Oswald Metzger, Gastautor / 16.05.2014 / 15:43 / 0 / Seite ausdrucken

Kalte Progression ist partielle Enteignung

Merkwürdige Welt! Nie waren die Steuereingänge höher als heute und die volkswirtschaftliche Steuerquote bewegt sich in Deutschland mit rund 24% - bezogen auf die Jahreswirtschaftsleistung – wieder auf sehr hohem Niveau. Dazu kommen noch die Sozialabgaben mit rund 16% vom Bruttoinlandsprodukt. Mit einer Abgabenquote von rund 40% ist unser Staat ein für die Bürger sehr teurer Staat.

Trotzdem läuft die gesellschaftspolitische Debatte in eine ganz andere Richtung. Der Staat brauche mehr Geld für Investitionen und die Substanzerhaltung der Infrastruktur. In Forschung und Bildung müssten zusätzliche Milliardenbeträge fließen. Und dann beflügelt Thomas Piketty mit seiner neo-marxistischen neuen Weltformel „r > g“ die Steuererhöhungsdebatte fast global. Weil die durchschnittliche Kapitalrendite (r) vermeintlich schneller wächst als die Wirtschaftsleistung (g), würden Vermögensbesitzer gleichsam automatisch reicher und die auf Einkommen aus Arbeit angewiesenen Menschen relativ immer ärmer. Abhilfe könnten nur deutlich höhere Steuern auf Erbschaften, Vermögen und hohe Einkommen überhaupt schaffen.

Nicht nur die politische Linke delektiert sich an dieser eingängigen Steuererhöhungsbotschaft. Die Große Koalition winkt im Windschatten in der kommenden Woche ihr teures Rentenpaket durch den Deutschen Bundestag. Gleichzeitig lässt sie die zaghaften Forderungen nach Steuersenkungen – Stichwort: kalte Progression – ins Leere laufen. Verrückt!

Dabei ist die Raffgier des Fiskus schier grenzenlos. Wer sich die aktuellste Lohn- und Einkommensteuerstatistik anschaut, sieht den Effekt der Steuerprogression mehr als deutlich. 70% aller Steuerpflichtigen (insgesamt 38,4 Millionen; zusammen veranlagte Ehegatten werden als ein Steuerpflichtiger gezählt!) haben Einkünfte unter 35.000 Euro im Jahr. Das entspricht einem Anteil dieser großen Einkommensgruppe von 32% an allen Einkünften. Die darauf zu entrichtende Steuer beträgt 14,9% der gesamten Einkommen- und Jahreslohnsteuer. In dieser Einkommensgruppe sind in aller Regel die Sozialabgaben auf das Einkommen höher als die Einkommensteuer.

Und dann wird es spannend: Die Steuerprogression schlägt am schärfsten bei Einkünften zwischen 40.000 und 125.000 Euro zu, je nachdem, ob sich hinter dem Steuerpflichtigen ein Single oder ein gemeinsam veranlagtes Ehepaar verbirgt. Rund 8,6 Millionen Steuerpflichtige, knapp 23% alle Steuerpflichtigen, sind in diesem Einkünftesegment angesiedelt. Sie bezahlen darauf fast 48% des gesamten Einkommensteueraufkommens. In dieser starken Mittelschicht unserer Gesellschaft sind auch noch erhebliche Teile der Einkünfte sozialversicherungspflichtig. Diese Gruppe zählt für mich deshalb zu den wesentlichen Finanzierungsstützen von Staat und Gesellschaft.

Dieser leistungsbereiten gehobenen Mittelschicht greift die Politik weiter ungeniert in die Taschen. Die neuen und teuren Sozialleistungen der Großen Koalition treiben die Beitragssätze in die Höhe. Der Nichtabbau der kalten Progression ist für diese Millionen von Betroffenen nichts anderes als eine kaum kaschierte partielle Enteignung von Einkommenszuwächsen. Gleichzeitig wird diese Schicht auch beim Sparen für die Lebensrisiken Alter, Krankheit und Pflege durch die Billigzinsen überdurchschnittlich enteignet, die nicht einmal mehr einen Inflationsausgleich bieten, aber dem Staat den Schuldendienst erleichtern.

Steuerentlastungen in der Einkommensteuer gehören kurzfristig auf die Agenda der Bundespolitik. Das heutige Einkommenssteuerrecht hat enteignungsgleiche Wirkungen. Die kalte Progression ist moderne Wegelagerei! 

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