Ein Interview am vergangenen Freitag sollte Joe Biden wieder Luft verschaffen. Seine Bemerkung, nur Gott könne ihn zum Rücktritt auffordern, rief in einem Land, das auf gewählte und nicht auf gottberufene Repräsentanten Wert legt, erneut Kopfschütteln hervor.
Um Joe Biden steht es schlechter als bisher gedacht. Er verliert nicht nur den Faden, wenn er redet; auf eindeutige Fragen antwortet er nicht bloß mit Wortfetzen, die keinen Sinn ergeben; er wirkt vor der Kamera nicht nur wie weggetreten, als stünde er bereits mit einem Bein im Jenseits, was mit 82 Jahren so verwunderlich nicht wäre. Jeder, ob Mann oder Frau, hat das gute Recht, sich dem Alltag im Greisenalter mit geistigen Aussetzern phasenweise zu entziehen. Das mag peinlich wirken für den Moment, darüber mögen die Jüngeren den Kopf schütteln, ein Grund, die gelegentlich Verwirrten unter ärztliche Aufsicht zu stellen, sie in der Irrenanstalt unterzubringen, ist das nicht.
Als er aber Ende vergangener Woche gefragt wurde, ob er bereit wäre von seiner Kandidatur um das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten zurückzutreten, würden ihn „führende“ Vertreter seiner eigenen Partei, der „Demokraten“, dazu auffordern, antwortet er – diesmal ohne Stammeln und Aussetzer: „Wenn der allmächtige Gott vom Himmel herunter kommt und sagt, Joe tritt zurück, dann ja“. Wer sich aber nur von Gott etwas sagen lassen will, sich nur von ihm den Anspruch auf das Amt streitig machen lässt, der wähnt sich selbstverständlich von einer über den Menschen und der Welt schwebenden Instanz berufen – ein Präsident von Gottes Gnaden, genauso so, wie sich die Aristokraten im europäischen Absolutismus verstanden.
Purer Anachronismus und ein Verrat an der Geschichte der USA. Waren es doch Menschen, die genau deshalb, weil sie die Nase voll hatten von Kaisern und Königen, von deren sich göttlich dünkender Herrschaft, auf der Suche nach einer freieren, selbstbestimmten Existenz von der alten in die neue Welt segelten. 1788 erklärten sie sich unabhängig vom britischen Königreich, der einstigen Kolonialmacht.
In der Verfassung, die sie sich gaben, war keine Regierung von Gottes Gnaden mehr vorgesehen. Gestützt lediglich auf die Stimmen freier Wähler entstand die mächtigste Demokratie der Welt. Hält Joe Biden sich nun von vornherein für den „am besten Geigneten“, glaubt er, sich mit dem Lieben Gott im Bunde, von ihm erwählt zu sein, dann bedroht er das bürgerliche Gemeinwesen grundsätzlich. Seiner Zeit ist er nicht weniger entrückt, als es der bayerische Märchenkönig zum Ausgang des 19. Jahrhunderts war, wobei der immerhin adligen Geblüts gewesen ist.
Die Deutschen müssen schauen wie sie die Kurve kriegen
Über Biden indessen lässt sich nur sagen: Er ist einem Größenwahn verfallen, gegen den der seines Kontrahenten Donald Trump geradezu vernünftig wirkt. Kommt hinzu, dass dieser Realitätsverlust nicht allein Amerika betrifft. Er bringt zugleich die Regierenden anderer Länder in Verlegenheit, die Deutschen zumal. Haben sie doch ungeachtet der Anzeichen drohender Demenz und Hybris alle Hände über Biden gehalten, ihn geradezu befeuert in der Annahme der Beste, der Berufene zu sein. Er sollte ihr Amerikaner sein, der bessere, den sie über den grünen Klee lobten, um den anderen, um Donald Trump als „Lügner“, „Betrüger“, vermeintlichen „Straftäter“, als ungehobelten Klotz umso düsterer aussehen zu lassen.
Nun aber ist die Zeit der albernen Witze über die Frisur eines Mannes, dem man sich nicht gewachsen fühlte, abgelaufen. Nun müssen die deutschen Verächter des amerikanischen „Großmauls“ bis hin zum Bundespräsident und dem Kanzler schauen, wie sie die Kurve kriegen, weg von Biden. Damit werden sie nicht gleich bei Trump landen, sich aber langsam drauf vorbereiten müssen, demnächst ihren Canossagang nach Washington anzutreten, vor die Tore des Weißen Hauses. Wie lange sie dort im Regen stehen, bis sie der von der Mehrheit der Amerikaner gewählte, nicht der göttlich erwählte Trump zwischen zwei Golfspielen vorlässt, wird man sehen.
Sollte es anders kommen und Biden mit Gottes Hilfe im Amt bleiben, wird es die Welt mit einem Präsidenten von Gottes Gnaden zu tun bekommen, mit einem der sich alles bis hin zum Nichtstun zutraut, weil er jegliche Bodenhaftung verloren hat. Doch soweit muss es nicht kommen, da die Amerikaner ihre Wahlentscheidung anders als die Deutschen weniger nach ideologischen Vorgaben als vielmehr nach den Erwägungen praktischer, zuvörderst wirtschaftlicher Vernunft treffen. Und da eben kann der zarte, fast schon durchsichtige Biden mit seinem bisweilen grobschlächtigen Gegner im Wahlkampf nicht mithalten; nur hoffen, der Allmächtige möge nicht zu schnell herabsteigen, um seinen Sohn Joe aus dem Spiel zu nehmen.
Dr. Thomas Rietzschel, geboren 1951 bei Dresden, Dr. phil, verließ die DDR mit einer Einladung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Er war Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FAZ und lebt heute wieder als freier Autor in der Nähe von Frankfurt. Verstörend für den Zeitgeist wirkte sein 2012 erschienenes Buch „Die Stunde der Dilettanten“. Henryk M. Broder schrieb damals: „Thomas Rietzschel ist ein renitenter Einzelgänger, dem Gleichstrom der Republik um einige Nasenlängen voraus.“ Die Fortsetzung der Verstörung folgte 2014 mit dem Buch „Geplünderte Demokratie“. Auf Achgut.com kommt immer Neues hinzu.