Auf Anregung des Bundesgesundheitsministers soll aus den Arztpraxen mit einer simplen Maßnahme der Termindruck genommen werden: längere Sprechzeiten. Bisher sollen Kassenärzte mindestens zwanzig Stunden pro Woche ihre Regelsprechstunde in der Praxis anbieten, klingt doch nicht nach viel, und nun werden es gesetzliche fünfundzwanzig. Jawoll, sollen die Mediziner mal arbeiten!
Denn Arzt muss ja ein cooler Job sein: zwanzig Wochenstunden, und ab in die soziale Hängematte, die viele Freizeit genießen. Fragen Sie mal meine Frau, das verhinderte Milchmädchen...
Für alle, die das interessiert: Montags, dienstags und donnerstags habe ich je sechs Stunden Regelsprechzeit, mittwochs und freitags je dreikommafünf, macht Summa summarum fünfundzwanzig, ich bin also schon einmal auf Jens-Spahn-Niveau. Damit könnte ich die Sache ad acta legen, sie betrifft mich nicht. Oder doch?
Rechnen wir mal weiter: Bei den Regelsprechzeiten handelt es sich um jene Zeiten, in denen die Tür der Praxis offen steht. Etwa neunzig bis einhundertzwanzig Minuten länger zu arbeiten, weil es schlicht krachend voll ist, stellt den auch auf Patientenseite bemängelten Normalzustand jedes einzelnen Arbeitstages dar, denn natürlich entstehen so tagesgleiche Wartezeiten in beträchtlichem Ausmaß gerade für diejenigen, die nicht per Termin gekommen sind, sondern als Notfall.
Dann wären da noch die Hausbesuche in der „Mittagspause“ und nach „Feierabend“, die Visiten in drei Altenheimen und eine kleine chirurgische Sprechstunde mit Operationen sowie der „Bürokratietag“ für Reha-, Renten- und Sozialanträge, jeweils an ein bis zwei Sonnabenden pro Monat, zu je weiteren sechs Stunden, zuzüglich jener „Mittagspausen“ und „Feierabende“ natürlich, die ich mit weiterer Bürokratie verbringe, beispielsweise dem Ausfüllen von Berichten für die Sozialbehörden und Sozialgerichte, für die Rentenversicherungsträger und den Medizinischen Dienst der Krankenkassen, der meine sozial so freundliche und volkswirtschaftlich so gefährliche Tätigkeit als Onkel Doktor kontrolliert.
Und dann hätten wir da noch die durchschnittlich zwei dringlichen Notfälle pro Woche, die die Sprechstunden unterbrechen, wenn es sein muss, auch per Hausbesuch. Wie heißt es doch? Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!
Kassensturz für den Minister
Erst jetzt wird die Rechnung mit dem Wirt gemacht, und der heißt in meinem Etablissement, dem Himmel sei es gedankt, nicht Jens Spahn: Ich setze locker und bescheiden täglich zwei Überstunden für die Sprechstunde, zwei Überstunden für die Hausbesuche und eine Überstunde für Bürokratie an, die ein bis zwei Sonnabende verteile ich auf zwei Stunden wöchentlich. Kassensturz: zweiundfünfzig Wochenstunden. Unter uns: Dieser kleine Laden mit fünf Angestellten muss auch noch unwesentlich verwaltet werden, es gibt da noch ein paar kleine Störfaktoren wie Gehaltsabrechnungen, Rechnungen, Management und Controlling und meinen mit den Hufen scharrenden Steuerberater. Schwupps, weitere sechs Wochenstunden. Hurra, die sechzig ist erreicht! Gesundheits-Jens stellt mir daher „mehr Geld“ in Aussicht, wenn ich als Landarzt neue, zusätzliche Patienten annehme – und mich damit in aller Ruhe und ganz gemütlich der Siebzigstundenwoche genauso nähere wie dem Regress. Ja, nee, is klar!
Ich habe da nämlich auch noch so ein paar lustige Budgets, für Ihr Medikament und Ihre Krankengymnastik zum Beispiel, aber auch für die Gesamtzahl der von mir behandelten Kranken und für meine maximale tägliche Arbeitszeit, und ich sage dann immer zu mir selbst, also nicht zu Ihnen natürlich, die Politik möge dann auch die Müllabfuhr zur Mehrarbeit zwingen und danach für die Menge des von ihr abtransportierten Mülls bestrafen, das wäre genauso sinnstiftend. Ist übrigens auch eine echt coole Maßnahme der Nachwuchsförderung für Landärzte!
Machen wir noch ganz kurz weiter: Hätte ich nur zwanzig Stunden Regelsprechzeit pro Woche, wie Jens Spahn es bemängelt, dann käme ich jetzt immer noch auf fünfundfünfzig Wochenstunden. Jede halbwegs spaßorientierte Gewerkschaft bekäme schon ab achtunddreißigkommafünf Zulauf und reichlich rein verbalen Rückenwind von SPD oder Linkspartei für regelmäßige, sozial gerechte Demos vor irgendwelchen Behörden und Arbeitgeberpalästen.
Einer meiner Kollegen illustriert im Niedersächsischen Ärzteblatt die komplette Sinnfreiheit der Spahn’schen „Reform“ noch deutlicher, indem er in seinem Leserbrief sinngemäß schreibt, man könne dann ja offenbar auch die Wohnungsnot in einer Großstadt dadurch bekämpfen, indem der Oberbürgermeister mehr Sprechzeiten bei Maklern und Wohnungsgesellschaften anordnet.
Eine physikalische Lösung für Jens Spahn
Nun ist es ja nicht so, dass ich kein Verständnis hätte für Politiker. Gesundheits-Jens hat ziemlich sicher auch eine Fünfundfünzigstundenwoche, von Bundeswehr-Uschi und meiner geliebten Kanzlerin ganz zu schweigen, es kann ja schließlich nicht jeder, der vorläufig noch in Amt und Würden ist, so viel Freizeit haben wie Martin Schulz oder soviel Asche wie Gerhard Schröder im politischen Ruhestand. Das alles verstehe ich sogar sehr gut, nur hält sich mein Mitleid in Grenzen: Wer eine Menge Probleme erzeugt, der muss eben nachsitzen, das war schon zu meiner Schulzeit so. Oder in die Wirtschaft gehen, am besten in die russische, die kennen sich mit Planwirtschaft wenigstens noch aus, und dann passiert hier weniger autoritärer Mist.
Ich habe allerdings auch eine physikalische Lösung für Jens Spahn, denn offensichtlich ist das alles ja auch nach meiner Argumentation eine relative Sache:
Man muss sich nur schneller bewegen, dann hat man viel mehr Zeit! Albert Einstein hat das schon vor über hundert Jahren bewiesen. Den Effekt nennt man Zeitdilatation. Jens Spahn kann daher mit seinem Reformhaus gern in der schnellen Umlaufbahn bleiben und seinen Zeitgewinn genießen, während ich mich hier unten schon auf den nächsten, langsamen Spaziergang zur Wahlurne in der hiesigen Grundschule freue. An einem Sonntag nehme ich mir dann auch für Jens Spahn sehr gern die nötige Zeit.