Ex-EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gab in einem Interview interessante Einblicke in die Art, in der die EU-Führung Politik macht. Und seine aufschlussreichen Erzählungen helfen, den Konflikt zwischen Trump und Selenskyj zu verstehen.
Fast könnte man meinen, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe den Ratschlag des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker beherzigt: Dieser hat den europäischen Politikern nämlich dazu geraten, ihre eigenen Interessen gegenüber US-Präsident Donald Trump selbstbewusst zu vertreten. Juncker erklärte am 28. Februar in einem Podcast von t-online, dass Trump Widerspruch brauche. Trump weiche in seinem Führungsstil von früheren US-Präsidenten wie Bill Clinton oder Barack Obama ab: Er verstehe Politik als Geschäft. Er rede nicht von Agreements, sondern von Deals.
Juncker empfiehlt daher, sich auf diesen Verhandlungsstil einzulassen. Dadurch – so prahlt Juncker – sei es ihm 2018 gelungen, dass Trump von seiner Drohung, gegenüber der EU Strafzölle zu erlassen, wieder abgerückt sei. Er, Juncker, habe genau gewusst, in welchen republikanisch geführten Staaten Produkte zu finden sind, die, falls man sie mit Zöllen belegt, den Amerikanern weh tun, und habe deswegen seinerseits Zölle auf Blue Jeans, auf Whisky und auf Harley Davidson angekündigt. Wörtlich sagte Juncker: „Man muss sich wie der Dealmaker benehmen, tough in der Sache argumentieren und die Karten, die man hat, nicht im Ärmel verstecken, sondern auf den Tisch knallen. Das geht gut, wenn man das richtig macht. So habe ich das auch gemacht.“
Auf den Tisch geknallt hat nun auch Selenskyj. Allerdings Karten, über die er gar nicht verfügt. So mahnte Trump im denkwürdigen Disput im Weißen Haus, der ebenfalls am 28. Februar stattfand, mehrfach an, dass Selenskyj in keiner guten Position sei: Selenskyj habe „keine guten Karten“. Und ohne die USA habe er „überhaupt keine Karten“. Der Juncker-Trick mit dem Karten-auf-den-Tisch-Knallen hat bei Selenskyj also eher nicht geklappt. Was in der Tat daran gelegen haben mag, dass Selenskyj seine Karten gegenüber den USA nicht gerade realitätsbezogen eingeschätzt hat.
Selenskyjs Drohung, dass Amerika die Aggression Russlands auch noch zu spüren bekommen werde, lässt sich jedenfalls nicht gerade als Trumpf bezeichnen. Ob Juncker nun zufrieden ist mit Selenskyj? Vielleicht doch nicht allzusehr. Immerhin gab Juncker gegenüber t-online zu bedenken, dass man Trump zwar oft widersprechen, ihm aber mit Respekt begegnen müsse. Karten-auf-den-Tisch-Knallen allein war also selbst für Juncker nicht die einzige Taktik. Eindeutig positiv bewertet Juncker hingegen den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der Trump kürzlich öffentlich korrigiert hatte. Das sei der „richtige Umgang“ mit Trump.
Schweiz „ein geostrategisches Unding“
Juncker ist bekanntlich schon in der Vergangenheit mit markigen Sprüchen aufgefallen. Gegenüber der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ sagte er beispielsweise im Dezember 2010, dass die Schweiz „ein geostrategisches Unding“ sei. Juncker sprach sich damals vehement für einen EU-Beitritt der Schweiz aus. Auch sonst setzt er auf mehr Vergemeinschaftung in der EU, zum Beispiel auf die Vergemeinschaftung von Schulden: Stichwort Eurobonds. Europäische Staatsanleihen, bei denen die Staaten der Eurozone gemeinsam Geld an internationalen Finanzmärkten aufnehmen und für diese Schulden gemeinschaftlich haften würden, wären ganz im Sinne Junckers. Und das sind keine ollen Kamellen, sondern in dieselbe Richtung zielt der aktuelle Draghi-Bericht, auf den sich die derzeitige EU-Kommission in ihrem neuen „Kompass für Wettbewerbsfähigkeit“ stützt.
Den Euro bezeichnet Juncker als „Friedenspolitik“. Dabei hebt er durchaus realistisch die Sonderstellung Deutschlands hervor. Er stellt treffend fest, dass die deutsche Infrastruktur erstaunlich „unterentwickelt“ sei. Dies habe jedoch mit der restriktiven deutschen Haushaltspolitik zu tun, die er im Prinzip begrüße. Denn wenn Deutschland sich auch noch in die zu lange Reihe der europäischen Schuldenländer einreihen würde, stünde es um den Euro „weniger gut“. Wenn es immer noch 27 unterschiedliche nationale Währungen und Zentralbanken geben würde, wäre die EU „total zerstritten“, da sich die Deutsche Mark von den anderen europäischen Währungen abheben würde.
Mit anderen Worten: Deutschland soll an der eigenen Infrastruktur sparen, damit es die anderen EU-Länder nicht tun müssen. Das ist bemerkenswert ehrlich. Doch Juncker rutschen immer wieder mal aufschlussreiche Eingeständnisse heraus. Geradezu Kultstatus hat sein Bonmot aus den späten 90er-Jahren gewonnen, als er unumwunden zugab: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“
Vergemeinschaftung und Zentralisierung.
Jedenfalls ist Juncker froh darüber, dass es dank der „orthodoxen“ Haushaltsführung Deutschlands kein „währungspolitisches Tutti Frutti in Europa“ gibt. Tief blicken lässt auch eine Anekdote, die er t-online gegenüber auftischt: So habe er einst den amerikanischen Finanzminister von der Einführung des Euro überzeugen wollen. Dieser habe jedoch nichts davon wissen wollen, da es dazu nie kommen werde. Zwei Jahre später sei er, Juncker, wieder in Washington gewesen. Dort habe er in seinem Hotel einen Telefonanruf des amerikanischen Finanzministeriums bekommen: Der Finanzminister wolle ihn morgen früh um 9 Uhr sehen, um über den Euro zu reden. Juncker habe ihm jedoch stolz geantwortet: „Ich habe aber morgen früh um 9 Uhr keine Zeit.“ Er habe den Minister dann am nächsten Abend getroffen. O-Ton Juncker: „Ich kam mir als Luxemburger noch fast nie so groß vor wie in dem Moment, wo ich dem Terminwunsch des amerikanischen Finanzministers nicht nachgekommen bin.“ Großartig!
Und genauso schwebt Juncker (und nicht nur ihm!) eine gemeinsame europäische Armee vor, für die er schon 2015 plädiert hatte. In Europa gebe es 174 verschiedene Waffengattungen – in den Vereinigten Staaten nur 34. Das Beschaffungswesen in Europa gewönne an Leichtigkeit, wenn es zentral in europäische Hände gelegt würde. Dadurch könnten 100 Milliarden Euro pro Jahr eingespart werden. Die Europäer müssten auch ihre Verteidigungsanstrengungen nach oben korrigieren. Die europäischen Verteidigungshaushalte seien „zu mickrig, um als ernsthafter Faktor in der Welt ernst genommen zu werden“. Es gebe eigentlich nur zwei Armeen in Europa, die wirklich einsatzbereit seien: die britische und die französische. Die Bundeswehr würde hingegen eine lange Vorlaufzeit benötigen, bevor sie überhaupt in Aufstellung gehen könnte. Das Credo Junckers wie auch der aktuellen EU-Kommission lautet also: Vergemeinschaftung und Zentralisierung.
Doch wie lassen sich diese hehren Pläne in der Realität umsetzen? Dazu noch eine dritte Meldung vom 28. Februar: Laut der Analyse der Unternehmensberatung Kearney fehlt es der EU massiv an Fachkräften in der Rüstungsbranche. Selbst wenn die EU ihre Militärausgaben drastisch erhöhen würde, um unabhängiger von den USA zu werden, würden, falls das derzeitige NATO-Ziel der Rüstungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erfüllt werden soll, rund 163.000 Fachkräfte fehlen. Sollten die Ausgaben – wie in NATO-Kreisen diskutiert – auf drei Prozent steigen, könnten sogar ungefähr 760.000 Stellen in der Rüstungsindustrie nicht besetzt werden.
Besonders stark betroffen wären technologische Schlüsselbereiche wie etwa die elektronische Kriegsführung. Ohne eine Lösung des drohenden Fachkräftemangels sind die strategischen Verteidigungsziele der EU demnach schlichtweg nicht realisierbar. Für ihre Analyse ging die Unternehmensberatung davon aus, dass genauso viele Waffen in den USA wie bisher eingekauft werden. Wenn sich die EU jedoch von Amerika unabhängiger machen möchte, müsste sich der lokale Anteil der Rüstungsausgaben noch drastisch steigern, was aber wiederum die Personalknappheit weiter verschärfen würde.
Auf der Ukraine-Konferenz in London am Sonntag bekräftigten die europäischen Staats- und Regierungschefs derweil ihre militärische Unterstützung für die Ukraine. Allerdings steht nun plötzlich doch auch ein Waffenstillstandsabkommen im Raum, das aber zunächst ohne Trump verhandelt werden soll. Die amtierende EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte einen akuten Plan für die Wiederaufrüstung Europas an. Und noch im März will die EU-Kommission ein Weißbuch zur Zukunft der europäischen Verteidigung vorlegen. Bleibt zu hoffen, dass die EU-Führungsriege das Tischtuch zwischen der EU und den USA nicht allzu sehr zerschneidet!
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.