Jesko Matthes / 27.04.2021 / 14:00 / Foto: J.McNeeley/USN / 11 / Seite ausdrucken

Joe Biden und die vierzig Tage des Gabriel Baghradian

Man darf über neue US-Regierung denken, was man will. Manchen, auch in der Bundesregierung, wird ein wenig diplomatischer Schachzug Joe Bidens nicht gefallen, der in seiner Deutlichkeit an die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch Donald Trump grenzt: Biden nennt das armenische Massaker 1915–1917 das, was es ist: einen Genozid, einen Völkermord. Schon Adolf Hitler wird der Satz zugeschrieben „Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?" Bis heute tun einige Leute es offenbar nicht gern: Bei der Abstimmung des deutschen Bundestages zum Thema blieben Kanzlerin Angela Merkel, der damalige Vizekanzler Sigmar Gabriel und der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank Walter Steinmeier dem Votum fern. Und als verdienstvoll erwiesen sich: die Grünen und die AfD. Haben Sie je geglaubt, was Ihnen über die bundesdeutsche Demokratie an Vorurteilen beigebracht wird? Es hat Gründe, dass ich es nie tat.

Von etwas anderem möchte ich daher reden, denn, sofern auch sie ihn nicht kennen, haben die oben genannten Abwesenden einen ganz großen Roman versäumt: Die vierzig Tage des Musa Dagh von Franz Werfel. Im November 1933 erschien der Roman in Österreich – und wurde in Deutschland sofort verboten. Hätte es YouTube, Twitter oder Facebook bereits gegeben, so wäre der Einfluss der damaligen deutschen Regierung sicherlich groß genug gewesen, auch die Links, die Videos, die Tweets und die Rezensionen einfach verschwinden zu lassen. Hitler und seine Schergen müssen also von dem Roman erfahren und seinen Vertrieb in Deutschland unterbunden haben wie schon im Voraus ertappte Verbrecher. Denn Werfels Roman liefert geradezu die Blaupause für alle Maßnahmen von Entrechtung über Vertreibung und Deportation bis hin zur Vernichtung nahezu eines ganzen Volkes.

Ich liebe Werfels Roman, nicht nur, weil der Mann selbst eine der wichtigsten Stimmen expressionistischer Literatur und des späteren deutschsprachigen Exils darstellt, sondern weil dieser Roman ganz einfach glänzend geschrieben ist. Neben Einigem an Suspense bietet der Roman epische Breite und menschliche Dichte um einen akribisch recherchierten, historisch belegten Kern, vor allem aber eine ganze Grauzone zwischen echtem und erzwungenem Heldenmut, wirklichem und opportunistischem Verbrechertum und tiefe Einsichten in die immer gleichen Mechanismen, nach denen ein Staat die Spaltung seiner Gesellschaft gegen eine Minderheit ausnutzen kann, dazu gegen die Mehrheit derer, die durch Drohungen genötigt werden, wegzusehen.

Da ist zum Beispiel Tschausch Nurhan, der armenische Reserveoffizier der türkischen Armee, der vor der absurden, voller Humor und Ironie geschilderten Aufgabe steht, aus einem zusammengewürfelten Haufen armenischer Männer, unter ihnen auch Gauner und zwielichtige Gestalten, eine kleine, aber schlagkräftige Widerstandsarmee gegen die türkische Deportation zu drillen. Und gerade die Zweifelhaften erweisen sich immer wieder als die ideenreichsten Verteidiger des armenischen Nests auf dem Berg, der den vom Tode bedrohten Armeniern Fluchtpunkt ist und Schutz bietet, dem Musa Dagh.

Zuletzt entrechtet und wehrlos gegen die Willkür des eigenen Staates

Und ihr politischer und später auch militärischer Anführer, der Hauptdarsteller Gabriel Baghradian, Exil-Armenier, verheiratet mit einer Französin, hat es eigentlich nur aus traurigen familiären Gründen versäumt, rechtzeitig wieder ins Exil zu gehen und sich und seine Familie in Sicherheit zu bringen. Schon gleich zu Anfang des Romans beweist er seinen politischen Spürsinn, als er erfährt, dass das jungtürkische Regime, das sich eben noch mit den Armeniern verbrüderte, ihnen nun den türkischen Personalausweis – Teskeré, Inlandpass – aberkennen will. Auf einmal sieht sich Baghradian als ein Gefangener in seinem eigenen Staat, und zum ersten Mal in seinem Leben wird er konfrontiert mit seiner eigenen Impotenz. Und dazu die Sprache Werfels, am Ende dieser angstvoll, verständnislos, wie gelähmt und lieblos an der Seite der eigenen Frau durchwachten Nacht: „Jäh, mit einem Mal, begannen die Vögel ihr morgenschrilles Durcheinander." Ich war damals jung, unverheiratet und voller Flausen; Gabriel Baghradian verstand ich sofort. Und auch seine Frau, die mit all dem politischen Elend ihres Mannes auf die Dauer nichts zu tun haben wollte. Selbst den ekelhaften rothaarigen Müdir verstand ich, der Tod und Verderben über die Armenier bringen will, voller Hass und treuer Pflichterfüllung. In der meisterhaften Schilderung jedes einzelnen Charakters, mit nur ein paar expressionistischen Strichen, liegt Franz Werfels größte Kunst.

Mehr sei nicht verraten! Nur so viel: Als ich den Roman Mitte der 1990er Jahre erstmals las, konnte ich es nicht erwarten, abends nach Hause zu kommen, um die nächsten Seiten des fast eintausend Seiten starken Buches zu verschlingen. In einem Lüneburger Antiquariat gab es die wunderbare Erstausgabe in zwei weinroten Bänden. Ich griff zu. Es war Hochsommer, und bis kurz nach Sonnenuntergang saß ich lesend bei einem Glas Rotwein auf dem Balkon, abgemeldet von der Gegenwart. Die Zeit spielte keine Rolle. Meine Gegenwart waren auf einmal die furchtbaren Jahre des armenischen Genozids.

Man lernt viel aus diesem Buch: Wie ein Rechtsstaat langsam abgewickelt wird, seine Bürger weichgekocht werden, ihnen erst der Mund, dann das Zusammentreffen, schließlich die Arbeit und die Bewegungsfreiheit genommen werden, bis sie zuletzt entrechtet sind und wehrlos gegen die Willkür ihres eigenen Staates – es sei denn, sie begreifen es noch rechtzeitig und setzen sich doch zur Wehr. Werfels Roman ließ mich tatsächlich als einen anderen Menschen zurück, sensibler und misstrauischer gegenüber allem staatlichen Handeln, mutiger und widerständiger gegen alle Autorität und Willkür. Für mich wurde Werfels Roman daher auch zu einer dringlichen Empfehlung im Freundeskreis, von ganz links bis ganz rechts, denn er beschwört ganz nebenbei auch die Einigkeit der Demokraten über alle Anschauungen und Parteigrenzen hinweg, sogar um den Preis des persönlichen Scheiterns. Dieser Roman macht keinen Mut. Er lehrt Tapferkeit.

Am 24. April begingen die Armenier den Gedenktag ihres Holocaust. Ich lege Franz Werfels Roman allen ans Herz, die etwas über die Mechanismen der Entrechtung erfahren wollen – und dabei erstklassig unterhalten werden.

Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh, Roman, S. Fischer Verlag GmbH, 989 Seiten, 17 Euro

Foto: J.McNeeley/USN via Wikimedia Commons

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Dirk Jäckel / 27.04.2021

“Bei der Abstimmung des deutschen Bundestages zum Thema blieben Kanzlerin Angela Merkel, der damalige Vizekanzler Sigmar Gabriel und der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank Walter Steinmeier dem Votum fern.” Was bei hypokritischen Gestalten wie Erstgenannter und Billigphrasen absonderndem Letzgenannten nicht wundert, hinsichtlich Gabriel, den ich ethisch - im Vergleich mit dem beiden zumindest - noch für halbwegs integer hielt, eine gewisse Enttäuschung war.

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