Manchmal fallen historische Jahrestage zufällig und doch nicht ganz zufällig auf den gleichen Kalendertag. Als ich in Amerika deutsche Geschichte unterrichtet habe, habe ich den Studenten die Bedeutung des 9. November mitgegeben. Der 15. August hat das Zeug, zwei große amerikanische Niederlagen und Neuanfänge im Abstand von genau einem halben Jahrhundert zu markieren. Beide nahmen ihren Ausgang vom Sommersitz des amerikanischen Präsidenten, Camp David, und beide wurden dem amerikanischen Volk durch Fernsehansprachen ihres Präsidenten erklärt.
Das alte System war nicht mehr zu halten
Am 15. August 1971 hat sich Richard Nixon aus dem Sommerurlaub gemeldet und im Fernsehen die Aufhebung der Goldkonvertibilität des Dollars verkündet, auch bekannt als „die Schließung des Goldfensters“ oder auch als der „Nixon-Schock“. Der Präsident gab sich führungsstark und verkündete:
Die Gewinner [von regelmäßigen Währungskrisen] sind die internationalen Geldspekulanten. Weil es ihnen durch Krisen gutgeht, helfen sie, sie zu erzeugen. In den vergangenen Wochen haben die Spekulanten einen unbegrenzten Krieg gegen den amerikanischen Dollar geführt. Die Stärke der Währung einer Nation basiert auf der Stärke der Wirtschaft dieser Nation, und die amerikanische Wirtschaft ist mit Abstand die stärkste der Welt.
Daher habe ich habe den Finanzminister angewiesen, die nötigen Handlungen zu unternehmen, um den Dollar gegen die Spekulanten zu verteidigen. Ich habe Minister Connally angewiesen, zeitweilig die Konvertibilität des Dollars in Gold oder andere Reserven aufzuheben, außer in solchen Mengen und zu solchen Bedingungen [...] die im Interesse der Geldstabilität und im Interesse der Vereinigten Staaten liegen.
Nun, was bedeutet dieser Schritt, der sehr technisch ist, [...] für Sie? Lassen sie mich das beerdigen, was man das Schreckgespenst der Geldentwertung nennt. Wenn Sie ein ausländisches Auto kaufen oder eine Reise ins Ausland unternehmen wollen, dann können die Marktbedingungen dazu führen, dass ihr Dollar etwas weniger kauft, aber wenn Sie der überwältigenden Mehrheit der Amerikaner angehören, die amerikanische Produkte in Amerika kaufen, dann wird Ihr Dollar morgen genau so viel wert sein wie heute. Der Effekt dieser Aktion wird in anderen Worten sein, den Dollar zu stabilisieren.
Damit beerdigte Nixon zwar nicht, wie versprochen, das Schreckgespenst der Inflation, das in den Siebzigern fröhliche Urständ feiern durfte, wohl aber das Währungssystem vom Bretton Woods, das zusammen mit der amerikanischen Militärmacht die Grundlage der Nachkriegsordnung der freien Welt gewesen war.
Dieses System der fixen Wechselkurse war schon aus anderen Gründen nicht mehr zu halten, aber das enorme amerikanische Leistungsbilanzdefizit im Gefolge des Vietnamkriegs gab ihm den Rest, so dass der Verfall beider Grundpfeiler miteinander zusammenhing. Anderthalb Jahre nach der Schließung des Goldfensters wurden die fixen Wechselkurse offiziell aufgegeben, Amerikaner durften wieder Gold als Investition besitzen, was ihnen seit 1933 verboten war, und die ehemalige Kriegsverliererwährung D-Mark begann ihren Aufstieg in einem Konzert der Reservewährungen.
Zwei Jahrzehnte Euro und Afghanistankrieg
Es ist ein Zeichen, wie schnell die Zeit vergeht, dass nun schon fast die Hälfte der Zeit seit dem Ende von Bretton Woods nicht mehr die D-Mark europäische Leitwährung ist, sondern mit der Umstellung auf den Euro im Jahre 1998 ein neues europäisches System an ihre Stelle getreten ist, während der Dollar zwar weiterhin Leitwährung ist, aber seine wirtschaftliche Dynamik und die Finanzierung andauernder amerikanischer Leistungsbilanzdefizite mit einer anderen Entscheidung des damaligen amerikanischen Präsidenten zusammenhängt, Richard Nixons Gang nach China 1972, welches Land heute diese Finanzierung übernimmt.
Die Finanzmärkte nahmen Nixons Ankündigung positiv auf. Der damalige Leitindex des amerikanischen Aktienmarkts, der Dow-Jones, hatte nach Öffnung der Märkte am Montag mit 33 Punkten seinen bis dahin größten Anstieg eines Tages. Letztlich hatte Nixon anerkannt, was ohnehin schon bekannte Realität war, nämlich dass das Goldfenster schon lange eine Illusion und die Wechselkurse schon lange nicht mehr fix waren.
Fast genauso alt wie der Euro ist der Krieg in Afghanistan im Gefolge der Anschläge vom 11. September 2001. Diese fast genau zwanzig Jahre fallen mit der Zeit zusammen, die ein amerikanischer Soldat dienen muss, bevor er sich seinen Ruhestand mit einer Pension verdient hat, so dass Amerikas längster Krieg ein ganzes Soldatenleben ausfüllen konnte.
Ein „anständiger Zeitabstand“
Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf des vergangenen Jahres waren sich beide Kandidaten einig, diesen Krieg, der Dauerzustand geworden war, zum Abschluss bringen zu wollen. Donald Trump hatte in den Doha-Gesprächen einen amerikanischen Abzug bis zum Mai 2021 vereinbart, während die afghanische Regierung und die Taliban sich auf einen Frieden einigen und Gefangene austauschen sollten. Sein Nachfolger Joe Biden brauchte etwas mehr Zeit und hat aus unerfindlichen Gründen den Stichtag auf den symbolträchtigen 11. September gelegt, ein selbstgewähltes Jubiläum der Niederlage.
Während Richard Nixon zum Abzug aus dem Vietnam-Krieg, den er von seinen Vorgängern geerbt hatte, in der Lage war – unter Einsatz massiver strategischer Bombardierung als Verhandlungsargument und nach der erfolgreichen Abwehr der Tet-Offensive – einen gesichtswahrenden „anständigen Zeitabstand“ zwischen dem amerikanischen Abzug und dem Fall Südvietnams zu verhandeln, war das Joe Biden in Afghanistan nicht vergönnt.
Körperteile im Fahrwerk
Am Sonntag, den 15. August, sah man unglaubliche Bilder aus Kabul, die teilweise wirkten, als hätte ein Choreograph den überhasteten amerikanischen Abzug aus Saigon nach fünf Jahrzehnten nachgestellt. Selbst der Hubschrauber, mit dem der Botschafter in Sicherheit gebracht wurde, war nicht nur typgleich mit dem in Saigon benutzten, sondern sogar noch drei Monate älter. Der Außenminister Antony Blinken hatte in mehreren Fernsehinterviews einen schweren Stand und überzeugte wenig, als er den Kriegsausgang als Erfolg und Erreichung der Kriegsziele verkaufen wollte.
Am gestrigen Montag wachten die Amerikaner dann zu noch mehr bizarren Bildern aus Kabul auf. Die Taliban fuhren in die Hauptstadt, ohne auf irgendwelche sichtbare Gegenwehr zu stoßen, und machten es sich im Palast des geflohenen Präsidenten gemütlich. Sogar im Fitnessstudio des Präsidentenpalasts filmten sie sich, ohne dabei eine besonders sportliche Figur abzugeben, die Farce zur Tragödie der ungehinderten Einnahme eines Landes.
Am Flughafen von Kabul spielten sich unglaubliche Szenen ab. Den internationalen Truppen, die ihn sichern sollen, entglitt die Kontrolle, und das Vorfeld war überfüllt mit Menschen, die sich sogar noch an startende Flugzeuge klammern wollten. Zwei haben es in die Fahrwerkskästen einer startenden C-17 geschafft oder sich irgendwie außen festgehalten, fielen dann aber schnell in ihren Tod, auf Fotos festgehalten. (Das wird immer wieder versucht und ist bei modernen Flugzeugen mit ihren enormen Flughöhen meistens tödlich, auch wenn man sich festhalten kann.) Eine C-17 (ob die gleiche oder nicht, ist unklar) musste offenbar in einem Drittland eine Sicherheitslandung einlegen, weil zerquetschte Körperteile eines blinden Passagiers das Einziehen des Fahrwerks verhinderten. Die Amerikaner mussten mit Kampfhubschraubern im tiefen Überflug Menschen von den Startbahnen vertreiben.
Vor zehn Jahren mutig, heute offensichtlich
Auffällig ist, dass es sich bei den verzweifelten Fluchtwilligen offenbar um Männer im wehrfähigen Alter handelt, von denen keiner versucht hat, die Stadt zu verteidigen. Diese Szenen des Zusammenbruchs markieren das vollständige Scheitern des zwanzigjährigen Versuchs, in Afghanistan eine irgendwie geartete Stabilität zu erreichen, welcher die Amerikaner tausende Tote und Billionen Dollar gekostet hat.
Nach diesem Scheitern musste auch Präsident Joe Biden, der wie weiland Richard Nixon auf Camp David residierte, vor die Kameras treten. Der auf seinen Notizblöcken intelligente und nachdenkliche, vor den Kameras aber unbeholfene Nixon nutzte die Ruhe im Sommer wohl bewusst für seine Ankündigung. Ihre Wirkung sollte überraschend sein. Biden wurde hingegen von den Ereignissen getrieben. Am Morgen hieß es, dass er um 15:45 Uhr Ostküstenzeit aus Washington zur Nation sprechen würde, was dann mit geringer Verzögerung auch passierte.
Seine Rede hat Präsident Biden, dem nur wenig Zeit zur Vorbereitung blieb, gut gehalten. Seine Stimme wirkte stark und entschlossen, die Rede schlüssig, er hatte keine Aussetzer und nur zwei oder drei kleine Verhaspler. Er rekapitulierte die Vorgeschichte, die Vereinbarungen seines Amtsvorgängers zum Abzug bis Mai, den Umstand, dass er schon als vierter Präsident diesem Krieg vorsitze, und den Mangel an Aussichten eines weiteren Engagements. Der Kern seines Arguments und der stärkste Teil seiner Rede war die offensichtliche Frage des Afghanistan-Einsatzes und seine Antwort darauf:
Damit bleibt mir wieder, diejenigen, die argumentieren, dass wir bleiben sollen, zu fragen, wie viele Generation von Amerikas Söhnen und Töchtern ich schicken soll, um im afghanischen Bürgerkrieg zu kämpfen während die afghanischen Truppen nicht kämpfen? Wie viele Leben, amerikanische Leben, ist es wert? Wie viele endlose Reihen von Grabsteinen auf dem Soldatenfriedhof in Arlington?
Ich habe eine klare Antwort. Ich werde die Fehler nicht wiederholen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben. Den Fehler, auf unabsehbare Zeit in einem Konflikt zu verbleiben und zu kämpfen, der nicht im nationalen Interesse der Vereinigten Staaten liegt. Den Fehler, in einem Bürgerkrieg in einem fremden Land unseren Einsatz zu verdoppeln, zu versuchen, ein Land durch den endlosen Einsatz amerikanischer Truppen umzugestalten. Das sind die Fehler, die wir nicht mehr wiederholen können, denn wir haben bedeutende vitale Interessen in der Welt, die wir nicht ignorieren können. [...]
Ich kann und werde von unseren Truppen nicht verlangen, endlos in dem Bürgerkrieg eines anderen Landes zu kämpfen, Verluste hinzunehmen, lebenszerstörende Verletzungen zu erleiden, Familien vom Schmerz und Verlust zerstört alleine zu lassen. Das liegt nicht im Interesse unserer nationalen Sicherheit. Das ist nicht, was das amerikanische Volk will. Es ist nicht, was unsere Truppen, die über die letzten beiden Jahrzehnte solche Opfer brachten, verdienen.
Vor neunzehn Jahren oder auch vor zehn, nach der Erledigung Osamas und damit des letzten Teils des unmittelbaren Kriegsgrundes, wäre das eine mutige Rede gewesen. Jetzt fasste sie nur das Offensichtliche zusammen. Der amerikanische Abzug war nicht nur praktisch unwiderruflich, sondern auch von den Ereignissen überholt worden. Darin wieder hatte Bidens Rede Ähnlichkeit mit der Nixons – böse Zungen würden sagen: auch mit Günther Schabowskis berühmter Pressekonferenz – denn sie kündigten lediglich Schritte an, die von den Ereignissen längst vorgegeben waren und zu denen Alternativen nicht mehr wirklich in ihrer Macht standen.
Zu den chaotischen Umständen des Rückzugs äußerte sich Biden nicht weiter, beantwortete auch keine Fragen dazu. In gewisser Weise war das sicher angemessen, denn für die Detailplanung des Abzugs oder auch die genaue Einschätzung des Tempos, mit dem Kabul kollabieren würde, ist der Präsident nicht zuständig. Die dafür zuständigen Leute zu beschuldigen, wäre unangemessen gewesen, offensichtlich ist die Fehleinschätzung ohnehin, und machen kann man auch nichts. Als einzelnes Ereignis wird Biden die Vorgänge in Kabul bei all ihrer Symbolkraft vermutlich gut überstehen solange nicht etwas passiert, bei dem aus bizarren Bildern wirklich grausame werden, beispielsweise wenn die Benutzung des Flughafens von Kabul nur durch massive Gewalt gegen Menschenmengen gesichert werden könnte oder es noch zu einem Anschlag wie in Beirut 1983 käme.
Eine „Krise der Kompetenz“
Trotzdem bleibt auf der Regierung Biden eine Last sitzen. Chris Cillizza beim normalerweise streng Biden-freundlichen Nachrichtensender CNN nennt Bidens Scheitern in Afghanistan eine „Krise der Kompetenz“ und reiht sie in eine Reihe von schlecht geplanten Vorgängen, die am Vertrauen in den Präsidenten zehren, ein. Biden war kein Präsidentschaftskandidat der Herzen. Seinen Wahlkampf hat er lauwarm und aus dem Keller bestritten. Inhaltlich oft gar nicht so weit vom vorherigen Amtsinhaber entfernt, konnte er nicht die Neulinken begeistern, für die seine wesentliche positive Eigenschaft lediglich war, nicht Donald Trump zu heißen, und den Gemäßigten in den Vororten versprach er im Wesentlichen Ruhe und Rückkehr zum normalen Politikbetrieb.
Die bizarren Skandale um Einfluss, dessen Verkauf für Geld, und dessen Benutzung zum Kauf von Drogen seines Sohnes Hunter, welche dieser sogar für weiteres Geld in einem Buch auswalzte, halfen nicht. Die Impfungen gegen Covid-19, die ein Kernstück der Rückkehr zur Normalität werden sollten, hinken nach schnellen Erfolgen, die man wohl eher noch der Präsidentschaft Donald Trumps zuschreiben darf, den Vorgaben hinterher. Die Gewaltkriminalität in den Städten nach der Agitation gegen die Polizei letztes Jahr nimmt zu, die Grenze zu Mexiko, das bekannteste Thema Donald Trumps, gerät Biden zunehmend außer Kontrolle, und die Inflationserwartungen steigen angesichts der unfinanzierbaren innenpolitischen Umverteilungsprojekte. Bidens Zustimmungswerte in Umfragen sind schon vor dem Desaster von Kabul leicht gesunken, auch wenn das für den ersten Sommer eines neuen Präsidenten ziemlich normal ist. Insgesamt wirkt Biden politisch abwesend und getrieben, was durch seinen Sommeraufenthalt auf Camp David, während gleichzeitig die Situation in Afghanistan völlig entglitt, nicht besser wurde.
Die Finanzmärkte warteten auch gar nicht auf die Rede des Präsidenten. Nach einem Einbruch zum Handelsauftakt erreichte der S&P 500 einen neuen Höchststand, und der Volatilitätsindex VIX, ein Maß für Unsicherheit an den Finanzmärkten, sprang zum Handelsauftakt und sank dann wieder schnell und gleichmäßig im Tagesverlauf ab.
„Ein betrunkener Typ mit einem Taschenmesser“
Politiker beider Parteien nahmen, wohl auch angesichts der schon wieder ins Blickfeld kommenden Zwischenwahlen nächstes Jahr, eher Abstand von ihrem Präsidenten. Demokratische wie republikanische Politiker distanzieren sich von der humanitären Krise, die in den Szenen vom Kabuler Flughafen offensichtlich wird und beklagen die offenbar schlechte Vorbereitung des Abzugs. Nachvollziehbarerweise ist die Kritik der Republikaner härter vorgetragen als die der Demokraten, aber unzufrieden sind beide.
Die republikanische Abgeordnete Liz Cheney, Tochter des ehemaligen Vizepräsidenten, holte gleich sowohl gegen Trump als auch gegen Biden aus. Der konservative Kommentator Tucker Carlson dagegen stimmte dem Abzug als solchem als überfällig und dringend notwendig zu, stellte sich aber angesichts der Probleme in der Umsetzung die Frage: „Wenn Sie erführen, dass sie als Notfall eine Blinddarmoperation bräuchten, wäre es ihnen wichtig, wer die Operation vornimmt: Ein Chirurg mit einem Skalpell oder ein betrunkener Typ mit einem Taschenmesser?“
Mit den Falken, die gegen den amerikanischen Abzug als solchen waren, wie Lindsey Graham, der Biden den Verlust des Krieges und den Tod der Afghanen vorwarf, welche der Rache der Taliban anheimfallen werden, wird Biden recht gut umgehen können. Das Ende des Engagements in Afghanistan war Konsens zwischen Biden und Trump. Die Gegenvorstellung, dass eine kleine amerikanische Truppenpräsenz auf Dauer Afghanistan hätte stabilisieren können, scheint spätestens durch den kampflosen Kollaps des afghanischen Staates widerlegt, so dass man spätestens jetzt sagen kann, dass eine solche Präsenz sehr wahrscheinlich entweder in einem Abzug wie jetzt, nur später, oder in einem Abzug unter Feuer oder in einem erneuten intensivierten Engagement mit neuen Verlusten geendet hätte. Die Amerikaner wünschen das nicht.
Geerbte Probleme und Neuanfang
Freilich, all die wesentlichen Probleme von Bidens Präsidentschaft sind geerbt. Er hat den Krieg in Afghanistan nicht angefangen und nicht unterlassen, ihn nach Erreichen der eigentlichen Kriegsziele zu beenden. Er hat nicht Covid-19 in die Welt gebracht, die Südgrenze ist ein Dauerproblem, das auch Donald Trump nicht wirklich lösen konnte, und Orgien von Staatsausgaben als Heilmittel für alle Probleme mit erheblicher Katerwirkung sind ein Dauerzustand unter beiden Parteien. Die kulturkämpferischen Projekte um das Abbrennen von Innenstädten und die Einführung immer exotischerer sexueller und anderer Identitäten bringt man zwar mit der Demokratischen Partei, aber nicht mit dem Namen Biden in Verbindung. Auch für die Peinlichkeiten und Skandale in seiner Familie kann man bei den unverschuldeten Schicksalsschlägen, die die Familie trafen, ein gewisses Verständnis aufbringen.
Epigone mit begrenzter Kompetenz
Richard Nixons Abwicklung des Vietnamkriegs und die des Bretton-Woods-Systems durch die Schließung des Goldfensters am 15. August vor fünfzig Jahren waren die Abwicklung des Nachkriegssystems der freien Welt, das sich überlebt hatte und in seinen Problemen so nicht mehr zu halten war. Sein Gang nach China und die Einführung freier Wechselkurse wurden grundlegend für den Zerfall des kommunistischen Blocks und damit indirekt das Ende des Kalten Kriegs sowie für die Periode des Freihandels, der erneuten Pax Americana, und der folgenden Prosperität, also das, was man gerne ‚Globalisierung‘ nennt. Das Ende von Nixons Präsidentschaft, angetrieben vom nicht immer unbegründeten Misstrauen gegen feindselige Eliten, war unrühmlich, aber bis zu seinem Tod 1994 erhielt er auch wieder mehr Anerkennung für richtungsweisende Entscheidungen.
Präsident Biden dagegen erscheint als Epigone, der seine geerbten und soweit unverschuldeten Krisen lediglich mit begrenzter Kompetenz verwaltet.
Morgen in Amerika?
George W. Bushs Vision, auf militärischem Wege liberale Demokratien als Leuchtturmprojekte in der islamischen Welt zu installieren, und so eine liberale, globalisierte Gesellschaft als Antwort auf die Angriffe des 11. September zu geben, damit das Fukuyama’sche Ende der Geschichte doch noch gegen den Huntington’schen Kampf der Kulturen zu erzwingen, ist diesen 15. August gescheitert. Eine neue Antwort des Präsidenten Biden auf diese Herausforderungen ist nicht zu erkennen, sondern lediglich der Vorsitz der Abwicklung des Scheiterns.
Bidens Vorgänger Donald Trump als Außenseiterpräsident war die Reaktion auf andere Probleme des Zeitalters der Globalisierung, insbesondere die von den einfachen Leuten empfundene Gefährdung ihres Lebensstils und ihrer demokratischen Teilhabe durch von auswärtigen Mächten strategisch eingesetzten Handel, ungeregelte staatlich tolerierte oder geförderte Migration, und die offen zelebrierte Verachtung gewisser Eliten für die „deplorables“, die jeden Morgen früh zur Arbeit gehen.
Wie weit das richtungsweisend war, wird man noch sehen müssen, so wie die Einschätzung Nixons nach seinem Rücktritt noch nicht wirklich möglich war. Ziemlich sicher dagegen ist Bidens Rückgriff auf die Rezepte von Präsident Franklin D. Roosevelts New Deal und Lyndon B. Johnsons Great Society, soziale Konflikte mit immer mehr Staatsausgaben entschärfen zu wollen, nicht richtungsweisend.
Heute wirkt der achtundsiebzigjährige Präsident Biden wie die berühmte lahme Ente der amerikanischen Politik, die man eigentlich erst nach der Wahl eines Nachfolgers vor dem Ende der Amtsperiode wird. Natürlich, er steht noch am Anfang seiner Amtszeit, er hat noch die Chance, eigene Antworten zu finden. Dem Präsidenten Reagan gelang es in seinen Siebzigern auch noch, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass es nach seinen ersten vier Amtsjahren wieder Morgen in Amerika sei, dass eine frische Nation ihre besten Tage noch vor sich habe. Aus dem Keller seines Hauses oder der Sommerfrische in Camp David als Nachlassverwalter der geerbten Probleme wird das Biden aber nicht gelingen. Dazu müsste er schon ein neues Kaninchen aus dem Hut zaubern.
Oliver M. Haynold wuchs im Schwarzwald auf und lebt in Evanston, Illinois. Er studierte Geschichte und Chemie an der University of Pennsylvania und wurde an der Northwestern University mit einer Dissertation über die Verfassungstradition Württembergs promoviert. Er arbeitet seither als Unternehmensberater, in der Finanzbranche und als freier Erfinder.