Der G7-Gipfel vom 13. Juni in Cornwall verabschiedete keine überraschenden oder gar historischen Beschlüsse. Auch der Neuling in diesem Kreis und zugleich sein bedeutendster Protagonist, Joe Biden, hatte lediglich business as usual zu bieten. Was in seinem Fall heißt: überwiegend ein noch als staatsmännisch durchgehendes Auftreten ohne ganz grobe Aussetzer – erwartungsgemäß allerdings mehrfach aufgelockert durch – zumindest für den Kundigen und Willigen – unübersehbare Demenzsignale. Festgehalten ist das hier und hier und hier auf verschiedenen Videosequenzen: wie der mächtigste Mann der Welt etwas orientierungslos über eine Café-Terrasse schlendert und, als eine Reporterin die unerwartete Gunst des Moments für eine Frage nutzt, von seiner eilig herbeieilenden Frau Jill energisch an die Hand genommen und weggezogen wird; oder wie er darauf besteht, den südafrikanischen Präsidenten in der Kollegen-Runde vorzustellen, obwohl das längst passiert ist (auch interessant, wie wissend Boris Johnson ihm das zu verstehen gibt); bemerkenswert auch sein Gemurmel in ein Reporter-Mikrofon und zu guter Letzt die ebenso zögerliche wie kryptische Art und Weise, wie er die Frage beantwortet, ob Putin ein „Killer“ sei.
Wie bisher immer, sahen auch jetzt die bei den Altmedien Schaffenden großzügig über diese kleinen Schwächen ihres Politidols hinweg. Wobei ihnen zugutezuhalten ist, dass es natürlich auch nicht leichtfällt, den einmal eingeschlagenen Weg des Lügens durch Weglassen aufzugeben. Ganz zu schweigen natürlich von der realen Gefahr, dass auch in diesem Fall die Wahrheit den Falschen nutzen könnte.
Bei einem nicht unwesentlichen Teil der Medienschaffenden handelt es sich aber wahrscheinlich gar nicht um den bewussten Einsatz von Lügen zum Schutze von Biden, sondern um einen systematischen Knick – vulgo Bias – in der Optik und den dahinter liegenden zentralnervösen Strukturen. Hier wird es von vornherein für so gut wie ausgeschlossen gehalten, dass ein für das Gute stehender demokratischer US-Präsident, der sich zudem gerade in einem heldenhaften Wahlkampf gegen das personifizierte Böse durchgesetzt hat, dement sein könnte.
Es erscheint plausibel, anzunehmen, dass ältere Personen, die eine hohe gesellschaftliche Position innehaben und es noch verstehen, den dafür typischen Habitus überwiegend darzustellen, die also nicht plötzlich nachlässig gekleidet oder ungepflegt wirken und dabei vielleicht noch unflätig herumpöbeln, im Vergleich zu Durchschnittsbürgern zurückhaltender beurteilt werden, bevor ihnen eine Demenzerkrankung zugeschrieben wird. Es muss schon vergleichsweise dicke kommen, bevor beim Betrachter überhaupt die Idee entsteht, hier könnten relevante kognitive Störungen im Sinne einer Demenz vorliegen.
Wenn es gilt, den Schein zu wahren
Die neuerliche Beschäftigung mit Bidens geistigem Gesundheitszustand löste bei mir bestimmte Assoziationen aus den letzen beiden Jahrzehnten meiner ärztlichen Tätigkeit aus. Denn die war zu einem erheblichen Teil ausgefüllt mit Diagnostik und Therapie von kognitiven Störungen – teils über viele Jahre. Im Rahmen dessen hatte ich nicht selten auch mit Patienten zu tun, die beim Erstkontakt noch an prominenter Stelle tätig waren, sei es als Hochschulprofessor, Verbandsfunktionär, Chefarzt oder in der freien Wirtschaft. Ergab sich dann bei der Untersuchung, dass sie kognitiv bereits erheblich beeinträchtigt waren und damit ihren beruflichen Anforderungen nicht mehr gewachsen, drängte sich manchmal die Frage auf, wie es ihnen überhaupt gelingen konnte, so lange den Schein zu wahren.
Ihr teils noch erhaltener und an gesunde Tage gemahnender Habitus reichte als Erklärung meist nicht aus. Denn der wirkt vorzugsweise auf Personen, die keinen häufigen und engen Kontakt zum Betroffenen haben. Die Erklärung war, ähnlich wie bei Biden, dass diese Patienten umgeben waren von einem unterstützenden Umfeld, das nicht immer bloß altruistischen Motiven folgte, sondern teils schlicht versuchte, etwa die Firma und damit den eigenen Arbeitsplatz zu sichern, oder auch Gefallen daran fand, eigentlich dem Kranken vorbehaltene Tätigkeiten auszuüben – ein bisschen Chef zu spielen –, oder den Status quo aufrechterhielt, um die mit einem Nachfolger verbundenen Unwägbarkeiten oder Nachteile möglichst lange hinauszuzögern.
Ein dementer Chefarzt
Trotzdem blieb es mir manchmal rätselhaft, wie es zum Beispiel bei einem dementen Chefarzt einer großen internistischen Abteilung eines ebenfalls großen Klinikums über mindestens zwei Jahre gelingen konnte, ihn im Amt zu halten. Über diesen aus mehreren Gründen interessanten Fall hatte ich seinerzeit eine kleine Kasuistik im Hamburger Ärzteblatt publiziert. Der zurückhaltend-freundliche Kollege strahlte bei der von einem ärztlichen Freund arrangierten Untersuchung durchaus noch etwas Chefarzttypisches aus. Ihm gehe es gut, störend sei nur, dass er viele medizinische Fakten nicht mehr parat habe, aber die würde er dann jeweils nachschlagen. Aber schon bei Fragen nach dem ganz kleinen medizinischen Einmaleins musste er passen, und zwar restlos. Zum Beispiel: In Bezug auf Hämoglobin vermutete er zögerlich, dass es „mit dem Blut“ zu tun haben könnte, das EEG interessanterweise „mit dem Bauch“. Dabei blieb er überwiegend gelassen und durchweg freundlich.
Will sagen: Selbst wenn sich eine deutliche oder gar dramatische Demenzentwicklung vor zahlreichen beruflichen Zeugen abspielt – Oberärzten, Assistenzärzten, Studenten im Praktischen Jahr, anderen Chefärzten, Teilen der Krankenhaus-Verwaltung und nicht zuletzt Patienten und Angehörigen – kann es dem Betroffenen offenbar gelingen, länger im Amt zu bleiben beziehungsweise weiter als Chefarzt (oder vielleicht besser: als sehr spezieller Chefarztdarsteller) zu amtieren. Vorausgesetzt, dem engeren beruflichen Umfeld, hier vor allem den Oberärzten, gelingt es, ein dichtes Unterstützungs- und Vertuschungsnetz zu knüpfen; das nicht so enge Umfeld schaut weg und die Patienten lassen sich blenden von der äußeren Erscheinung und dem freundlichen Wesen eines Chefarztdarstellers. Im vorliegenden Fall hinzu kommt der für einen Demenzkranken nicht zu unterschätzende Vorteil, sich in einer ihm seit vielen Jahren vertrauten beruflichen Umgebung bewegen zu können.
Und was ist mit Biden?
Auch Biden kommen sowohl sein zumindest überwiegend freundlich und umgänglich erscheinendes Wesen als auch die langjährige Konstanz in Bezug auf das ihn umgebende beruflich-gesellschaftliche Milieu zugute. Wenn es schwierig wird, ist er allerdings nicht von seinen ihn schützenden Oberärzten umgeben, sondern von ausgewählten Teilen seiner Administration, also vor allem dem engsten Beraterstab – nicht zu vergessen sein technischer Verbündeter, der Teleprompter.
Natürlich ist seinem Stab ebenso wie den demokratischen Parteigranden mittlerweile völlig klar, dass Biden den Aufgaben eines US-Präsidenten bestenfalls noch teilweise gewachsen ist. Ob die Entscheidungsträger der Demokraten bereits eine Exit-Strategie haben oder noch das Prinzip Hoffnung gilt, dass Biden es trotz Demenz noch irgendwie bis zum Ende schaffen oder angesichts seines hohen Alters der Herrgott schon für eine andere Lösung sorgen werde? Wer weiß, aber solange er noch drei Sätze geradeaus sprechen oder längere Passagen weitgehend fehlerfrei vom Teleprompter ablesen kann, sich anscheinend überwiegend kooperativ verhält, sich seine Verhaltensauffälligkeiten in Grenzen halten und die entscheidenden Medien mitspielen, gibt es aus Sicht der Entscheidungsträger auch keine zwingende Indikation für ein sofortiges Ausscheiden aus dem Amt.
Zumal das für einige oder vielleicht auch die meisten der jetzt besonders wichtigen engen Mitarbeiter des Präsidenten die Versetzung in die zweite Reihe bedeuten würde. Denn seine Nachfolgerin Kamala Harris wird nicht nur eigenständiger entscheiden, sondern zum erheblichen Teil auch anderen Mitarbeitern vertrauen. Und wer befördert sich schon gerne selbst ins politische Abseits? Vor diesem Hintergrund spricht vieles dafür, dass Biden noch einige Zeit im Amt bleiben wird. Es sei denn, es kommt zu einer veritablen internationalen Krise, die einen öffentlich präsenten und ebenso urteilssicheren wie entscheidungsfreudigen Präsidenten verlangt.
Vielleicht erzwingt aber auch vorher das Fortschreiten der Demenz den Amtsverzicht, ob freiwillig oder nicht. Mein Tipp – unter besonderer Berücksichtigung der jüngsten Eskapaden beim G7-Gipfel: Bidens Verhaltensauffälligkeiten werden weiter zunehmen und zunehmend schwieriger mit seinem immer schon etwas skurrilen Verhalten zu erklären sein, sodass schließlich auch die Mainstream-Medien nicht mehr weggucken können oder wollen. Und das wäre der Anfang vom Ende.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.