Thilo Sarrazin / 18.11.2024 / 06:15 / Foto: Achgut.com / 59 / Seite ausdrucken

Kann das Schweizer Modell ein Exportartikel sein?

In keinem Land der Welt gehören Volksabstimmungen so zur politischen Routine wie in der Schweiz. Sogar über den Bau von Minaretten durfte das Wahlvolk entscheiden. Es stimmte dagegen. Das Verfahren hat Vor- und Nachteile. Auf andere Länder übertragen lässt es sich nicht.

Ein Kennzeichen der Schweizer Demokratie ist ihre Vielstimmigkeit. Unter den Bürgern ihrer Nachbarländer dürfte es nur wenige geben, die auch nur einen einzigen Schweizer Politiker namentlich benennen können. Die Schweiz wird eher kollektiv regiert, darum dauert vieles länger. Manche Chancen mögen so entgehen, aber auch viele Fehler können mangels Gelegenheit nicht gemacht werden. Durch das System der Volksabstimmungen gibt es zudem immer wieder die Gelegenheit, quasi basisdemokratisch den Regierenden Grenzen aufzuzeigen. Als Folge erscheint manches unlogisch oder auch absurd, z.B. das Schweizer Minarettverbot, aber es ist eben trotzdem wirksam. So stabilisiert sich das Schweizer politische System in einer manchmal kruden Mischung aus Fortschrittswillen und Beharrungsvermögen.

Kann das Schweizer Modell ein Exportartikel sein? Ich glaube das eher nicht, weil man es nicht von seinen Bedingungen lösen kann. Den größten Vorbildcharakter hat für mich die Möglichkeit zu Volksabstimmungen bei wichtigen Grundsatzfragen. Mit der Möglichkeit zu einer Volksabstimmung hätte es in Deutschland weder die Aufgabe der D-Mark zugunsten des Euro, noch den Ausstieg aus der Kernkraft noch die Grenzöffnung 2015 für die asylbedingte Masseneinwanderung gegeben. 

Adenauer war der Volkswille egal

Aber wäre es mit Volksabstimmungen in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts zur bedingungslosen Westintegration, zum NATO-Beitritt und zur Gründung der EWG gekommen? Das war nur dem rastlosen Einsatz Konrad Adenauers zu verdanken, der eine übermächtige Führungsfigur war. Adenauer war sicherlich ein überzeugter Demokrat, aber der Volkswille war ihm ziemlich egal. Er wollte das durchsetzen, was er für richtig hielt, und das hat er auch geschafft. Ähnlich hielten es später – je bei ihren Themen – Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel. Die von der letzteren durchgesetzten Richtungsentscheidungen werden allerdings die deutsche Zukunft auf Jahrzehnte negativ prägen, so wie sie durch Adenauers Grundsatzentscheidungen positiv geprägt wurde.

Das politische System der Schweiz ist nicht denkbar ohne den Grundsatz der Neutralität. Diese wiederum ist nicht denkbar ohne die Schweizer Geographie, die die Unauffälligkeit im Windschatten des Weltgeschehens begünstigt. Natürlich hätten die Habsburgischen Kaiser schon im Mittelalter die widerspenstigen Eidgenossen dauerhaft niederwerfen können. Aber im Verhältnis zum Gewinn der böhmischen und ungarischen Königskrone war ihnen die Herrschaft über Bern und Zürich einfach nicht wichtig genug. Im ewigen Kampf mit Frankreich wälzten sich die großen Heereszüge durch die burgundische Pforte oder über die Ebenen Flanderns. Niemand nahm den Umweg über das Schweizer Juragebirge, und so blieb die Schweiz bis auf die kurze Zeit der helvetischen Republik von europäischen Wirren weitgehend verschont.

Nett zu jedem, Geschäfte mit allen

Für Deutschland gab es nie die Wahl, sich in der Außenpolitik neutral zu verhalten. Das ließ im frühen 19. Jahrhundert Napoleon nicht zu. Europa konnte erst gedeihen, als er durch eine gesamteuropäische Koalition besiegt war. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs beging Deutschland den Fehler, sich den falschen Verbündeten zu suchen, nämlich Österreich-Ungarn statt Großbritannien. Das führte zur Niederlage von 1918, zur Nationalsozialistischen Machtergreifung und den Schrecken des Zweiten Weltkriegs mitsamt der ewigen Befleckung deutschen Ansehens durch den Judenmord. 

Insbesondere das Letztere hat bei den Deutschen die Tendenz verstärkt, sich vor der Geschichte kleinzumachen und am besten ganz aus ihr wegzutauchen. Unter Ausklammerung der Gnome aus Zürich möchten viele aus Deutschland eine Schweiz im Geiste machen: Nett zu jedem, Geschäfte mit allen und – als spezifisch deutsche Zugabe – eine untadelige Friedensmoral. AfD und BSW ziehen ihre gegenwärtige Stärke nicht nur aus ihrer migrationskritischen Haltung, sondern vor allem aus der Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine. Deutschland kann sich aber nicht wegducken nach dem Vorbild der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Dazu ist es zu groß und liegt zu zentral. Mit deutschen Waffenlieferungen wird die Ukraine den Krieg gegen Russland vielleicht verlieren, ohne diese Unterstützung wird sie ihn bestimmt verlieren – und was geschieht dann in Ost- und Mitteleuropa?

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

 

Dr. Thilo Sarrazin, geb.1945 in Gera, aufgewachsen in Recklinghausen. Er studierte Volkswirtschaftslehre in Bonn. Er bekleidete zahlreiche politische Ämter und war unter anderem von 2002 bis 2009 Senator für Finanzen im Land Berlin. Sein im August 2010 erschienenes Buch „Deutschland schafft sich ab“ löste eine anhaltende Diskussion aus und wurde zum meistverkauften deutschen Sachbuch seit 1945.

Foto: Achgut.com

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Gordon Shumway Tanner / 18.11.2024

Das Problem ist die Illusion „mehr Mitbestimmung = bessere Entscheidungen = meine Meinung setzt sich durch“. Nach Volksabstimmungen rufen daher fast nur Opposition und Aktivisten. „Mehr direkte Demokratie“ meint dann eigentlich „Volksaufstand gegen die Regierung“. Klügere Entscheidungen sind nicht zu erwarten: In Berlin votierten 2021 bei einem Volksentscheid 59 % der gültigen Stimmen für die ökonomisch absurde und verfassungswidrige „Enteignung großer Wohnungsbaugesellschaften“ – mit freundlicher Unterstützung von Linken, Grünen und Gewerkschaften. Und wie bei 76 % Impfquote damals wohl eine Volksabstimmung über die Impf-Pflicht ausgegangen wäre? Große Teile der über 60 Mio. Wahlpflichtigen haben kein Interesse an Politik, keine Zeit oder keine Entscheidungskompetenz in den abzustimmenden Fragen. In Zeiten von „Information Warfare“, Internet-Zensur und dem Kampf gegen staatsgefährdende Memes würden die Wähldienstleistenden wohl von ARD und ZDF gebrieft – oder von einer noch zu gründenden Nationalen Volksabstimmungs-Agentur (NVA) als Selbstschutzanlage für Erst- und Letztwähler, um die Einordnung der Argumente, korrekte Abstimmungsergebnisse sowie den Fortbestand des antifaschistischen Brandwalls auch bei Plebisziten sicherzustellen?

L. Luhmann / 18.11.2024

Ein Minarettverbot ist eine dufte Sache, weil es überlebenswichtig sein wird. Und mindestens 1 Milliarde Muselmanen finden den Judenmord supergut. Die Muselmanen sind die, die mit Feuer und Schwert zu uns kamen, kommen und noch kommen werden. Der Jihad wurde nicht von Karl May erfunden - er ist allerbitterste Realität und wird vermutlich bis zum Ende der Menschheit andauern.

Lutz Liebezeit / 18.11.2024

Volksabstimmungen sollten wir nicht machen, weil dann die Selbstgerechten siegen und man dann auch darüber abstimmen könnte, ob die “Nazis” verfolgt und interniert werden sollten. In der Schweiz hat die Hexenverfolgung besonders lange gedauert, weil man da seinen Populisten direkt wählen konnte. Zudem werden die Ausländer im Kontingent eingebürgert. Stimmen die offiziellen Zahlen? Ganz gewiß nicht. Und die interessieren sich für unsere Probleme und die üble Hetze gar nicht. Für die ist die ein Willkommensgruß.

Lutz Liebezeit / 18.11.2024

„Nimm das Recht weg - was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?” Augustinus / Über ein Referendum hätten wir vor 40 Jahren diskutieren können, um über das Schengener Abkommen abzustimmen. Und vor 34 Jahren über den Maastricht Vertrag. Aber TROTZ einer Volksabstimmung wären beide Verträge nicht legal ratifizierbar gewesen, weil über ein Land abgstimmt worden wäre, welches unveräußerlich ist. Schließlich lebt man hier nicht alleine, sondern mit anderen. Diejenigen, welche mit Nein gestimmt hätten, wären damit ENTEIGNET worden. Man kann es unschöner formulieren, sie wären beraubt worden. Was sie jetzt natürlich auch sind. Deutschland war damals rechtspolitisch KEIN Einwanderungsland. Das haben auch Schröder und Fischer während der ersten rotgrünen Katastrophenzeit zur Kenntnis gebracht. Das Einwanderungsland haben uns Rotgrüne genau wie Schengen und Maastricht mit der VISA-Affäre abgetrotzt. “Hätten wir die Detuschen gefragt, hätte es keinen Euro gegeben.” Theo Waigel; das ist die Methode kriminelle Bande. Die VISA-Affäre ist von der CDU nachsichtig beurteilt worden, weil Merkels Grenzöffnung mit Sicherheit schon in der Pipeline lag. Demokratie braucht integere Persönlichkeiten. Ansonsten degeneriert sie zum Verbrecherstaat. / “Jede gewaltsame Reform verdient getadelt zu werden, weil sie das Übel nicht bessern wird, solange die Menschen so bleiben, wie sie sind, und weil die Weisheit Gewalt verschmäht. ” Leo Tolstoi

sybille eden / 18.11.2024

Eine deutsche Volksabstimmung wäre der Supergau. Nach meiner Auffassung würde dieses Volk den grünen Sozialismus wählen, so wie sie es jetzt ja auch schon tuen. Denn das Kartell aus CDUCSUSPDFDPGRÜNEROTE sind allesamt sozialistisch.

Marc Munich / 18.11.2024

@T. Schneegaß  ” Die Masse der Deutschen lässt sich impfen, um danach auf Impfschäden zu klagen. Die Masse der Deutschen hat von den Grünen genug und wählt deshalb CDU/SPD. Die Masse der Deutschen ist für Frieden und wählt die fanatischsten Kriegstreiber….”  ***** Dies Phänomen kognitiver Dissonanz, sich - selbst als hochintelligenter Mensch -  selbst zu belügen, nicht zum eigenen Vorteil willen, sondern zu fremdem Vorteil, hat wohl schon Napolen bei den Deutschen erkannt.  “Es gibt kein gutmütigeres, aber auch kein leichtgläubigeres Volk als das deutsche. Keine Lüge kann grob genug ersonnen werden, die Deutschen glauben sie. Um eine Parole, die man ihnen gab, verfolgen sie ihre Landsleute mit größerer Erbitterung als ihre wirklichen Feinde”. *****  Und auch das Wort eines kurz vor der Hinrichtung im KZ stehenden D. Bonhoeffers, kann seit Im Erikas Willkommensputsch;  Klima Klima über alles,  CC (Causa Corona) und schließlich Kriegserklärung an Russland (Part III),  mittlerweile kalt serviert werden:  “Dummheit ist der viel gefährlichere Feind des Guten als die Bosheit ****

Rainer Küper / 18.11.2024

Deutschland könnte mit einer Mini-Direkt-Demokratie beginnen: 1. Direktwahl des Bundespräsidenten durch das Stimmbürger. 2. Direktwahl des Bundeskanzlers durch die Stimmbürger.  Der Bundeskanzler müsste dann, ähnlich wie Macron in Frankreich und Trump in den USA, mit dem Parlament zurechtkommen, das ihm die Stimmbürger beschwert haben. 3. Gewaltenteilung herstellen: Wer ein Regierungsamt hat (Exekutive) darf kein Abgeordnetenmandat (Legislative) wahrnehmen. Beispiel 1: Scholz, Baerbock, Wissing, Hubertus Heil, Habeck, Lauterbach etc. sind gleichzeitig Exekutive (Regierung) und Legislative (Abgeordnete). Sie stimmen im Bundestag über die Gesetzvorlagen ab, die sie als Regierung in den Bundestag gebracht haben. Beispiel 2: Parlamentarische Staatssekretäre und Staatsminister: Z. B. sind Claudia Roth und alle fast 40 Parl. Staatssekretäre gleichzeitig Mitglieder der Regierung (Exekutive) und Bundestagsabgeordnete (Legislative), Diese “verschränkte Gewaltenteilung” gibt es in keiner Demokratie weltweit. Nur in der Bundesrepublik gibt es sie. 4. Amtszeitbegrenzung des Bundeskanzlers. Es gibt weitere Punkte, die Demokratie in Deutschland zugunsten des Souveräns zu verbessern. Man könnte jedoch mit 1. bis 4. anfangen. Dazu wären nur wenige Änderungen und Ergänzungen im Grundgesetz erforderlich. Die AfD ist seit Veröffentlichung des Grundsatzprogrammes 2016 dafür. Geben wir ihr die Chance.

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