der illegalen Einwanderung in die Sozialsysteme angeht.
Aber eines machte sein Auftritt klar: Hier sprach der künftige Kanzler nicht nur mit dem Amtsinhaber, gegen den er antritt, sondern auch mit seinem künftigen Koalitionspartner. Und jeder, der versucht war, wegen richtiger Inhalte in Merzens versprochenem Sofortprogramm CDU zu wählen, erfuhr einmal mehr, dass der Friedrich nicht bereit ist, zu deren Umsetzung jene Mehrheit zu nutzen, die es auch im nächsten Bundestag dafür geben dürfte. Wichtiger als jede Problemlösung ist dem CDU-Kanzlerkandidaten erklärtermaßen die Ausgrenzung der AfD. Er versprach damit de facto, wie schon auf dem Parteitag, dass es keine Mehrheitsbeschlüsse gegen rotgrün geben werde. Das bedeutet im Klartext: Auch unter einem Kanzler Merz und einem Vizekanzler Scholz bleibt es beim Weiterwursteln, vielleicht mit etwas gedrosseltem ideologischen Anspruch und ein wenig mehr Anschein nüchterner Vernunft unter Verzicht auf den nötigen Kurswechsel. Doch halt! Olaf Scholz hat doch versprochen, er werde kein Minister unter Friedrich Merz. Ja, aber das hat er vielleicht wieder vergessen.
Welches Versprechen soll er nun brechen?
Merz kann schließlich auch nicht alle Versprechen halten. Entweder bricht er sein Sofortprogramm-Versprechen oder sein Brandmauer-Versprechen. Oder – um es höflicher auszudrücken – modifiziert es etwas. Er könnte natürlich dabei bleiben, nicht mit der AfD zu koalieren, aber gegen seine Zusicherung verstoßen, eine Minderheitsregierung zu bilden, die sich auch Mehrheiten mit der AfD sucht. Wahrscheinlicher ist aber eine Koalition mit der SPD oder – wenns nicht reicht – mit Rotgrün. So sah es gestern Abend jedenfalls aus. Wie ein nettes Koalitionsgespräch oder besser noch, die Amtsübergabe. Denn Merz’ Auftritt erinnerte mehr an den eines amtierenden Bundeskanzlers als den des tatsächlich noch amtierenden Bundeskanzlers.
Bei so wenig wirklichem Wettstreit in diesem Textbausteinkasten-Spiel ist es schon beeindruckend, dass es manchen Beobachtern gelungen ist, einen Sieger in diesem Duell auszumachen. Zumindest habe ich in einer Meldung gelesen, Olaf Scholz würde laut einer anschließenden Befragung leicht in Führung liegen. Bei vielen anderen Kommentatoren fand ich den Hinweis, es hätte ein Unentschieden gegeben.
Das sogenannte Duell war ja gestern nicht das einzige TV-Ereignis. Auf RTL lief zeitgleich das Dschungelcamp, das eine Rekordquote vermeldete. Zwar hatten Fritz und Olaf, die auf mehreren Staatsvertrags-Fernsehkanälen gleichzeitig liefen, eine höhere Quote, doch dem Dschungelcamp konnten sie offenbar keine Zuschauer abspenstig machen. Wahrscheinlich hat sich diese Beharrlichkeit für die Dschungelcamp-Zuschauer ausgezahlt. Bei ungefähr gleichem inhaltlichen Tiefgang hätten sie an Unterhaltungswert eingebüßt.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.