Der amerikanische Jazz-Organist Jimmy Smith war für die E-Orgel, was Jimi Hendrix für die E-Gitarre war. Ihm wird nachgesagt, das Orgelspiel mit seiner Hammond B-3 revolutioniert und damit den Modern Jazz erneuert zu haben.
B-3 ist die reguläre Modellbezeichnung der wohl legendärsten aller E-Orgeln. Die Hammond B-3 ist der Grund, warum der Name Hammondorgel zum Deonym für die Elektro-Orgel schlechthin wurde. Jeder Keyboarder, der etwas auf sich hielt, stellte sich so einen Koloss auf die Bühne. Eine ausgewachsene B-3 mit allem Drum und Dran bringt knapp zweihundert Kilogramm auf die Waage. Und die B-3 war nur das Konzertmodell; es gab auch noch das Kirchenmodell C-3, mit dem gleichen Innenleben, aber in einem edleren und noch schwereren Gehäuse. Die elektromechanische Orgel wurde Anfang der 1930er Jahre von dem US-amerikanischen Erfinder Laurens Hammond als preisgünstige Alternative zur Pfeifenorgel entwickelt.
Die Töne werden dabei von sogenannten Tonrädern (Tonewheels) erzeugt; im Prinzip unterschiedlich große Zahnräder mit unterschiedlich vielen Zacken, die sich vor Magnetspulen drehen, die wiederum als Tonabnehmer fungieren. Aufgrund des gezackten Rands der Tonräder wird in der Magnetspule eine Wechselspannung induziert, die in ein Tonsignal verwandelt und mithilfe eines internen Röhrenverstärkers verstärkt wird, um schließlich an einen Lautsprecher weitergeleitet werden zu können. Wer es wirklich ernst meinte, leistete sich dazu ein sogenanntes Leslie-Kabinett als Lautsprecherbox; ein regelrechtes Möbelstück, das mit gut sechzig Kilogramm ebenso über ein stattliches Gewicht verfügt. Das besondere an der Leslie-Box sind Lautsprecher und Schallreflektoren, die im Inneren des Gehäuses rotieren. Die Rotationsgeschwindigkeit kann zwischen langsam und schnell umgeschaltet werden, was diesen typischen schwebenden bis flatternden Effekt erzeugt, der sich aus einer Kombination der Modulation der Lautstärke (Tremolo), der Tonhöhe (Vibrato) und der Laufzeit (Doppler-Effekt) ergibt. Muss man mal gesehen und gehört haben!
Von damaligen Kritikern als „Arme-Leute-Orgeln“ verspottet, fanden die elektromechanischen Orgeln der Marke Hammond zunächst in Kinos und Theatern oder in kleineren Kirchen (insbesondere in der Gospel-Musik) Verwendung. Schon bald entdeckten Jazz-Musiker den neuen, coolen Sound und begannen, die Hammond-Orgel in ihre Musik zu integrieren. Zu den Pionieren des Hammond-Sounds gehören Ethel Smyth, Count Basie, Fats Waller, Milt Buckner oder Wild Bill Davies. Aber niemand vermochte es besser, auch noch das letzte aus seiner Hammond herauszukitzeln, als Jimmy Smith, der von Miles Davis einst als „das achte Weltwunder“ bezeichnet wurde. Smith wurde 1925 oder 1928 (darüber herrscht Uneinigkeit) in Norristown, Pennsylvania geboren. Schon als kleiner Junge trat er mit seinem Vater in Tanzshows auf und brachte sich selbst das Klavierspielen bei. Im Alter von neun Jahren gewann er als Boogie-Woogie-Pianist einen Talentwettbewerb der lokalen Radiostation. Nach seinem Militärdienst, Ende der 40er Jahre, studierte er Kontrabass und Klavier.
Vom Fleck weg unter Vertrag genommen
In den frühen 50ern spielte er als Pianist in diversen Rhythm & Blues-Formationen – bis er 1954 das erste Mal Wild Bill Davies auf seiner Hammondorgel spielen hörte. Als die Firma Hammond dann 1955 die B-3 auf den Markt brachte, holte sich Smith so eine, sperrte sich damit ein geschlagenes Jahr lang in eine leere Lagerhalle ein und übte wie ein Besessener. Als er schließlich so weit war, begann er, in den Jazz-Clubs Philadelphias aufzutreten. Dort hörte ihn ein gewisser Alfred Lion, seines Zeichens Mitbegründer des renommierten Jazz-Labels Blue Note, der ihn vom Fleck weg unter Vertrag nahm. Noch im Jahr 1956 erschien das erste Album unter dem wegweisenden Titel „A New Sound… A New Star...“ und in der Besetzung, die von nun an als Organ Trio bezeichnet werden sollte: Hammond-Orgel, Jazzgitarre (manchmal auch Saxophon) und Schlagzeug; ohne Bass! Den spielte Smith mit seinen Füßen auf den 25 Fußhebeln des Bass-Pedals der B-3.
Als Highlights aus Smiths Blue Note-Phase gelten gemeinhin die beiden Alben „Midnight Special“ von 1961 und „Back at the Chicken Shack“ von 1963 mit Stanley Turrentine am Saxophon, die beide derselben Aufnahmesession aus dem Jahr 1960 entstammen. Noch besser finde ich aber die ebenfalls von dem legendären Tonmeister Rudy Van Gelder eingefangene Live-Aufnahme, die im November 1957 in Smalls' Paradise, einem Nachtclub im New Yorker Stadtteil Harlem, entstanden war und noch im selben Jahr unter dem Titel „Groovin' at Smalls' Paradise“ auf zwei separaten Schallplatten als Volume 1 und 2 veröffentlicht wurde. Smiths Interpretationen von bekannten Stücken wie „My Funny Valentine“ oder „Laura“, mit ihren spacigen Orgelsounds und den stotternden Akkordeinwürfen, müssen für das damalige Publikum wie Musik von einem anderen Stern geklungen haben. Spätestens damit setzte er neue Standards im Hard Bop und Soul-Jazz und wurde zum Vorbild für zahlreiche nachfolgende Hammond-Spieler wie Big John Patton, Baby Face Willette, Richard Groove Holmes oder Brother Jack McDuff, um nur die mit den lässigsten Namen zu nennen.
1962 wechselte Smith zum Konkurrenzlabel Verve, wo er erstmals Aufnahmen mit einer Big Band machte und mit Leuten wie Lalo Schifrin oder den Jazz-Gitarristen Wes Montgomery und George Benson zusammenarbeitete. Anfang der 70er Jahre eröffnete der zwischenzeitlich zum Star der Jazz-Szene avancierte Organist einen Supper Club in Los Angeles, wo er regelmäßig für seine Gäste aufspielte. Dort entstand auch sein legendäres Live-Album „Root Down – Jimmy Smith Live!“, das während eines Konzerts im Februar 1972 mitgeschnitten wurde. Smith präsentiert sich hier mit neuer Band, die zusätzlich zur üblichen Organ-Trio-Besetzung einen Bassisten und einen Conga-Spieler mit an Bord hat. Zudem schlägt er mit dem rauen, ungeschminkten Jazzfunk, der bereits im Opener „Sagg Shootin' His Arrow“ und dann vor allem im Titeltrack „Root Down (and Get It)“ anklingt, ganz neue Töne an, die man von ihm so noch nicht gehört hatte. Etwas gemächlicher geht es in den beiden Stücken „For Everyone Under the Sun“, das irgendwie etwas an die Melodie von „My Way“ erinnert, und einer Instrumentalversion von Al Greens aktueller Hit-Single „Let's Stay Together“ zu. Schön auch, dass mit „After Hours“ ein Stück dabei ist, das er 15 Jahre zuvor schon in Smalls' Paradise zum Besten gegeben hatte – auch wenn es nicht an den Spirit der alten Aufnahme herankommt.
Siegeszug der Orgel auch in der populären Musik
Jimmy Smiths Einfluss reichte aber noch weit über den Jazz hinaus. Selbst solche Rockanimals wie Jon Lord (Deep Purple) und Keith Emerson (The Nice, Emerson, Lake & Palmer) beriefen sich auf ihn als Inspirationsquelle und ließen sich bei ihren Auftritten sogar das schwere Kirchenmodell C-3 von den Roadies auf die Bühne hieven. Mit den 60er Jahren hatte die Hammond-Orgel ihren Siegeszug auch in der populären Musik angetreten und wurde zum tragenden Instrument im Sound vieler Bands der unterschiedlichsten Subgenres. Neben den oben Genannten zählen zu den bekanntesten Hammond-Spielern im Rock und Pop Namen wie Booker T. Jones (u.a. Booker T. & the M.G.'s), Georgie Fame, Graham Bond, Brian Auger (u.a. The Trinity), Matthew Fisher (Procol Harum), Billy Preston, Steve Winwood (u.a. Spencer Davies Group, Traffic), Rod Argent (The Zombies, Argent), Mark Stein (Vanilla Fudge), Goldy McJohn (Steppenwolf), Gregg Rolie (u.a. Santana), Richard Wright (Pink Floyd), Tony Kaye (u.a. Yes), Tony Banks (Genesis), Ken Hensley (Uriah Heep), Rick Wakeman (u.a. Yes), Danny Frederici (E-Street-Band) oder Dave Greenfield (The Stranglers).
Mit der Erfindung und Ausbreitung des Synthesizers geriet der Hammond-Sound jedoch mehr und mehr ins Hintertreffen. Es schien, als hätte die gute alte Hammond-Orgel ausgedient – wäre da nicht in den 80er Jahren der französische DJ Gilles Peterson gewesen, der des ganzen Acid House-Hypes überdrüssig geworden war und die alten Hammond-Grooves als „neue“ Tanzmusik wiederentdeckte und ihnen eher persiflierend das Etikett „Acid Jazz“ aufdrückte. So hieß dann auch das Label, das er 1987 mit seinem britischen DJ-Kollegen Eddie Piller in London gründete und auf dem Bands wie das James Taylor Quartet oder Corduroy die Hammond-Orgel wiederaufleben ließen. Etwa zur selben Zeit machten sich in Übersee Hammond-Enthusiasten wie Joey DeFrancesco, Larry Goldings, John Medeski oder etwas später Tony Monaco daran, die B-3 zu rehabilitieren.
Schon zuvor hatte in München eine junge Frau namens Barbara Dennerlein auf sich aufmerksam gemacht, die insbesondere durch ihr flinkes Fußspiel auf dem Basspedal der B-3 weltweite Bewunderung fand. Ebenfalls aus München stammt das gegenwärtige Trio Organ Explosion um den Organisten Hansi Enzensperger, der sich etwa neben dem Würzburger Peter Weltner, dem Schweizer Tommy Schneider, dem Schweden Andreas Hellkvist oder den beiden Briten John-Paul Gard und Kit Downes anschickt, den Sound der Hammond-B-3 in unseren Breitengraden am Leben zu erhalten. Keinesfalls vergessen werden darf auch das grandiose Delvon Lamarr Organ Trio aus den Vereinigten Staaten, das sich seit 2015 dem Soul-Jazz der 60er und 70er Jahre verschrieben hat und durch das Zusammenspiel von Lamarr mit seiner C-3 und dem Gitarristen Jimmy James zuweilen wie „Booker T. meets Hendrix“ klingt. Rattenscharf!
Posthum in der Jazz Hall of Fame
Im Zuge der Renaissance der Hammond-Orgel erlebte auch Jimmy Smith ein Comeback und wurde 1986 von keinem Geringeren als Michael Jackson auf dem Höhepunkt seiner Karriere für den Orgel-Part bei dem Song „Bad“ engagiert. Zudem wurde Smith von einer neuen Generation von Musikern wiederentdeckt, wie etwa von den Hip-Hoppern der Beastie Boys, die auf ihrem 1994er-Album „Ill Communication“ sein „Root Down“ adaptierten und einer Verjüngungskur unterzogen. Wahrscheinlich auch deshalb ist „Root Down“ bis heute Smiths bekanntestes Stück. In der Spätphase seiner knapp 50-jährigen Karriere, in deren Laufe er 111 Alben veröffentlichte, arbeitete er mit Leuten wie Quincy Jones, Frank Sinatra, Etta James, B.B. King und Dr. John zusammen.
Im Jahr 2004 zog er mit seiner schwerkranken Frau nach Scottsdale im US-Bundesstaat Arizona. Sie starb wenige Monate nach dem Umzug. Jimmy Smith folgte ihr im Jahr darauf am 8. Februar 2005. Noch in seinem Todesjahr erhielt er mit der NEA Jazz Masters Fellowship des National Endowment for the Arts die höchste Ehrung, die einem Jazz-Musiker in den USA zuteilwerden kann. 2006 wurde er dann in die Jazz Hall of Fame des weltweit auflagenstärksten Jazz-Magazins Down Beat aufgenommen. Bei dessen jährlichen Leserumfragen landete Smith regelmäßig auf dem ersten Platz in der Kategorie Orgel, die 1964 eigens für ihn eingerichtet wurde. Und last but not least wählte der Rolling Stone 2013 sein Album „The Sermon“ von 1959 in die Top 100 der besten Jazz-Alben aller Zeiten.
P.S. Wer sich für den Sound der Hammond B-3 begeistern kann, dem sei insbesondere der fabelhafte James Taylor (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen amerikanischen Singer-Songwriter!) wärmstens empfohlen. Mit seinem James Taylor Quartet gehört der Brite zu den Mitbegründern des Acid Jazz in den 80er Jahren und zu den heißesten Hammond-Orglern überhaupt. Zum Einstieg empfehle ich die ersten beiden Alben „Mission Impossible“ und „The Money Spyder“, die sehr Sixties-inspiriert daherkommen und 2007 zu ihrem 20-jährigen Jubiläum remastert auf der CD „1987“ zusammengefasst wurden. Wer mehr auf die Funk-Grooves der 70er Jahre steht, greife besser zum Album „Message from the Godfather“ von 2001 oder zur 2017er-Kompilation „Bootleg“, auf der eine Auswahl von Albumtracks aus den vorhergehenden Jahren versammelt ist. Damit ist die Party garantiert gerettet!
YouTube-Link zum gut 12-minütigen Titelstück „Root Down (And Get It!)“ – einfach laufen lassen, alles andere ergibt sich dann von selbst…