Walter Krämer / 31.08.2014 / 18:32 / 6 / Seite ausdrucken

Kampf dem Innumeratentum

Quer durch Deutschland geht eine Mauer. Sie ist nicht neu.  Sie geht auch quer durch Frankreich, England oder durch die USA. Es ist die Mauer, die Menschen voneinander trennt, die bei der Erwähnung von Logarithmen oder Wurzeln Schweißausbrüche bekommen, und die nicht. Oder wie es der Mathematiker John Allen Paulos einmal formuliert: die Innummeraten und die Menschen, die mit Zahlen und Zahlenverhältnissen umzugehen wissen.

Hier sind zwei Dinge auseinanderzuhalten. Da ist einmal die Notation: Was ist eine Wurzel? Was ist ein Logarithmus? Das kann man lernen, so wie man Vokabeln lernt. Und wer das dann gelernt hat, ist keinen IQ-Punkt intelligenter als jemand, der hier passen muss.

Das Problem ist ein ganz anderes. Nämlich dass immer noch viele Menschen hierzulande und andernorts verkrampfen, wenn man sie fragt: welche Zahl, mit sich selbst malgenommen, ergibt die 4? Jeder Grundschüler in der vierten Klasse weiß: zwei mal zwei ist vier. Also ist die Wurzel aus 4 die 2. Oder wie oft muss man die zehn mit sich selbst malnehmen, damit 1000 herauskommt? Dreimal. Also ist der (Zehner)logarithmus von 1000 die 3. Aber viele Menschen, besonders in Deutschland, scheinen sich gegen dergleichen Einsichten geradezu zu wehren. Anders als Analphabetismus gilt Innumeratentum hier kaum als Schande, manche Zeitgenossen sind sogar noch stolz darauf.

Dabei ist echte Unfähigkeit eher selten. So haben Psychologen herausgefunden, dass bereits sechs Monate alte Babys ein natürliches Gefühl für Zahlen haben: Man zeigt dem Baby zwei Puppen, hängt ein Tuch davor, dann nimmt der Versuchsleiter eine Puppe gut sichtbar weg. Und ein anderer fügt – für das Baby unsichtbar - wieder eine zweite Puppe hinzu. Dann wird der Vorhang weggezogen, und das Baby ist erstaunt. Es weiß: Da stimmt was nicht, zwei ist mehr als eins.

Schwieriger ist es mit Wahrscheinlichkeiten. Die sind in unserem genetischen Apparat nicht vorgesehen, und selbst große Mathematiker wie Gottfried Wilhelm Leibniz oder Jean d’Alembert, einer der Mitautoren der legendären Encylopädie, sind auf diesem Glatteis ausgerutscht. So behauptet etwa d’Alembert in dem Stichwortartikel „croix en pile“, die Wahrscheinlichkeit für zweimal Kopf beim zweimaligen Münzwurf wäre ein Drittel. Dabei weiß doch jedes Schulkind, dass es die folgenden vier gleich wahrscheinlichen Möglichkeiten gibt: (K,K) (K,Z) (Z,K) (Z,Z)
Also beträgt die Wahrscheinlichkeit für zweimal Kopf ein Viertel.

Am sichtbarsten werden diese Defizite immer dann, wenn von Brüchen und Prozenten die Rede ist. Wer zweimal hintereinander 50 % verliert, landet nicht bei Null, auch wenn das in der Tagesschau einmal behauptet wurde. Dann wieder werden 1800 Engländer und Engländerinnen im Alter über 15 gefragt: „Was sind 40 %.“. Zur Auswahl standen: einer von 25, ein Viertel, einer von 40, und vier von zehn. Mehr als die Hälfte der Befragten entschieden sich gegen vier von zehn. Jeder siebte glaubte sogar, 40 % wäre einer von 40. Oder um mit dem ehemaligen deutschen Fußballnationalspieler Horst Szymaniak zu sprechen: „Ein Drittel mehr Geld? Nee, ich will mindestens ein Viertel.“

Einen vorläufigen Höhepunkt erklomm das Innumeratentum in Deutschland in enier dpa-meldung von Ende Juli 2014 zu einer Studie des Deutschen Jugendinstituts zur Nutzung des Betreuungsgeldes mit dem Fazit: “Von den Familien, in denen kein Elternteil einen Bildungsabschluss besitzt oder die als höchsten Bildungsabschluss einen Hauptschulabschluss nennen, bejahen 54 % die Frage, das Betreuungsgeld sei Grund für die Betreuungsentscheidung gewesen.“

In Wahrheit beträgt der Anteil der Eltern aus bildungsfernen Schichten, die ihre Kinder des Betreuungsgeldes wegen des nicht in eine Kita schicken, weniger als 30%. Die Wissenschaftler hatten Anteile von 31 % bei Eltern ohne Bildungsabschluss und 23 % bei Eltern mit höchstens Hauptschulabschluss einfach aufaddiert. Das ist natürlich nicht erlaubt. Wenn 30 % aller deutschen Männer und 40 % aller deutschen Frauen schon einmal Steuern hinterzogen haben, so liegt der wahre Anteil der Steuerhinterzieher nicht bei 70 %. Der wahre Anteil ist vielmehr ein gewichtetes Mittel der beiden Ausgangsanteile, mit Gewichten gleich den relativen Gruppengrößen. Aber diese Einsicht ist selbst promovierten deutschen Bildungsforschern eher fremd.

Inzwischen haben die Autoren der Studie diesen Fehler erkannt und berichtigt. Aber dass er überhaupt vorkommen konnte, zeigt, wie wichtig eine breite Kampagne zur Elimination das Innumeratentum in Deutschland ist.

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Leserpost

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Bärbel Schmidt / 03.09.2014

Ich kann mit ppm nichts anfangen, deswegen rechne ich sie oft auf % um und bin oft recht erstaunt. So z.B. bei dem Gehalt an CO2 in der Luft, der ja soo stark gestiegen sein soll.

Max Sandmann / 02.09.2014

Als Innumerat jetzt einen Fußballspieler anzuführen, was glauben Sie, wie viele da erst verkrampfen? Da braucht es gar nicht 2 x 2. Gut, sie haben immerhin keinen dieser “Numeraten” aus der Nationalmannschaft genommen. Das ist diplomatisch. Als Innumerat denke ich mir gerade, vielleicht läßt es sich mit Innumeraten leichter regieren. Der Marsch durch die Institutionen diente ja weder der Verbesserung der Mathekenntnisse noch der Allgemeinbildung wie es dieses Zitat eines Nationalspielers zu belegen scheint: “Fußball ist wie Schach nur ohne Würfel”.

Markus Weber / 01.09.2014

Sehr geehrter Herr Professor, Sie haben für Ihr Anliegen, dem ich mich übrigens in aller Form anschliessen möchte, vor allem leicht verdauliche Beispiele gebracht. Eine Darstellung lässt Akteure oder Gesamtheiten, zu denen man kein grundschlechtes Verhältnis, aber eben immerhin überhaupt eine Haltung hat, schlecht erscheinen. Man würde sagen, die X oder die Y kommen zu schlecht dabei weg. Grund? Na, klar, jemand kann eben zwei und zwei nicht zusammenzählen, bzw. weiss nicht, dass es vier verschiedne Wurzeln aus eins gibt - gleich viele wie aus minus eins. Bildungslücke: sträflich. Aber wie sehr wünschenswert ist denn der gelenkige Umgang einer breiten Öffentlichkeit noch mit Zusammenhängen aus Algebra, Geometrie, Physik, Medizin, Volkswirtschaft und Philosophie bzw. Geschichte, Politologie und Jurisprudenz, wenn jemand Wichtiges bisher nur deshalb notorisch mit einer etwas zu guten Bewertung davongekommen ist, weil keiner richtig rechnen, logisch denken, richtig folgern, schlüssig widerlegen, souverän und stichhaltig das Gegenteil aufzeigen, einen wirkungsvollen Prozess anstrengen konnte? Soll die Mehrheit der Bürger tatsächlich über die Gesetze der Impuls- und Energieerhaltung bescheid wissen, dass sie in der Lage wäre, etwa abzuschätzen, wie realistisch ein Stunt in einem Action-Film ist oder wie es möglich ist, dass es einen von hinten Angeschossenen nochmals so richtig heftig gegen die Projektilrichtung durchschüttelt? Wenn Sie das auch fordern, fordere ich mit Ihnen mit, aber dann könnten wir beide ganz schnell als gefährliche Umstürzler gelten. Vielleicht ist es da bequemer, kleinere verschwörungstheoretische Brötchen zu backen und weiter von der Allgemeinheit ignoriert zu werden. Also, dass es sich inmitten einer unaufgeklärten Gesellschaft am Ende doch leichter und ungestörter lebt. Könnte ja sein. Also 80 Millionen Deutsche, die rechnen könnten, und die Sanktionen gegen Russland und den Iran wären aufgehoben.

Marita Schneider / 01.09.2014

Völlig richtig, wobei während meiner Schulzeit mit schlechten Mathenoten kokettiert wurde und Schüler mit guten Noten eher suspekt waren. Das hat sich mittlerweile geändert; heute ist es auch cool, gute Mathenoten zu haben. Allerdings haben viele Schüler spätestens ab der 7. Klasse Probleme. Und das liegt m.E. (aufgrund meiner umfangreichen Beobachtungen bei Klassenkameraden meiner 3 Kinder) an den mangelnden Fähigkeiten vieler Lehrer, ihren Stoff zu vermitteln. Und m.E. wird zu wenig Wert auf die Automatisierung gelegt, denn Schulmathematik ist keine Herausforderung, das kann man tatsächlich lernen wie Vokabeln. :-)

Waldemar Undig / 01.09.2014

Man lernt nie aus. Wie oft muss man zehn mit sich selbst malnehmen, damit tausend heraus kommt? Dreimal. Beweis: Einmal malnehmen: 10 mal 10 = 100. Zweimal malnehmen: 10 mal 10 mal 10 = 1000. Dreimal malnehmen: 10 mal 10 mal 10 mal 10 = 10000 = Tausend. Danke Herr Krämer für diese Erkenntniss. Pisa is watching you :-)

Thomas Schweighäuser / 01.09.2014

Wie aber ist es um den Bildungsstand deutscher Professoren bestellt, die nicht wissen, dass “Jean d’Alembert” nicht so hieß, sondern Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, dass er auch kein “Mitautor”, sondern allenfalls ein Autor, vor allem aber, gemeinsam mit Diderot, Herausgeber der Encyclopédie war, die in Krämers merkwürdiger Orthographie zur “Encylopädie” mutiert ist und von ihm noch das nichtssagende Attribut “legendär” verpasst bekommen hat? In der Tat legendär ist dagegen der kolportierte Ausspruch Horst Szymaniaks, der lange gerichtlich gegen dessen Verbreitung vorging. Dass Professor Krämer nicht besser recherchiert hat, deprimiert.

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