Bei der CDU herrscht bestimmt Erleichterung, weil in Wien die brandmauerfreien Koalitionsverhandlungen gescheitert sind. Dort regiert jetzt, wie in Deutschland, die Angst vor dem Wähler. Außer der FPÖ will niemand Neuwahlen.
Während in Deutschland auch CDU und CSU nach einer Merkel-Intervention wieder ihre Posten als Brandmauerwächter bezogen haben, führten deren Freunde von der Schwesterpartei ÖVP in Wien bis gestern immer noch brandmauerfreie Koalitionsverhandlungen mit den dortigen Blauen. Die stockten zwar auch, aber dass sie überhaupt stattfanden und die FPÖ als klar stärkere Partei den Kanzler hätte stellen sollen, sorgte in Berlin für Unmut.
Hierzulande – so vermitteln es jedenfalls die Parteien, die sich selbst zu den einzigen demokratischen erklärt haben – würde ein Fall der Brandmauer die Demokratie zerstören oder, um es mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich zu sagen, das Tor zur Hölle öffnen. Das lebendige Beispiel in der Nachbarschaft, dass ein demokratisches Gemeinwesen auch ohne Brandmauer existieren kann, ohne in den Höllenschlund gerissen zu werden, hätte das Schreckensszenario natürlich gewaltig konterkariert.
Insofern konnten die deutschen Brandmauerwächter am Mittwoch erleichtert aufatmen, als die Koalitionsverhandlungen in Wien für gescheitert erklärt wurden und der FPÖ-Chef Herbert Kickl den Regierungsauftrag an den Bundespräsidenten Van der Bellen zurückgab.
Doch was geschieht nun weiter in Wien? Wer soll regieren? Soll es Neuwahlen geben? Die wären eigentlich angesagt, denn ÖVP, SPÖ und Neos waren zuvor schon mit Koalitionsverhandlungen gescheitert. Wenn die Parteien selbst untereinander mit der Koalitionsbildung gescheitert sind und nicht weiter kommen, dann müssten sie angesichts dieser Tatsache eigentlich mit der Bitte um ein neues Votum an die Wähler herantreten.
Bitte nicht das demokratisch Logische
Dummerweise wissen oder ahnen die führenden Parteifunktionäre in Österreich ziemlich genau, was die Wähler wünschen, auch wenn sie es – ähnlich wie in Deutschland – so genau gar nicht wissen wollen. Sie haben nicht vor, diesem Wählerwillen inhaltlich zu folgen, sondern wünschen vom Stimmbürger bloß eine Legitimation dafür, nach eigenem Gutdünken Politik zu machen. Aber sie wissen, dass nur eine Partei von einer Neuwahl profitieren würde: die FPÖ. Die ist schon stärkste Partei, da würde es noch schwerer möglich sein ohne beziehungsweise gegen sie eine Regierung zu bilden. Deshalb regiert unter den Noch-Regierenden in Österreich wie in Deutschland die Angst vor den Wählern. Und in Österreich kann man die Neuwahlen vielleicht wenigstens noch hinauszögern.
Bei den Koalitionsverhandlungen hatte man bei der ÖVP offenbar angenommen, dass die FPÖ für die Regierungsbeteiligung und die Wahl eines FPÖ-Kanzlers einen sehr hohen Preis zahlen würde und sich verzockt. Die langjährige Regierungspartei wäre in diesem Bündnis der Juniorpartner gewesen, verlangte aber nicht nur mehr Ministerien, als sie dem Wahlsieger zugestand, sondern auch alle wichtigen Schlüsselressorts wie Innen-, Finanz-, Wirtschafts- und Außenministerium. Dazu sollten dem Kanzleramt Zuständigkeiten entzogen, mithin Kickl gegenüber seinen Vorgängern entmachtet werden.
Diesen Preis fürs Kanzleramt zu zahlen war der FPÖ-Chef aber nicht bereit und setzt nun lieber auf Neuwahlen. Die wiederum müssen seine Gegner fürchten. Die ÖVP war schon bei der letzten Wahl krachender Wahlverlierer. Nachdem sie bei Koalitionsverhandlungen in zwei unterschiedliche Richtungen gescheitert ist, dürfte sie bei einer Neuwahl wohl kaum auf gesteigerten Zuspruch hoffen können. Vor allem würde sie im Falle einer Neuwahl aufpassen müssen, mit welcher Politik sie für sich wirbt. Als hilfreiche Partner der immer noch in der Merkel-Politik festsitzenden künftigen deutschen Regierungsparteien CDU, SPD und/oder Grüne dürften sie daher ausfallen.
Alles denkbar, was Neuwahlen vermeidet
In Wien lotet der Bundespräsident dem Vernehmen nach derzeit aus, ob es noch oder wieder die Chance für eine andere Regierungsbildung gibt. Auch eine Minderheitsregierung oder eine sogenannte Expertenregierung sind im Gespräch. Offenbar ist jetzt alles denkbar, was Neuwahlen vermeidet.
Ob das gelingen kann, ist völlig offen. Offenkundig ist aber, dass Neuwahlen das demokratisch Logische wären. Wenn jetzt alles dafür getan wird, selbige wegen des erwartbaren Ergebnisses zu verhindern oder wenigstens zu verzögern, dürfte das bei vielen Wählern auch nicht gut ankommen. Was wiederum eher der FPÖ nutzen dürfte.
Die Angst vor Wahlen, weil die Wähler falsch wählen könnten, weist keinen Weg, der zum Erhalt einer demokratischen Ordnung führt. Egal ob in Österreich oder Deutschland. Aber das österreichische Polit-Theater hat gegenüber dem heimischen einen großen Vorteil: Als Deutscher ist man selbst nicht in jedem Fall sofort und unmittelbar von den Folgen betroffen.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.