Gastautor / 29.11.2024 / 12:00 / Foto: Imago/Montage Achgut.com / 110 / Seite ausdrucken

Justiz: Ein Urteil und das Tor zur Hölle

Von Matthias Guericke.

Lebt der Rechtsstaat noch? Angesichts des Urteils des Bundesgerichtshofs  im Verfahren gegen den "Maskenrichter" Christian Dettmar drängt sich diese Frage auf.

Die Frage nach dem Ende des Rechtsstaats, die angesichts des nahezu flächendeckenden Versagens der Justiz in der Coronakrise, von den Verwaltungsgerichten über die Verfassungsgerichte bis hin zur Strafjustiz, immer wieder gestellt wird, ist vor allem Ausdruck einer maßlosen Enttäuschung über die Justiz, als bloßer Begriffsstreit ist sie aber ziemlich fruchtlos. Was hier hilft, ist Differenzierung:

Wer als Mieter gegen eine Kündigung, als Vermieter auf Räumung, als Handwerker auf Werklohn oder als Unfallopfer auf Schadensersatz klagt, aber auch, wer als Angeklagter nach einer Trunkenheitsfahrt oder wegen Körperverletzung vor Gericht steht, hat in Deutschland nach wie vor begründete Aussichten auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren, in dem das Recht zur Durchsetzung kommt. Dieser Anspruch wird sicher nicht immer erfüllt, aber doch in vielen Fällen.

Wenn es aber politisch wird, wenn es um Kritik am Staat, an der Regierung oder auch nur an einzelnen Politikern geht, sehen die Dinge anders aus. Dann gilt für die Justiz seit 2020, was bei Dante auf dem Tor zur Hölle steht: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“

Dabei sind es nicht die Lebensfremdheit der entscheidenden Richter (die mag es auch geben) und nicht ein Mangel an juristischer Kompetenz (kommt auch vor), die hier zu Urteilen führen, die die Grenzen des juristisch für möglich Gehaltenen und Vertretbaren regelmäßig sprengen. Es ist die Unfähigkeit, dem Konsensdruck der politisch Mächtigen, den tatsächlichen oder auch nur vermuteten Erwartungen der politmedialen Öffentlichkeit und dem ubiquitären Hang zum Konformismus innerhalb der Justiz zu widerstehen, die bei Verfahren mit politischer Relevanz regelmäßig zur Missachtung des juristischen Handwerks, zum Bruch juristischer Logik, zu sprachlos machender Ignoranz gegenüber unerwünscht erscheinenden Tatsachen und Argumenten und zum Verlust des Gespürs für Verhältnismäßigkeit führt. Das alles hätte in früheren Zeiten kaum ein kundiger Beobachter für möglich gehalten. Die Justiz ist – Ausnahmen bestätigen wie immer die Regel – Verfahren mit politischer Relevanz nicht gewachsen.

Der 2. Senat wollte das Verfahren beenden, aber nicht mit einem Freispruch

Nur vor diesem Hintergrund lässt sich das Urteil des 2. Senats des Bundesgerichtshofs gegen Christian Dettmar verstehen. Das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 23.08.2023 ist so schlecht begründet, dass die Hoffnung bestand, der BGH könne ein solches Urteil, auch wenn er wollte, allein um seinen Ruf zu schützen, nicht in der Revision bestätigen. Auch dass zwei renommierte Strafrechtsprofessorinnen in einer maßgeblichen juristischen Fachzeitschrift einen Aufsatz (1) zu dem erstinstanzlichen Urteil veröffentlichten, in dem sie die Aufhebung des Urteils als zwingend beurteilten und dies ausführlich begründeten, wurde als Hoffnungszeichen gewertet. Ganz deutlich in Richtung Urteilsaufhebung schienen aber die Zeichen zu stehen, als selbst der Generalbundesanwalt die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und die Rückverweisung an eine andere Kammer des Landgerichts Erfurt beantragte. Nach diesem Antrag konnte man meinen, dass es nur noch um die Frage gehe, ob die Sache zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Erfurt zurückverwiesen oder der Angeklagte vom BGH freigesprochen wird, was das Ende des Verfahrens bedeutet hätte.

Der 2. Senat wollte das Verfahren in der Tat beenden, allerdings nicht mit einem Freispruch. Die Begründung ist überraschend: Während es bisher ständige Rechtsprechung des BGH war, dass es bei Verstößen gegen Verfahrensvorschriften für die Frage, ob eine elementare Rechtsverletzung im Sinne von § 339 StGB vorliegt, auf eine wertende Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände ankommt,(2) erklärte er hier, dass die Motive des Angeklagten und die Frage, ob der erlassene Beschluss materiell rechtskonform war, irrelevant seien. Das heißt: Ob es dem Angeklagten darauf ankam, Kindeswohlgefährdungen abzuwenden oder nicht, ob die Maskenpflicht in der Schule wirksam war oder nicht, ob sie das Kindeswohl gefährdete oder harmlos war, im Ergebnis verhältnismäßig oder verfassungswidrig, soll alles irrelevant für die Frage der elementaren Rechtsverletzung sein.

Die (angeblichen) Verfahrensverstöße – bei der mündlichen Urteilsbegründung blieb hier vieles im Ungefähren, hervorgehoben wurde aber, dass der Angeklagte Sachverständige von seiner privaten E-Mail-Adresse angeschrieben habe (!) – seien so schwerwiegend, dass es auf die weiteren Umstände nicht ankäme. Mit dieser Begründung wurde auch die Ablehnung eines Beweisantrages der Verteidigung durch das Landgericht, der auf die Aufklärung der tatsächlichen Fragen zu den Coronamaßnahmen abzielte, für rechtsfehlerfrei erklärt. Und nur mit dieser Begründung konnte der Bundesgerichtshof die Revision des Angeklagten verwerfen, denn die Frage, ob der Beschluss im Ergebnis materiell rechtskonform war, hatte das Landgericht eben nicht aufgeklärt.

Für eine endgültige Beurteilung muss man die schriftliche Urteilsbegründung abwarten, aber nach dem, was der mündlichen Urteilsbegründung durch die Vorsitzende des 2. Strafsenats und der Pressemitteilung des BGH zum Urteil zu entnehmen ist, hat der 2. Senat mindestens bei einer zentralen Frage des Rechtsbeugungstatbestandes unter der Hand die ständige Rechtsprechung des BGH aufgegeben, um die Revision des Angeklagten verwerfen zu können. Dass er auch die Freiheitsstrafe in Höhe von 2 Jahren nicht zu beanstanden hatte, überrascht dann nicht mehr.

 

Autor Matthias Guericke ist Mitglied des Netzwerkes KRiStA („Kritische Richter und Staatsanwälte“), wo dieser Beitrag zuerst erschien.

Das Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte (KRiStA) ruft zur Unterstützung von Christian Dettmar auf! Hier der Link zum Spendenaufruf und Spendenkonto.

Endnoten

(1) Hoven/Rostalski: Grenzen der Rechtsbeugung bei der Annahme von Befangenheit. Zugleich eine Anmerkung zu LG Erfurt – 2 KLs 542 Js 11498/21, NStZ 2024, 65.

(2) BGH 21.01.2021, 4 StR 83/20, juris Rn. 23; BGH 13.05.2015, 3 StR 498/14, juris Rn. 12; BGH 15.08.2018, 2 StR 474/17, juris Rn. 20. Wertende Gesamtbetrachtung heißt, dass alle Umstände in die Waagschale zu werfen sind und erst danach entschieden werden kann, ob eine elementare Rechtsverletzung vorliegt. Ein für sich genommen nicht ausreichend gewichtiger Verfahrensverstoß kann durch hinzukommende verwerfliche Motive des Angeklagten das erforderliche Gewicht gewinnen, umgekehrt können aber positiv zu würdigende Motive die Bewertung als elementaren Rechtsverstoß verhindern. Ebenso muss, wenn die Entscheidung im Ergebnis rechtskonform war, dies immer in der Gesamtbewertung zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden.

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Leserpost

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Sam Lowry / 29.11.2024

Link anklicken, Geld überweisen. Fertig. Mehr kann man nicht machen, außer seine Solidarität mit einer kleinen Spende bekunden. Er hat es verdient! Ich bin grad dabei und bitte um Nachahmer…

Ludwig Gummel / 29.11.2024

In totalitären Staaten herrscht natürlich eine politische Justiz, was sonst. Braucht man nicht x-mal diskutieren. Die Frage die sich stellt ist, wie können wir uns mit dem Rechtsstaat solidarisch zeigen und Herrn Dettmar unterstützen.

Wolf Köbele / 29.11.2024

Im Unterricht (Sozialkunde) haben wir Legalität von Legitimität zu unterscheiden gelernt. Daß der Rechtspositivismus alle Maßnahmen des NS-Regimes für rechtmäßig erklären wird, muß für zwingend gehalten werden; denn alle Maßmahmen im Dritten Reich wurden durch Gesetze gestützt. Insofern war ein “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” Grundlage der Auffassung der Legalität der Ausgrenzung unerwünschter Beamter. Vergleiche zwischen “Damals” und dem “Heute” verbieten sich nicht!

Heiko Engel / 29.11.2024

@ Dörre: Salonintellektualismus führt in diesem Zusammenhang zu nichts. Es geht um eine, möglicherweise auch etwas vordergründige, Gewissensentscheidung. Und das Gericht hätte auch im Nachgang die tatsächliche Istsituation werten können. Der Frageansatz bleibt: hat es sich das BGH,  wieder mal, ein wenig leicht gemacht ? Im Sinne der Parteiendiktatur ? Machen wir es uns bitte nicht soooo einfach. Es geht im voll umfänglichen Sinne um ein Verbrechen gegen die Menschheit. Es wirkt höchst befremdlich sich hier auf die Seite der Agendaträger zu schlagen. Schlussendlich ging und geht es auch um die Beurteilung eines kriminellen Geschäftsmodells. Der Verweise auf Jaspers und Ahrendt, 1963 und die „Ausschwitz - Prozesse“. Auch da versagte Deutschland. Deutschland und die Gesellschaft in diesem Land sind gefordert Schritte vom Untertan zum Bürger zu vollziehen. Derartige Urteile scheinen da wenig hilfreich. Wenn Kapitalverbrechen der Exekutive ungesühnt bleiben, wird gesellschaftliche Entwicklung ausbleiben. Haftung und Verantwortung gibt es nicht zum Nulltarif. Berücksichtigen Sie dieses bitte unbedingt. . Die Motivation der Staatstragenden dahinter ist doch für jeden Aufmerksamen ersichtlich. Schönes Wochenende !

kai marchfeld / 29.11.2024

Die Übergriffigkeit der Politik hinein in die Rechtsprechung begann m.E. bereits 2012 so richtig an Fahrt aufzunehmen: Nach dem Beschneidungsurteil des LG Köln. Seither sind in diesem Land viele Seltsamkeiten möglich, die mir vorher undenkbar schienen.

Lao Wei / 29.11.2024

Bis auf ganz wenige Ausnahmen - Richter Dettmar ist eine jener Persönlichkeiten - waren Schwerindustrie sowie Justiz seit jeher die Hure der Politik. Im übrigen bin ich der Meinung, irdische Rechtsgelehrte müssen sich spätestens am „jüngsten Tag“ verantworten; Gott sei Dank, nicht vor Allahhhhhh.

Sabine Meyer / 29.11.2024

Man muß sich ja nur die Geburtsjahrgönge dieser “woken” Juristen anschauen. Die 68iger lassen grüßen. Sagte da nicht mal einer, sie haben alles unterwandert? Legislative, Exekutive und Judikative, und das wird noch Jahrzehnte dauern alles auszumisten.

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