Während in den USA die Wahlumfragen denkbar knapp sind, glauben die Deutschen zu mehr als zwei Dritteln an einen Sieg von Kamala Harris. Dies ist kein Ergebnis besonderer Intelligenz, sondern von propagandahöriger Einfalt.
„Wer wird die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen?“, fragt das ZDF-Politbarometer die Beitragszahler, und die Antwort fällt eindeutig aus. 72 Prozent gehen davon aus, dass Harris, 23 Prozent, dass Trump die Nase vorn haben wird. Die Balkengrafik dieses Umfrageergebnisses verbreitet sich rasch und wird schließlich sogar von Elon Musk geteilt, der sie als Beleg dafür nimmt, wie staatlich gelenkte Propaganda wirkt.
Besonders an der Umfrage des ZDF selbst wird viel Kritik geübt, und ich muss nun etwas tun, was nicht allzu oft vorkommt: Ich verteidige einen ÖRR-Sender. Denn nicht das Ergebnis der Umfrage ist das Problem. Ich denke nicht, dass das ZDF hier irgendetwas manipuliert hat. Vielmehr muss man die Umfrage als Ergebnis langjähriger deutscher Berichterstattung mit Schlagseite betrachten, wie sie im Falle Donald Trumps nicht einseitiger, voreingenommener sein könnte.
Das beschränkt sich allerdings nicht nur auf den ÖRR, sondern gilt ganz allgemein. Spiegel, Stern & Co. geizen bekanntlich weder mit Injurien und deftigen Unterstellungen, noch lassen sie eine Gelegenheit zu Hitlervergleichen auf ihren Magazincovern aus. Da wird jedes Gerücht bedient und jeder noch so blödsinnigen Unterstellung nachgerannt, wenn sie Trump nur recht dumm, fett, diabolisch, verräterisch oder als Mastermind dunkler Mächte wirken lässt. Gern alles zusammen, selbst wenn das rein logisch nicht funktioniert. Dabei schreibt man natürlich gern von amerikanischen Leitmedien ab, wo man gerade auch wieder einen Gang höher schaltet. Frei nach dem Motto: Wenn Hitlervergleiche, Stalinvergleiche und Mussolinivergleiche nicht fruchten, müssen wir eben alles auf einmal versuchen.
Drachentöterin des medial-indokrinellen Komplexes
Die 72-prozentige Erwartung eines Harris-Sieges entsprechen also durchaus der Realität in Deutschland, wo man es seit langem als Zumutung betrachtet, dass US-Präsidenten ganz ohne deutsche Beteiligung gewählt werden. Ich hätte sogar angenommen, dass die Zahl noch etwas größer ausfällt. Andererseits entspricht der Prozentsatz etwa der Covid-Impfquote, was doch irgendwie passend ist. Was die Zahl aber wirklich beleuchtet, ist die einseitige und offensichtlich falsche Berichterstattung deutscher Medien über die Realität des amerikanischen Elektorats.
Sieht man von einigen spezifischen deutschen Interessen einmal ab, die man ins Kalkül ziehen kann, müsste sich die Erwartung des Wahlausgangs zumindest grob an der politischen Realität in den USA orientieren. Diesbezüglich sagen die offiziellen und gemittelten Umfragen ein enges Rennen voraus, keinesfalls jedoch ein so eindeutiges wie das, was das ZDF erfragt hat. An der deutschen Legende von Harris als neuer Drachentöterin schreiben aber eben nicht nur öffentlich-rechtliche Sender, sondern der gesamte medial-indokrinelle Komplex. Von Süddeutsche Zeitung über Zeit bis zu Die Welt und Spiegel. Sie alle vermuten sich an einer erwarteten Verschwörung des „Orange Man“ zur Abschaffung der Demokratie in Amerika entlang, darunter machen es die Strategen des gefühlten „als ob“ nämlich nicht.
Jeder, der Trump in dessen sinistrem Plan unterstützt – und das sind nach neuester Zählung nicht nur die Hälfte der Wähler, sondern auch Grenzschützer, viele Gewerkschaftler, enttäuschte Politiker der Demokraten und, nicht zu vergessen, Elon Musk – bekommt Rollen in Umsturzplänen zugewiesen, die besser ins Drehbuch für den nächsten Bond passen würden.
Vermeintlich schwere Geschütze
„Staatsfeind Nummer zwei“ titelt der Spiegel über Musk und insinuiert in Wort und Bild, wer natürlich Staatsfeind Nummer eins sei: Trump. Ein Staatsfeind, der sich gerade für das höchste Amt seines Landes beim Wähler bewirbt und – sollte er gewinnen – am 20. Januar 2025 einen öffentlichen Eid auf die Verfassung dieses Landes ablegen wird, das er anschließend – das steht spiegelfest – vernichten oder für ein Happy-Meal an die Russen verkaufen wird. Was „Staatsfeinde“ eben so machen in einem Land, in welchem sie dank Gewaltenteilung die Macht gar nicht „ergreifen“ können, um das Land auf den Kopf zu stellen.
Die Erhöhung der medialen Schlagzahl fällt zeitlich zusammen mit einigen für gewisse Kreise recht beunruhigenden Nachrichten aus dem Wahlkampf von Kamala Harris. Dort fährt man im Endspurt und mit sinkenden Zustimmungsraten zwei vermeintlich schwere Geschütze auf, um in wackeligen Kernzielgruppen die Umfragewerte zu verbessern. Und beide erweisen sich als Rohrkrepierer oder feuern in die falsche Richtung. Barack Obama äußert sein Missvergnügen über „the brothers“, also seine schwarzen Brüder, denen es an Reife fehle, eine Frau zu unterstützen. Das kommt nicht besonders gut an bei schwarzen Männern, und der Vorsprung in Sachen Gefolgschaft gegenüber den Republikanern ist für diese Zielgruppe seit 2012 und den Jahren von Obamas Präsidentschaft von 80 Prozent auf etwa 40 Prozent gesunken.
Die „Brüder“ sind empört, weil man nicht Frauen generell, sondern nur diese eine, Kamala Harris, ablehne. Obamas schulmeisternde Äußerungen helfen Harris also nicht, und auch Bill Clinton, der die weiße Vorstadtmittelschicht auf Linie bringen soll, liefert eher Munition für Wahlkampfspots der Republikaner. Clinton: „Wäre der Mörder von Laken Riley ordentlich überprüft worden, wäre sie jetzt noch am Leben.“ Völlig richtig. Nur mit dem Schönheitsfehler, dass Rileys Mörder erst dank des dysfunktionalen Grenzregimes der Biden/Harris-Administration überhaupt illegal ins Land kam. Ein klassisches Eigentor.
Brandmauern unter Druck
Generell geraten die medialen „Brandmauern“ gegenüber Trump spektakulär unter Druck. Und schuld daran ist die Realität, die sich nicht mehr so leicht wegframen lässt. Etwa die Sache mit dem spontanen Faktencheck, den man bei ABC in der TV-Debatte Trumps Aussage zuteilwerden ließ, die Kriminalität durch Migranten gehe gerade „durch die Decke“. „Tatsächlich“, so der Moderator, „sinkt die Kriminalität“. Nein, tut sie nicht. Denn das FBI korrigierte inzwischen klammheimlich die Kriminalitätsstatistik für 2022, das letzte veröffentliche Jahr in der Statistik. Statt des zunächst vermeldeten Rückgangs um 2,1 Prozent steht da nun eine Steigerung von satten 4,5 Prozent, was dem wachsenden Gefühl der Unsicherheit auf den Straßen sehr viel eher entspricht als das, was „Faktenchecker“ aus Trumps Aussagen machen. Und es sieht nicht so aus, als würden die Zahlen 2023 besser aussehen.
Das systematische Herunterspielen unschöner Vorgänge und Statistiken – im Aktivisten-Amtsdeutsch oft „Einzelfall“ oder „ein Mann“ genannt – stößt im US-Wahlkampf immer häufiger an seine Grenzen. So etwa im ABC-Interview, als Martha Raddatz über die Kriminalität venezolanischer Banden in Aurora/Colorado J.D. Vance faktenchecken wollte und sagte, es handele sich laut Angaben des Bürgermeisters von Aurora „lediglich um eine Handvoll Appartementkomplexe“, in denen kriminelle Banden illegaler Einwanderer die Kontrolle übernommen hätten. Trump hatte – übertreibend, wie es seine Art ist – von einer „überrannten“ Stadt gesprochen. Ein Vergleich, den jeder versteht, auch wenn es in Wirklichkeit nicht die ganze Stadt war. Doch Trump ist die Verwendung solcher Parabeln bei Androhung von Faktenchecks verboten.
Man beachte auch die hergestellte Distanz zum Problem. Lediglich eine Handvoll Häuser, nicht die ganze Stadt. Demnächst dann vielleicht: lediglich eine Stadt, nicht der ganze Staat? Lediglich ein Staat, nicht das ganze Land? Kontrollverlust ist nur halb so schlimm, wenn er nicht das Narrativ betrifft. Und um das Narrativ „Trump böse“ zu retten, wird man noch der letzten Übertreibung und der misslungensten Pointe in seinen Reden mittels Faktenchecks das Gewicht eines Gottesbeweises geben.
Dabei sind Faktenchecks im eigentlichen Sinne durchaus die Aufgabe des Journalismus. Und zwar dergestalt, dass Journalisten die Äußerungen von Politikern der Regierung auf Korrektheit abklopfen. Regierungshandeln muss sich Faktenchecks gefallen lassen, nicht Wählermeinung. In der Praxis ist es jedoch umgekehrt. ABC nimmt die Aussage des Bürgermeisters von Aurora für bare Münze und entwertet damit die Berichte betroffener Anwohner in „nur einer Handvoll“ Wohnquartieren.
Für diese in der Richtung umgekehrten Faktenchecks finden sich reichlich Beispiele auf beiden Seiten des Atlantiks: „Alles wird immer teurer!“ – „Faktencheck: die Inflationsrate sinkt“. „Ich kann mir meine Wohnung nicht mehr leisten, der Wirtschaft geht es schlecht!“ – „Faktencheck: der Aktienmarkt brummt! Mit deinen Gefühlen kann etwas nicht stimmen.“ „Die Binnenalster in Hamburg ist ein gefährlicher Ort!“ – „Faktencheck: nicht immer und sie haben auch nicht jeden gefragt“. Bilden Sie weitere Beispiele. Doch zurück zur Frage, ob 72 Prozent der Deutschen richtig liegen werden mit der Annahme, Harris werde Wahl tatsächlich gewinnen.
Wer ist Kamala?
Natürlich glauben diese 72 Prozent ganz sicher zu wissen, wer oder was Trump ist. Und sie dürfen mir vertrauen, wenn ich sage, dass dieses mediale Gedächtnis-Implantat über Jahre so bolzenfest in die emotionale Ebene gehämmert wurde, dass daran zu rütteln Zeit- und Energieverschwendung wäre. Aber wer genau diese Kamala Harris ist und warum drei von vier Deutschen sie dem Orange Man vorziehen würden, ist nicht so klar. Ihre mediale Darstellung kapriziert sich hierzulande stets auf die Tatsache, dass sie vor allem „nicht Trump“ sei. Und was wäre offensichtlicher!
Nimmt man sich jedoch die Zeit, um zum Beispiel Harris’ früherer Anwaltskollegin Harmeet Dhillon zuzuhören, die gerade ein zwei Stunden langes Charakterbild der Vizepräsidentin geliefert hat, werden einige von Harris’ rätselhaften Eigenschaften verständlicher. Eigenschaften, die anscheinend nicht zusammenpassen: Skrupellosigkeit, Konfliktscheu, Faulheit. Und plötzlich werden viele Vorgänge rund um Harris’ Auftritte, der Umgang mit Angestellten, ihre Unsicherheit bei Fakten und ihr Unwille, sich festzulegen oder ihre früheren Aussagen zu bewerten, verständlich.
Skrupellosigkeit bewies Harris laut Dhillons Schilderung bereits in ihrem ersten Wahlkampf um ein öffentliches Amt, als sie in San Francisco Staatsanwältin werden wollte. Die Parteien in der Region hatten sich damals schon einige Zeit davor auf ein Limit für Wahlkampf-Ausgaben für solche kleineren politischen Ämter verständigt. Traditionell unterzeichnen alle Kandidaten eine entsprechende Erklärung – auch Kamala Harris tat dies. Nur überschritt ihr Budget (sie gewann mit nur wenigen Stimmen Vorsprung) am Ende dreifach die vereinbarte Obergrenze. Dank einflussreicher Freunde kam sie damit durch, obwohl sie die Regeln klar gebrochen hatte.
Einige gute Pointen
Harris’ Konfliktscheu konnten wir erst vor wenigen Tagen wieder beobachten, inklusive des unerschütterlichen Willens unserer Medien, jede Schwäche von Harris letztlich zum Nachteil Trumps zu erklären. „Trump hält polarisierende Rede bei New Yorker Spenden-Dinner“, titelte zum Beispiel die Die Welt. Doch was wie eine erneute Provokation des Gottseibeiuns klingen soll, ist in Wahrheit Programm. Das „Al Smith Dinner“ ist ein fester Bestandteil des New Yorker Gesellschaftskalenders und wird von der katholischen Kirche und Kardinal Timothy Dolan veranstaltet. Es geht um Spenden, was sonst. Eine Charity-Veranstaltung mit speziellen Regeln und Schaulaufen der Prominenz, wie es sie in den USA zu hunderten gibt.
Dieses Dinner ist aufgrund der Lage im Kalender traditionell auch immer eine der letzten Gelegenheiten, wo sich Präsidentschaftskandidaten vor der Wahl zivilisiert und selbstironisierend begegnen. Legendär der Auftritt von Obama, der selbstironisch sagte, einen seiner Vornamen (Barack) habe er von seinem Großvater, den anderen (Hussein) von jemandem, der nicht dachte, dass sein Träger jemals US-Präsident werden wolle.
Trumps laut Die Welt „polarisierende Rede“ war vor allem eines: unterhaltsam. Und sie hatte einige gute Pointen, wie etwa die, dass Tim Walz, der Sidekick von Kamala Harris, leider nicht anwesend sei, man jedoch sicher sein könne, Walz werde später behaupten, er sei es gewesen – eine Anspielung auf Walz‘ Lüge, er sei 1989 beim Massaker in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens in China, also irgendwie „dabei“ gewesen.
Dinner, not for one
Harris – konfliktscheu, sie erinnern sich – ließ das Dinner aus. Angesichts ihres monothematischen Wahlkampfes (Abtreibung) konnte sie keinen allzu herzlichen Empfang beim Kardinal erwarten. Stattdessen schickte sie einen recht seltsamen Videogruß, den niemand lustig fand. Gescriptets aus der Konserve statt spontaner humoristischer Rede also. Denn beim Al Smith Dinner sind Gästen für ihre Reden nur Zettel erlaubt, Teleprompter gibt es nicht.
Was uns zu einer weiteren Eigenschaft führt, die Weggefährten Harris zuschreiben: ein – nett ausgedrückt – sehr unterentwickelter Arbeitseifer. In ihrer ganzen Zeit als Staatsanwältin, so Harmeet Dhillon, brachte Harris es auf eine sehr überschaubare Anzahl verhandelter Fälle und ganze acht Überstunden. Auch der mildernde Umstand, den amerikanische Plagiatsjäger dem Buch zugestehen, an dem Harris mitgewirkt hat, spricht Bände: „schlampige Arbeitsweise“.
Nun stelle man sich vor, unsere Medien hätten Harris Eigenschaften skrupellos, konfliktscheu und faul mit derselben wortreichen Penetranz unter Hörer, Leser und Zuschauer gebracht wie die zweifellos vorhandenen Charakterschwächen Trumps. Wie wohl die Abfrage des Politbarometers dann ausgefallen wäre? Und wie die Einschätzung zur Eignung für ein Amt, in dem man es zwischen zwölf und Mittag mit zehn Konfliktsituationen zu tun hat, Arbeit rund um die Uhr zu erledigen ist und die verliehene Macht dringend Skrupel braucht, sie auch einzusetzen?
Nochmal zurück zum Al Smith Dinner. Es gab bisher nur einen weiteren Fall, dass ein eingeladener Spitzenkandidat einer der großen Parteien der Einladung nicht gefolgt war – und zwar aus demselben Grund, der auch für Harris ausschlaggebend war: der demokratische Kandidat Walter Mondale. Wissen Sie noch, wie die Wahl 1984 ausging? Die sich für gut informiert haltenden Deutschen jedenfalls, die alles besser wissen als die Amerikaner, dürften vor 40 Jahren aus allen Wolken gefallen sein.
Roger Letsch, Jahrgang 1967, aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, als dieses noch in der DDR lag und nicht so hieß. Lebt in der Nähe von und arbeitet in Hannover als Webdesigner, Fotograf und Texter. Sortiert seine Gedanken in der Öffentlichkeit auf seinem Blog unbesorgt.de, wo dieser Text zuerst erschien.