Gastautor / 30.04.2021 / 14:30 / Foto: Cornischong / 14 / Seite ausdrucken

Kampf mit geschlossenem Visier

Von Gero Ambrosius.

Der Ton wird schärfer. Die Angriffe fieser. Ein falsches Wort, und es drohen Ausgrenzung und öffentliche Stigmatisierung. Es wird nicht mehr diskutiert, es wird sortiert. „Cancel Culture“, der Verstoß aus dem Rudel – für soziale Wesen wie den Menschen eine Extremstrafe. Über Millionen Jahre praktisch ein Todesurteil, ist die Angst davor immer noch dieselbe. Nur klägliche 18 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind der Ansicht, man könne seine Meinung ohne Einschränkungen frei äußern. Ein vernichtendes Urteil für eine Demokratie, die von freiem Meinungsaustausch lebt. Massenhaft halten die Menschen ihre Meinungen zurück.

Die Wächter der Politischen Korrektheit werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass niemandem strafrechtliche Konsequenzen drohen. Nur Widerspruch. Und streng genommen haben sie recht: Man darf seine Meinung frei äußern – niemand landet deshalb vor Gericht. Man kriegt halt was auf die Fresse. Bei Achgut gibt es eine Rubrik (es sollte eine eigene Rubrik sein!) von Kolja Zydatiss mit dem Titel „Ausgestoßene der Woche“. Eine erschreckende Illustration, auf welch zahlreiche Weisen und für welche Kleinigkeiten man von der Cancel-Culture geclasht wird. Konsequenzen im Berufsleben, verlorene Aufträge, Stress mit Vorgesetzten, abgesagte Vertragsverlängerungen … Und das ist freilich nur die Spitze des Eisbergs. Ungezählt sind die Fälle unter dem Radar, von denen die Öffentlichkeit nie erfährt. Und die beendeten Beziehungen, gekündigten Freundschaften, Familiendramen … Aber es gibt wohl noch weitere Gründe, die dem offenen Widerspruch entgegenstehen.

Angst vor Streit

Denn diesen rigiden sozialen Strafen stehen auch kulturell bedingte Harmoniebedürfnisse und Konfliktscheu gegenüber. Wie viele bringen ihren Kindern bei, dass es tugendhaft sei, in Streits nachzugeben, die andere Wange hinzuhalten? Gerade viele „Bildungsbürger“ haben verinnerlicht, sich stets um Kompromisse, Mittelwege, um Ausgleich zu bemühen. Schon Wettbewerb gilt als verdächtig, obwohl unser Wohlstand mit darauf gründet. Toleranz dagegen wird gefeiert, so als sei sie immer positiv, völlig egal, worauf sie sich bezieht. In einer Gesellschaft, die sich mittlerweile konsequent postheroisch nennt, bleibt die Faust gerne mal in der Tasche.

Gemeinsam mit dem Rudel den Nestbeschmutzer mit Dreck bewerfen, ist nicht schwer, aber wenn man sich nicht sicher als Teil der Herde oder gar in der Minderheitenposition fühlt, bleibt man gerne hinter der Deckung. Wie viele wagen kaum, ihren Platz in der Kassenschlange gegen Drängler zu verteidigen? Wie viele wagen dann, das grüne Kollegium beim gemeinsamen Schwärmen über die Vielfalt der Kulturen mit islamkritischen Positionen zu konfrontieren? Man muss wohl konstatieren, dass zur Angst vor Ausgrenzung eine allgemeine Konfliktscheu hinzukommt.

So weit will man ja gar nicht!

Und wenn zwei-, drei- oder zehnmal ein Konflikt vermieden wurde, werden aufgestaute Emotionen womöglich zu einem weiteren Problem. Wut, Zorn, Ohnmachtsgefühle. Dann muss sich ein Gespräch nur einem strittigen Thema nähern und der ganze Organismus reagiert mit Stress, mit erhöhtem Puls, Herzrasen, Kurzatmigkeit. Vermutlich ist auch das ein häufiger Grund fürs Schweigen. Denn tatsächlich kann es dann ziemlich kontraproduktiv werden, seinen Standpunkt zu vertreten. Wenn man womöglich voller Adrenalin, nach Luft ringend, mit zitteriger Stimme in unzusammenhängenden Halbsätzen aufgeregt irgendeinen Unsinn daherstammelt, braucht das Gegenüber nur zu kontern: Siehste!

Und natürlich will keiner für durchgeknallt gehalten werden. Das Gemeine ist ja, dass man sich als Abgestempelter in einem Pool wiederfindet mit echten Extremisten und Verrückten, mit Hooligans, Reichsbürgern, Verschwörungstheoretikern. Jenseits der Linie sind ja nicht nur nette Demokraten, die vorsichtige Einwände gegen das Postulat der tausend Geschlechter geäußert haben. Man würde von den guten Bürgern (die ja trotz ihrer Spleens oft sehr nett sind!) als einer dieser Radikalen wahrgenommen, während man von zwielichtigen Kameraden anerkennende Schulterklopfer bekommt. So weit will man ja gar nicht!

Es gibt also viele gute, menschlich völlig nachvollziehbare Gründe, sich darum zu bemühen, einer Ausgrenzung zu entgehen. Manche sollte man zu überwinden versuchen. Andere muss man vielleicht riskieren. Aber die Gefahren sind real. Doch so verständlich Wegducken auch ist – natürlich kann es keine Lösung sein, der Erpressung nachzugeben! Es steht nicht weniger auf dem Spiel als Meinungsfreiheit und damit Demokratie! Und man kann nicht davon ausgehen, dass die Stimmung sich irgendwann einfach von allein wieder entspannt. Es ist eine Bewegung mit totalitären Zügen, wieso sollte sie nachlassen, wo sie so einen guten Lauf hat? Es kann deshalb nur darum gehen, Wege zu suchen, seine Meinung trotzdem zu äußern.

Kampf mit offenem Visier?

Viele, die sich von „#WokoHaram“ tyrannisiert fühlen, haben sich intensiv mit den umstrittenen Themen beschäftigt. Es ist ja oft erst die Auseinandersetzung mit einem Thema, die zu kritischer Beurteilung führt. Um mit der Herde zu blöken, muss man keine Bücher lesen. Und die hypermoralistischen woken Ideologien sind so voller Logikfehler und fantastischer Konstruktionen, dass es nicht schwer ist, die Widersprüche offenzulegen. Natürlich bleibt es das Effektivste, furchtlos und mit nüchterner Argumentation in die Auseinandersetzung gegen den Tugendterror anzugehen und eine Verwirrung nach der nächsten auseinanderzunehmen. Auch in Form einer Teilnahme an Debatten in sozialen Netzwerken, ebenfalls mit möglichst sauberen Argumenten. Aber es muss gar nicht der heldenhafte Kampf mit offenem Visier sein, es gibt auch weniger gefährliche Mittel.

Denn wenn es um den Schutz beziehungsweise die Rückgewinnung von Meinungsfreiheit geht, dann ist es nicht das Ziel, irgendjemand vom eigenen Standpunkt zu überzeugen. Es muss deshalb nicht das mutige Statement in der Betriebsversammlung sein, in dem man allen ausführlich und dezidiert seine Position darlegt. Man kann auch weit unterhalb eines großen Coming-Outs einen wertvollen Beitrag leisten. Schon ein einzelnes Gegenargument ist Gold wert! Als Frage formuliert, kann man Kritik sogar äußern, ohne sich mit ihr gemein zu machen. (Außerdem müssen die Tugendhaften dann ihren Unsinn erklären und verheddern sich bestimmt in ihren verknoteten Argumentationssträngen!) Auch die vernehmbare Zustimmung zu kritischen Äußerungen anderer ist ein großer Beitrag. Selbst Unmutsäußerungen unterhalb des Verbalen helfen. Schon ein Kopfschütteln, ein vernehmbares Gähnen, ein konsternierter Blick können nützlich sein. Denn es geht allein darum, die Stimmung zu verändern!

Wie viele glauben ernsthaft, dass es Frauen mit Penissen gibt?

Die öffentliche Meinung besteht ja nicht nur aus Tagesschau-Kommentaren, auf die man sowieso keinen Einfluss hat. Sie besteht auch aus dem, was in unzähligen Betriebsversammlungen, Teamsitzungen, auf Familienfesten und in Vereinstreffen gesagt wird – oder nicht gesagt wird. Stärker noch: der Tagesschau-Kommentar ist zu einem Gutteil das Ergebnis der Meinungsbildungsprozesse und Stimmungen auf den vielen Festen und in den Konferenzen, an denen Tagesschaukommentatoren genauso wie deren Freunde und Kollegen und alle anderen auch teilnehmen. Und es scheint doch, dass es bei den woken Verirrungen unserer Zeit oft nur ziemlich wenige Protagonisten sind, die mit ihrem bestimmtem Auftreten und der Drohung mit Ausgrenzung eine wahrscheinlich viel größere Zahl Andersdenkender dominieren. Wie viele Menschen glauben denn ernsthaft, dass es Frauen mit Penissen gibt?

Natürlich kann jeder Einfluss auf die Meinungsbildung nehmen. Sogar ziemlich leicht! Wenn in einer Runde von 10 Leuten einer eine Meinung vertritt, zwei zustimmen und sieben schweigen, dann wird die geäußerte Meinung zur herrschenden. Egal, was die sieben denken. Aber wenn nur einer in der Runde „Nö!“ sagt, wissen alle, dass es auch andere Fraktionen gibt, dass es Meinungsvielfalt gibt. Die Meinungsherrschaft erlebt einen herben Dämpfer. Und es gibt ja in solchen Runden wahrscheinlich noch andere Unzufriedene. Vielleicht fühlt sich jemand anders ermutigt, selbst noch deutlicher Position zu beziehen, wenn er merkt, dass er nicht allein ist. Vielleicht geben weitere in der Runde vorsichtige Zeichen des Widerspruchs. Wenn das viele tun, reicht das vollkommen! Denn wenn einer eine Meinung vertritt und zwei zustimmen, aber sechs gähnen und einer ruft „Laaangweilig!“, dann war es das mit der Meinungsherrschaft!

Brechen der Diskursherrschaft

Man darf die Latte also ruhig ein gutes Stück tiefer hängen! Es ist nicht nötig, sich mit hohen Ansprüchen unter Druck zu setzen. Wenn man etwas für Meinungsfreiheit tun will, muss man keine Debatten gewinnen. Es geht nur darum, die linke Diskursherrschaft zu brechen! Darum, deutlich zu machen, dass es Menschen gibt, die eine herrschende Meinung nicht teilen. Und nicht nur die anonymen rechten Pöbler im Internet, sondern die nette Kollegin in der Kantine oder der Cousin beim Familientreffen. Dafür reicht ein „Nö“. Das allerdings braucht es.

Es muss sich also niemand mit wehenden Fahnen in den sozialen Tod stürzen. Denn das Gute bei solch defensivem Vorgehen, bei Kopfschütteln, Verständnisfragen, Scherzen (Scherze sind besonders gut! Nichts untergräbt Autorität wirksamer als ein herzliches Lachen der gesamten Runde!), das Gute bei solchen vorsichtigen Widersprüchen ist: wenn man zur Rede gestellt wird, muss man sich gar nicht klar bekennen! Mit einem zurückhaltenden „Ich weiß nicht“, „Irgendwie überzeugt mich das nicht“, „Verstehe ich nicht“ oder „Ich werd‘ bei dem Thema immer ganz schläfrig …“, kann man unverbindlich und unterhalb einer Verurteilung als böser Rechter bleiben. Man ist halt kein Linker. So ein Einspruch ist also viel billiger zu haben, aber trotzdem von riesigem Wert! Er schwächt die Gültigkeit herrschender Meinungen, ermutigt andere, beeinflusst die Atmosphäre.

Selbstverständlich bleibt das Wirksamste und Edelste weiterhin die kluge, nüchterne und schonungslose Gegenrede. Aber wenn das nicht geht, Sie jedoch trotzdem verhindern wollen, dass die Schwärmerei der sozialistischen Kollegen von Gendersternchen auf der Betriebsfeier sich demnächst in der Dienstanweisung wiederfindet – und wenn Sie dann sehen, dass alle anderen in der Runde wieder nur betreten auf ihre Biergläser gucken – dann denken Sie daran! Es lohnt sich! Heben Sie einfach den Blick, ziehen Sie den Finger aus der Nase und sagen Sie laut und deutlich: Hää!?

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Querstrebe.

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Leserpost

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Sabine Lotus / 30.04.2021

Oh Humor, aber gerne. Darf ich Sie bekannt machen, mit dem neuen Genre des KURZwitz (der auch gerne sehr viel länger sein darf, denn der Name ist Programm) ? Kleines Beispiel: “Sitzt ein ZEITARBEITER aus der INTENSIVMEDIZIN neben Jens Spahn…”. Ging mir zu dem Artikel zu Spahn und dem Bodybuilder Intensivpfleger gestern so durch den Kopf. * Kleiner Zusatz zu dem unangenehmen Umstand des ‘in die Ecke gedrängt werden’: Übt Zwerchfellatmung. Hilft wirklich.

Günter Hölzer / 30.04.2021

Sehr schöner Artikel, Herr Ambrosius. Ich war schon immer Querdenker, oder besser: Rundumdenker. Die Hetzer behaupten: Querdenker blicken nur quer des Brettes, das sie vor dem Kopf haben. Ich halte denen entgegen: Ihr blickt nur längs des Balkens in eurem Auge und seht nicht was rundherum passiert. “Blind” stürmen sie voran. Also, ihr lieben Klugscheißer, mal ab und zu in Runde blicken und nicht vergessen das Gehirn einzuschalten. Denn: Wenn du in die Zukunft willst, vergiss deine Wurzeln nicht. Und: Links und rechts gibts auch was zu sehen, über das es sich lohnt nachzudenken.

Gerhard Schmidt / 30.04.2021

Leicht gesagt: Ich musste wegen eines “Hä?” zur Selbstkritik beim Chef antanzen… Es gibt kein “unter dem Radar” mehr, es wird bereits sohlentief gescannt…

Volkmar du Puits / 30.04.2021

Ich weiß nicht, in welcher Welt der Autor lebt, aber, wenn dem so wäre wie er schreibt, wenn der “vorsichtige Widerspruch” oder das “Ausbleiben der Zustimmung” irgendwas bewirken würde, zB. “Autorität unterlaufen”, dann hätten wir eine andere Lage als wir haben, offenbar. Und die DDR wäre nie 40 geworden.

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