Seit 18 Monaten führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Trotz hoher Verluste, einer Teilmobilmachung und einer Militärrevolte ist die Putinsche Machtvertikale stabil. Ein Erklärungsversuch.
Jede Diktatur steht vor der gleichen Herausforderung: Sie muss sicherstellen, dass sie von den tragenden Eliten im Land unterstützt wird. In Russland zählen hierzu nicht nur die Oligarchen, sondern auch die obersten Verwaltungsbeamten, die Gouverneure bzw. die Präsidenten der autonomen Teilrepubliken sowie das höhere Offizierskorps der Sicherheitskräfte und Geheimdienste.
Der mächtigste Vertreter der regionalen Statthalter ist der tschetschenische Präsident Ramzan Kadyrow. Die Privilegiertheit seiner Macht ist von zwei Elementen geprägt: einer absolutistischen Fülle im Inneren und einer intensiven finanziellen Begünstigung durch das Moskauer Zentrum. Kadyrow gilt seit jeher als loyaler Unterstützer Putins.
Mit dem Krieg in der Ukraine und den daraus resultierenden Wirtschaftssanktionen hat sich die russische Staatsführung einen neuen Problemherd geschaffen, den es unter Kontrolle zu halten gilt. Der Kreml reagiert darauf, indem er den etablierten Eliten eine neue Klasse loyaler Günstlinge zur Seite stellt.
In Kern dieser Politik steht das tiefe Misstrauen, welches Wladimir Putin den Vertretern den Oligarchen entgegenbringt. Um ihren Einfluss zu schwächen, hat er eine Clique von jungen Unternehmern gefördert, die seit Kriegsbeginn die Vermögenswerte westlicher Unternehmen und russischer Geschäftsleute unter sich aufteilen.
Diese Profiteure des Krieges fühlen sich nicht nur Putin, sondern auch dem von ihm geschaffenen politischen System verpflichtet, weil sie ihren Einfluss und ihren Reichtum aus ihm ableiten; daher haben sie ein vitales Interesse daran, den Status Quo zu erhalten und werden folglich sämtliche Versuche seiner Überwindung untergraben.
Für die althergebrachte Elite stellt Putins Kurswechsel ein Problem dar. Längst äußern ihre Angehörigen nicht nur hinter verschlossenen Türen Unmut. Hierzu äußert Kirill Rogow, ehemaliger Berater des russischen Präsidenten: „Die Eliten befinden sich in einer Pattsituation: Sie haben Angst, zum Sündenbock für einen sinnlosen Krieg zu werden.“
Zuckerbrot und Peitsche
Trotz ihrer Unzufriedenheit über die neue Situation kommen sie nicht umhin, ihre Loyalität gegenüber Putin zu zeigen. Oppositionelle Aktivitäten kommen für sie nicht infrage. Diesem Verhalten liegt die Erkenntnis zugrunde, dass eine Revolte gegen den Präsidenten mit der Zerstörung der eigenen Existenz verbunden ist. Der Tod Jewgenij Prigoschins vom 26. August 2023 hat dies aus ihrer Sicht erneut unter Beweis gestellt.
Ein elementarer Grundsatz der Politik besagt, dass Loyalität die wichtigste Eigenschaft für einen Aufstieg an die Spitze der Machtpyramide darstellt. Für den russischen Präsidenten und seine Anhänger gilt dies in besonderer Weise. Mehrfach hat Putin in den letzten Jahren geäußert, dass es für ihn nichts Wichtigeres als Loyalität gebe.
Zugleich sei Verrat ein Vergehen, das er niemals vergeben könne. Nicht zufällig sind Putins treueste Paladine allesamt Personen, die bereits seit dem Beginn seiner politischen Laufbahn an seiner Seite stehen. Viele von ihnen gibt es allerdings nicht mehr (Achgut berichtete).
Putin hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er kein sonderliches Interesse an der Sympathie der Menschen in seinem Umfeld hatte. Stattdessen ging es ihm darum, ambitionierte Funktionäre unter Kontrolle zu halten. Dabei hat Putin allerdings nicht nur auf Einschüchterung gesetzt, sondern es verstanden, die Bedürfnisse der einzelnen Akteure zu erkennen und bedarfsweise zu befriedigen.
Dieses Prinzip, das auch als „Zuckerbrot und Peitsche“ bekannt ist, kam bereits in den frühen Jahren von Putins Amtszeit als Präsident zum Tragen. Indem er deutlich machte, dass die mächtigen Oligarchen künftig stets vor allem den Interessen des Staates würden Rechnung tragen müssen, setzte er der von einer sukzessiven Unterminierung staatlicher Autorität geprägten Jelzin-Ära ein Ende.
Putins Wandel
Zu einer der ersten Maßnahmen von Putins Innenpolitik gehörte es, den Oligarchen ein ultimatives Angebot zu machen. Sofern sie sich aus der Politik heraushielten und Putins Herrschaftsanspruch akzeptierten, könnten sie ihren Reichtum behalten und weiterhin Geschäfte machen. Mit der Inhaftierung Michail Chodorkowskis und der Zerschlagung von Jukos stellte Putin 2003 seinen Vernichtungswillen gegen Widersacher unter Beweis.
Die Politologin Alexandra Potropenko weist darauf hin, dass dieser Pakt seither das Fundament bildet, auf dem die Loyalität der Oligarchen gegenüber der Staatsmacht fußt. Jene von ihnen, die es abgelehnt hätten, sich ihr zu beugen und Putins Autorität infrage stellten, hätten ihre Existenz in Russland aufgeben und ins Ausland fliehen müssen. Zu den prominentesten Angehörigen dieser Gruppe zählen Boris Beresowski, Roman Abramowitsch und Anatolij Tschubais.
Gleichzeitig – so Potropenko – werde Loyalität gegenüber Putin überaus großzügig belohnt. So hätten die Vertrauten des Präsidenten in St. Petersburg lukrative Staatsaufträge erhalten, und unter ihren Nachkommen seien ganze Industriezweige geschaffen worden, die beträchtliche Einnahmen generiert hätten. Aus diesem Grund seien Putinloyalisten heute fester denn je in die Machtvertikale integriert: In den letzten 20 Jahren hätten sie verschiedene Positionen durchlaufen, ohne das System jemals zu verlassen.
Potropenkos zentrale These besagt, Putin habe zwar einen Wandel durchlaufen, nämlich von einem Befürworter westlicher Investitionen zum größten Gegner des Westens. Nichtsdestoweniger sei die Wahl der Oligarchen und Beamten unverändert geblieben. Der Einmarsch in die Ukraine habe diese Regelung jedoch beinahe zunichtemgemacht. Dies sei buchstäblich in letzter Minute verhindert worden, als Putin den Eliten ein neues Angebot vorgelegt habe.
Eliten und Ideologie
Man kann feststellen, dass die Stabilität des russischen Regimes neben einer starken Führung auf loyalen Geschäftsleuten und gewieften Technokraten basiert, die die Wirtschaft leiten. Nachdem sich die Eliten aus Politik, Wirtschaft und Sicherheitsstrukturen vom ersten militärischen Schock im Spätwinter 2022 erholt hatten, kamen die Sanktionen zum Tragen.
Dank der Technokraten hielt das russische Finanzsystem nicht nur ihren Folgen stand, sondern überlebte auch die Razzien in den Banken. Potropenko weist darauf hin, dass im Jahr 2022 trotz allem 243 Milliarden Dollar Russland verließen, wobei ein Fünftel (47 Milliarden Dollar) auf Transaktionen von Privatpersonen entfallen seien.
Tatsächlich hatten russische Bürger bis zum 1. Juli 2023 Einlagen in Höhe von 6,36 Billionen Rubel bzw. 73 Milliarden Dollar bei ausländischen Banken geleistet. Dabei handelt es sich um einen Betrag, der in etwa dem entspricht, was Moskau bis zum August desselben Jahres für den Krieg ausgab.
Um sich nicht dafür rechtfertigen zu müssen, versucht der Kreml, den Konflikt mit dem Westen als eschatologischen Endkampf darzustellen. Der Krieg in der Ukraine wird als schicksalhaftes Ringen um das Überleben der russischen Zivilisation inszeniert, wobei ihr Triumph zu einem Naturgesetz verklärt wird.
Es ist wenig überraschend, dass diese ideologisch verbrämten Darstellungen wenig Anklang bei den alten Eliten finden. Aus diesem Grund neigen sie dazu, den Krieg in der Urkaine zu rationalisieren. Eine weit verbreitete Legitimationsschablone besagt, dass es sich um einen Kampf um Ressourcen handele, den Russland gewinnen müsse, weil es keine andere Option habe – ein Narrativ, das mittlerweile auch in westlichen Medien diskutiert wird.
Putins Offerte an die Oligarchen
Vor diesem Hintergrund erscheint Putins neuestes Angebot an die Eliten überaus vernünftig. Demnach verbleiben die Vermögenswerte bei ihren Eigentümern, sofern diese weiterhin loyal zur Staatsführung stehen. Bis zum Sommer 2023 war Putins Offerte die beste verfügbare Option am Markt. Trotz erheblicher materieller und menschlicher Verluste konnte der russische Präsident den Krieg gegen die Ukraine fortsetzen. Gleichzeitig hielt die politische und wirtschaftliche Elite dem Regime den Rücken frei.
Dennoch gilt auch in Russland der Grundsatz, dass Krieg mit einer signifikanten Verringerung der Ressourcen einhergeht. Das gilt für gleichermaßen für Menschen, Finanzen oder das politische Kapital, das der Präsident verteilen kann.
In Zeiten schwindender Ressourcen reicht bloße demonstrative Loyalität allein nicht mehr aus. Gerät das Moskauer Regime in eine systemische Krise, ist die Treue der alten Eliten gegenüber Putin keineswegs mehr garantiert. Daher sucht der Kreml perspektivisch eine neue Elite, auf die er sich vollumfänglich verlassen kann. Der Krieg und seine Verwerfungen bieten einen Anlass dafür.
Was das konkret bedeutet, zeigt das Folgende. Im Februar 2022 war es nicht notwendig, den Krieg öffentlich zu billigen. Doch schon einige Monate später sollte sich dies ändern. Die Präsidialverwaltung begann nun, die politische Einstellung von Unternehmen und deren Haltung zu überwachen. Regionale Behörden erstellten Berichte und rapportierten der Obrigkeit.
Bereits im Januar 2022 hatte Putin die Generalstaatsanwaltschaft angewiesen, die staatliche Kontrolle über strategische Unternehmen wiederherzustellen. Im Sommer tauchte sodann eine Liste von Vermögenswerten auf, die beschlagnahmt werden sollten. Die ersten Kandidaten für eine Verstaatlichung und eine anschließende Neuverteilung der Eigentumsrechte waren Unternehmen aus "unfreundlichen" Ländern.
Der im Jahr 2023 erfolgte Rückzug ausländischer Investoren gestaltet sich dabei als äußerst schwierig. Beim Verkauf von Vermögenswerten wurde nämlich ein Abschlag von 50 Prozent ihres Werts vorgenommen; ein Zehntel musste dabei an den Staatshaushalt abgeführt werden.
Staatsmacht robuster als zu Kriegsbeginn
Doch selbst das könnte schon bald nicht mehr ausreichen. Ein spezielles Gremium, genauer gesagt der "Unterausschuss der Regierungskommission für die Kontrolle ausländischer Investitionen in der Russischen Föderation", kann jeden Geschäftsabschluss stoppen, während die Ausstiegsbedingungen kontinuierlich verschärft werden.
Dadurch ist es einfacher, zu einem symbolischen Betrag zu verkaufen und die Verluste abzuschreiben, als nach Möglichkeiten zur Rettung der Investitionen zu suchen. Ebenso bemerkenswert ist, dass der rechtliche Teil dieser Arbeit von denselben Beamten durchgeführt wird, die vor dem Krieg für die Anwerbung ausländischer Investoren zuständig und früher im Handelssektor sowie in ausländischen Unternehmen tätig waren.
Der von Putin geformte Staat hat einen Rechtsrahmen geschaffen, der die Verstaatlichung ausländischer Vermögenswerte ermöglicht. Er erlaubt die Übertragung von Vermögenswerten ausländischer Unternehmen an "Rosimuschtschestwo" zur Verwaltung als Reaktion auf ähnliche Maßnahmen westlicher Länder.
Das neue Management, das dem Putin-Vertrautem Igor Setschin nahesteht, hat bereits die russischen Unternehmen Fortum aus Finnland und Juniper aus Deutschland vereinnahmt. Die Vermögenswerte des französischen Unternehmens Danone sind hingegen an den Neffen Ramsan Kadyrows gegangen. Der Baltika-Konzern, der dem dänischen Unternehmen Carlsberg gehört, wurde von Putins altem Bekannten aus St. Petersburg, Teimuras Bollojew, geleitet.
Die obigen Ausführungen bilanzierend, lässt sich sagen, dass die von Wladimir Putin und seiner Regierung verkörperte Staatsmacht deutlich robuster ist, als man zu Beginn des Krieges annehmen durfte.
Angst vor Kadyrows Tod?
Moskaus Krisenmanagement umfasst nicht nur ein geschicktes Taktieren gegenüber den alten Eliten des Landes und eine wirksame politische Indoktrinierung der Bevölkerung. Vielmehr hat es der Kreml auch geschafft, die russische Wirtschaft zu konsolidieren und Honig aus dem Abzug ausländischer Investoren zu saugen. Mit der Liquidierung Jewgenij Prigoschins hat Putin ferner deutlich gemacht, dass Abweichlern kein Pardon gewährt wird.
Gleichwohl droht Putin mit Ramsan Kadyrow nun seinen loyalsten Zerberus zu verlieren. Der tschetschenische Präsident soll wegen Nierenversagen im Koma liegen. Kadyrows Tod könnte die teuer erkaufte Stabilität in der berüchtigten Kaukasusrepublik aus den Angeln heben. Ein dritter Tschetschenienkrieg wäre nicht ausgeschlossen.
Ansonsten deutet jedoch nichts darauf hin, dass die politischen Zeichen in Russland bald auf eine neue Ordnung gestellt werden könnten. Stattdessen zeichnet sich ab, dass Wladimir Putin auch weiterhin fest im Sattel sitzt. Eine Fortsetzung seiner Amtszeit als Präsident ab 2024 ist daher das wahrscheinlichste Zukunftsszenario.
Selbst wenn Russland den Krieg in der Ukraine bis dahin nicht siegreich beendet haben sollte, wäre das kein Problem. Wladimir Putin würde sein Ausfechten einfach zur Aufgabe seiner nächsten Legislatur erklären. Den Grund dafür hat ja er bereits mehrfach erklärt: Es gehe um das Überleben der russischen Zivilisation.