Jonathan Richman, von manchen als wahrer Begründer der Punk-Bewegung verehrt, ging musikalisch immer seine eigenen Wege, die mitunter ähnlich exzentrisch waren wie er selbst.
Es gibt Leute, die behaupten, Jonathan Richman habe den Punk erfunden und bezeichnen ihn – und nicht etwa Iggy Pop, Joey Ramone oder Johnny Rotten – als den wahren Godfather of Punk. Wer ihn allerdings nur aus der US-Komödie „Verrückt nach Mary“ von 1998 kennt, wo er die Handlung des Films musikalisch kommentiert, oder lediglich seinen 1978er-Superhit „Egyptian Reggae“ im Ohr hat, der noch dazu ein Instrumental ist, hat ohnehin einen ganz falschen Eindruck von ihm. Obgleich er immer wieder einmal ein Instrumentalstück geschrieben hat, sind die allermeisten seiner Songs mit Gesang. Und Richman ist (weiß Gott!) ein außerordentlich leidenschaftlicher und hingebungsvoller Sänger. Ich möchte sogar sagen: Niemand hat sich stets so sehr bemüht, schön zu singen – und ist dabei so charmant gescheitert – wie Jonathan Richman. Die Stimme des 1951 in der Nähe von Boston geborenen Amerikaners klingt nasal, um nicht zu sagen verschnupft, und er trifft kaum einen Ton, so dass man sich fragt, wie sich so einer überhaupt zu singen traut. Höchst unterhaltsame Selbstüberschätzung! Aber das ist alles vollkommen egal, denn das Feeling stimmt bei Jonathan immer tausendprozentig. Und bei allem tatsächlichen oder vermeintlichen Unvermögen ist er nicht nur ein liebenswertes Original, sondern auch ein begnadeter Songwriter und Entertainer.
Bevor sich Richman jedoch dem Wahren, Schönen und Guten verschrieb, war er am düsteren Avantgarde-Rock seiner New Yorker Vorbilder The Velvet Underground orientiert. Monotoner Rhythmus, schrammelige Gitarren und mehr Sprech als Gesang – genau so wollte er mit seinen Modern Lovers auch klingen. Und als er mit Schlagzeuger David Robinson (später The Cars), Keyboarder Jerry Harrison (später Talking Heads) und Bassist Ernie Brooks die richtigen Leute zusammenhatte, stand dem nichts mehr im Wege – außer dem Zeitgeist. Während zu Beginn der Seventies die Hippie-Mode endgültig zum Mainstream geworden war, lief Jonathan Richman mit kurzen Haaren und im Anzug mit weißem Hemd und Krawatte herum (ein Look, den sich später David Byrne und seine Talking Heads von ihm abschauen sollten – und auch die britischen Punks der ersten Stunde trugen in provokativer Abgrenzung zu den Hippies gerne alte Anzüge und Krawatten). In einem Interview erinnert sich Brooks, dass ihm eines Tages sein Mitbewohner Jerry Harrison erzählte, dass am Cambridge Commons ein völlig durchgeknallter Typ steht und Gitarre spielt, aber irgendwie ziemlich cool rüberkommt.
Jonathan Richman wirkte damals wie jemand, der aus der Zeit gefallen war. Auch seine Texte und die Themen, über die er sang, waren alles andere als gewöhnlich. In seinen Songs ging es oft um ganz alltägliche Dinge wie Läden, Leuchtreklame, Radiohören oder Autofahren. Und natürlich ums andere Geschlecht, dem der junge Jonathan extrem verunsichert gegenüberstand. In einem seiner frühen Songs mit dem Titel „I'm Straight“ mimt er den schüchternen Verehrer, der seinen ganzen Mut zusammennimmt und seine Flamme anruft, um ihr vorzuhalten, dass sie immer mit dem zugekifften „Hippie Johnny“ herumhängt, der „always stoned“ ist, anstatt mit ihm, der mit Drogen nichts am Hut hat und „straight“ ist. Bei Auftritten erntete er mit solchen Messages auch schon mal Pfiffe und Buhrufe. Und überhaupt hatte es der exzentrische Außenseiter mit seinem Publikum nicht immer leicht. So gut wie bei jedem Konzert gab es eine Reihe von Zuschauern, die mit ihm und seiner schrulligen Art nichts anfangen konnten und kopfschüttelnd den Saal verließen.
Von proto-punkig bis kauzig
Nichtsdestotrotz begannen sich schon bald Talentsucher diverser Plattenfirmen für die Modern Lovers und ihren verschrobenen Sänger zu interessieren. Im April 1972 wurde die Band nach Los Angeles eingeladen, um gleich für zwei Labels Probeaufnahmen zu machen. Auf die für Warner Brothers freuten sich Richman und seine Jungs ganz besonders, da sie mit dem Ex-Velvet Underground Bassisten und Multiinstrumentalisten John Cale zusammenarbeiten durften. Cale ließ die Band im Studio praktisch live spielen und gab nur den Toningenieuren Anweisungen, wie sie die Mikrofone zu positionieren hätten. Dabei entstanden so unsterbliche Aufnahmen wie das proto-punkige „Roadrunner“ mit dem legendären Einzähler „one, two, three, four, five, six“ oder das kauzige „Pablo Picasso“, welches später unter anderem von Cale selbst wie auch von David Bowie gecovert wurde und bei dem sich Richman darüber mokiert, dass der notorische Womanizer Picasso nie, wie so manch Anderer, als Arschloch bezeichnet wurde. Die andere Demo-Session war für das Label A&M und wurde von Alan Mason und Robert Appere produziert. Im Rahmen dieser Aktion entstanden lediglich drei Songs, die jedoch auch allesamt von sehr guter Qualität waren. Die bei den beiden Sessions aufgenommenen Stücke waren allerdings nur als Demos für die Plattenfirmen gedacht und sollten gegebenenfalls später, unter besseren Bedingungen, noch einmal richtig produziert werden.
Was damals aber noch niemand ahnen konnte, war, dass es die einzigen brauchbaren Studioaufnahmen aus der Anfangsphase der Modern Lovers bleiben würden, die zudem einen lebhaften Eindruck davon vermitteln, wozu die vier Modern Lovers als Live-Band fähig waren. Denn schon bald sollten sich die Dinge ganz anders entwickeln: Bei einem Engagement auf den Bermudas, wo die Modern Lovers in einer Hotelanlage zur Unterhaltung der Hotelgäste aufspielten – deren Gesichter hätte ich gerne gesehen –, hatte Richman ein musikalisches Erweckungserlebnis. Als die Showband The Bermuda Strollers auf die Bühne ging und loslegte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Mit einem Mal wurde ihm klar, wie steif und verbissen seine eigene Musik war, im Vergleich zu der lockeren, eingängigen und tanzbaren Stimmungsmusik jener Altherrenband. Von da an hörte er alles, was er und seine Band machten, mit ganz anderen Ohren. Ihre Musik war zu hart, zu laut, zu negativ. Musik müsse angenehm sein. Sie dürfe niemanden verschrecken; vor allem keine Kinder. Und sie müsse Spaß und Lebensfreude ausstrahlen.
Infolgedessen hielt Richman seine Bandmates an, ihre Verstärker leiser zu stellen und nicht mehr zu verzerren. Auch das Schlagzeug müsse leiser gespielt werden und sei notfalls mit Decken oder Handtüchern abzudämpfen. Ganz nach dem Motto: Was gut ist, ist auch leise gut. Die anderen Modern Lovers waren von Richmans neuem Spleen jedoch wenig begeistert. Sie fanden es gut, wie es war, und wollten harten Garage Rock spielen. Und so markierte der Bermuda-Ausflug letztlich den Anfang vom Ende der Band. Aber niemand kann die Geschichte schöner erzählen als Jonathan selbst, wenn er in seinem „Monologue About Bermuda“ vom 1991er-Album „Having a Party with Jonathan Richman“ auf seine unvergleichliche Art, gewissermaßen im Selbstgespräch aus dem Nähkästchen plaudert.
Verwandlung vom Avantgarde-Rocker zum Sonnyboy
Etwa zur selben Zeit, als die Modern Lovers zu den Bermudas aufbrachen, hatte sich Warner dazu entschlossen, sie unter Vertrag zu nehmen. Und so waren schon bald nach ihrer Rückkehr neuerliche Studioaufnahmen mit John Cale angesagt. Der musste jedoch verdutzt feststellen, dass nichts mehr so war wie vorher. In der Band herrschte dicke Luft, und Richman vertrat plötzlich die seltsamsten Ansichten hinsichtlich der musikalischen Grundausrichtung. Jede Einzelheit wurde von ihm infrage gestellt und musste langwierig ausdiskutiert werden. Als Cale ihn beispielsweise bei einem Stück dazu anhielt, aggressiver zu singen, so als wolle er jemanden umbringen, entgegnete ihm Richman, dass er aber niemandem weh tun wolle und dass er eine schöne, fröhlich klingende Platte machen wolle.
Ohne auch nur ein einziges Stück fertiggestellt zu haben, musste sich Cale entnervt eingestehen, dass es für ihn hier nichts mehr zu tun gab und es das beste sei, die Aufnahmesession sofort abzubrechen. Warner wollte die Hoffnung jedoch noch nicht ganz aufgeben und engagierte den erfahrenen Musiker und Produzenten Kim Fowley, der mit den Modern Lovers ebenfalls schon einmal gearbeitet hatte. Auch Fowley bemerkte, dass sich etwas geändert hatte, zeigte sich aber zugänglicher für Richmans neue Vision. Und so entstanden im Oktober des Jahres 1973 noch einmal neue Aufnahmen der alten Songs (wie auch ein paar neuer), mit leicht entschärften Texten und etwas zurückgenommener Power, aber immer noch im kraftvollen und rauen Gewand des ursprünglichen Modern Lovers-Sounds.
Richman machte der Plattenfirma gegenüber jedoch keinen Hehl daraus, dass er nicht mehr bereit war, die Stücke so auch live auf der Bühne zu performen. Als Warner Brothers schließlich merkten, dass er es damit wirklich ernst meinte, kündigten sie den Vertrag auf und ließen die Modern Lovers endgültig fallen. Fowleys Aufnahmen erschienen erst 1981 unter dem Titel „The Original Modern Lovers“ auf seinem eigenen Mohawk-Label. Eine Auswahl der Aufnahmen von Cale, Mason und Appere von 1972 wurden ebenfalls mit jahrelanger Verspätung auf eine Platte gepresst, die als „The Modern Lovers“ im Jahr 1976 auf dem Independent-Label Beserkley Records veröffentlicht wurde. Dieses Album sollte einen enormen Einfluss auf die Punk-Bewegung ausüben und Richmans Reputation als Erfinder des Punks begründen. Und als die Sex Pistols dann die Modern Lovers-Nummer „Roadrunner“ coverten, war Richman musikalisch längst schon ganz woanders. Mit neuer Band und neuen Songs hatte er seine Verwandlung vom Avantgarde-Rocker zum – immer noch reichlich skurrilen – Sonnyboy wahrgemacht. Mit seinen neuen Modern Lovers spielte er fluffigen, 50er-Jahre-inspirierten Rock'n'Roll und selbstgeschriebene Kinderlieder, in denen es um den „Ice Cream Man“ oder summende Insekten und kleine Dinosaurier ging. Mit Vorliebe trat er damit auch in Kindergärten oder Altenheimen auf; leise – mit akustischen Instrumenten und Handtüchern auf dem Schlagzeug.
YouTube-Link zum Anti-Kiffer-Song „I'm Straight“
YouTube-Link zum proto-punkigen „Roadrunner“
YouTube-Link zum Albumtrack „Pablo Picasso“ mit witzigem Tanzvideo
Und als Bonbon noch der YouTube-Link zum köstlichen „Monologue About Bermuda“ von 1991, in dem Jonathan die Geschichte seines musikalischen Erweckungserlebnisses erzählt; illustriert mit einem liebevoll gemachten Fan-Made-Video. That's Entertainment!