Henryk M. Broder / 10.01.2021 / 15:30 / Foto: Imago / 69 / Seite ausdrucken

Jens Spahn und der Heilige Gral von Europa

Wieder einmal brach der Winter in Deutschland zur Unzeit aus. Es gab keine „weiße Weihnacht“, auch kaum Schnee zu Silvester, dafür schneite es am ersten Wochenende des neuen Jahres vielerorts so heftig, dass Bürgermeister und Polizei eingreifen mussten, um „das Verkehrschaos in den Griff zu bekommen“, wie es am Montag in einem Bericht der „Tagesschau“ hieß. 

Abertausende von Menschen strömten mit Kind und Kegel in die Natur, mehr als die betroffenen Gemeinden in den „Wintersportgebieten“ verkraften konnten. Viele Straßen wurden gesperrt, Parkplätze verbarrikadiert, Pisten zu No-Go-Areas erklärt. 

Der Bürgermeister der ansonsten vor sich hin dämmernden Gemeinde Oberhof in Thüringen gab bekannt, er habe Verständnis dafür, „dass es die Menschen… in der Pandemie nach draußen drängt“, aber der Ort werde „überrannt“, deswegen sollte nur noch „Zugang haben“, wer in Oberhof wohnt oder arbeitet „oder ein berechtigtes Interesse daran hat, hierher zu kommen“.

Der Wunsch, sich vom wochenlangen Lockdown zu erholen, wurde nicht als „berechtigtes Interesse“ anerkannt. Verstopfte Straßen, kilometerlange Staus, keine Parkmöglichkeiten und keine Toiletten gab es auch in der sauerländischen Wintersportmetropole Winterberg, dennoch blieben die Appelle der Stadt unerhört, „wegen der Coronalage auf die Anreise zu verzichten“. Für die örtliche Polizei dagegen war es ein guter Tag. Sie erteilte 63 Platzverweise, kassierte 150 Verwarngelder wegen Parkverstößen und 26 Verwarngelder für Verkehrsverstöße, stellte 6 Verstöße gegen die Maskenpflicht und 19 Verstöße gegen das Betretungsverbot fest; außerdem brachte sie zwei Strafanzeigen wegen Körperverletzung auf den Weg.

Pisten auf und Seilbahnen voll

Wenn es etwas gibt, worauf man sich in Deutschland verlassen kann, dann ist es die Polizeistatistik. Und die Überzeugung, dass „wir“ es besser machen als alle anderen. So folgten den Reportagen über die Corona-bedingten Maßnahmen zur Eindämmung wintersportlicher Aktivitäten Berichte aus den Schweizer Bergen, wo „winter as usual“ stattfindet, die Pisten auf und die Gondeln der Seilbahnen voll sind. 

Vorgetragen in einem Ton pädagogischer Entrüstung, wie er auch angeschlagen wird, wenn es um Kinder geht, die lieber Party als Hausaufgaben machen. Die Chancen stehen gut, dass die Schweizer aufgrund ihres Leichtsinns zu Super-Spreadern ernannt werden, verantwortlich dafür, dass es nicht gelingt, die Corona-Pandemie einzudämmen. Und da die Schweiz nicht Teil der EU ist, gehört sie umgangssprachlich nicht zu Europa. 

„Die europäische Zusammenarbeit hat sich gerade, und auch der europäische Zusammenhalt hat sich gerade in den letzten Monaten und gerade in der Pandemie als so wichtig erwiesen…“, verkündete Regierungssprecher Steffen Seibert in einer Pressekonferenz letzten Montag und wies damit die Kritik zurück, die Bundesregierung habe zu spät und zu wenig Impfstoff bestellt, um nicht in den Verdacht eines „Impfstoff-Nationalismus“ zu geraten, vor dem unter anderen der MP von NRW, Armin Laschet, mit der ihm eigenen Feinfühligkeit gewarnt hatte. 

Während in den USA, in Großbritannien, in Israel  bereits geimpft wurde, wartete Deutschland, das Rückgrat der EU, brav eine Freigabe des in Deutschland entwickelten Impfstoffs durch die European Medicines Agency ab, wie es die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, verordnet hatte. „So wie wir gemeinsam durch diese Pandemie gegangen sind, sollten wir auch bei der Ausrottung dieses grausamen Virus gemeinsam und geschlossen vorgehen.“ 

Tage der Zuversicht

Von Merkels ehemaliger Verteidigungsministerin, der in Berlin alles missglückt ist, etwas anderes als Sprüche zu erwarten, wäre ausgesprochen verwegen. In dieser Beziehung steht ihr Jens Spahn, der amtierende Gesundheitsminister, nicht nach. Letzten Montag gab er sich selbst ein Interview („Es sind Tage der Zuversicht“) und stellte es gleich auf die Homepage seines Hauses. Darin sagt er u.a.: 

„Es ist eine Errungenschaft, dass alle EU-Mitgliedstaaten – von Kroatien bis Deutschland, von Portugal bis Finnland – am selben Tag mit dem Impfen beginnen konnten. Diesen Zusammenhalt brauchen wir nicht nur in der Pandemie. Wir werden mit Blick auf China und die Welt in diesen zwanziger Jahren den europäischen Zusammenhalt noch sehr brauchen. Da prägt es doch die Debatte auf Jahre und Jahrzehnte, ob und wer jetzt nur an sich denkt oder wer eben europäisch handelt. Unter Abwägung aller Argumente bleibt der europäische Weg richtig.“

Der europäische Weg. Der europäische Zusammenhalt. Impfen für Europa. Sterben für Europa. Jens Spahn und der Heilige Gral von Europa.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

Foto: Imago

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Leserpost

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Franck Royale / 10.01.2021

Früher war Diversität in der EU noch die größte Errungenschaft, heute ist Konformität der „europäische Weg“. Ich spüre eine kognitive Dissonanz, Herr Spahn.

Archi W Bechlenberg / 10.01.2021

Hast du einen Opa / bald nicht mehr, dank Europa.

Wolfgang Richter / 10.01.2021

Ist doch beruhigend, wenn es der Obrigkeit gelingt, wenigstens bei den an der Frischen Luft dem Virus Trotzenden ein “Knöllchen” zu gunsten der Staatskasse zu kassieren, vor allem wenn damit ein Verstoß gegen den unterlassenen Gruß des merkelschen Gesslerhutes geahndet wird. Damit ist die staatliche Ordnung dann ja noch gewährleistet. Da die uniformierte Staatsmacht offenbar zur Zeit entsprechende zeitliche Freiräume hat, stellt sich für mich die Frage, ob die grundsätzlich von Kriminalität Lebenden derzeit von staatlicher Alimentation leben, also z.B. Kurzarbeitergeld erhalten. Wäre ich an deren Stelle, würde ich die staatlich verordnete Maskierung dazu nutzen, meine Tätigkeitsfelder zu intensivieren. Dazu würde mich interessieren, ob diese Teile der Bevölkerung derzeit Corona-solidarisch in Kurzarbeit sind oder deren Nutzung der staatlich verordneten Verschleierung der Täter- Identität auch zu den Feldern des gleichgeschalteten Journalismus’ gehört, die nicht thematisiert werden sollen, um den “Michel” nicht zu verunsichern. Wäre ich Handtaschenräuber aus Berufung, wäre derzeit für mich jedenfalls Hochsaison, auch wenn die Kundschaft gerade nicht in größerer Zahl durch die Innenstädte streift. Aber dafür ist auch mehr Raum für freies Rennen zur Flucht vorhanden.

Ulrich Pletzer / 10.01.2021

Ich bin immer wieder überrascht, wie punktgenau passend moderne Algorithmen im Internet die inhaltlich optimale Werbung zu den redaktionellen Themen auswählen. Wo Herr Broder über Frau von der Leyens Phrasen berichtet, schaltet die Firma Praxis Vita ihr Inserat dazu, das zwei nackte Frauenbeine zeigt mit dem Werbetext :” Masturbation zum Einschlafen - diese Gründe sprechen dafür “ Da ist die künstliche Intelligenz heute schon voll auf Augenhöhe zur politischen.

Steve Acker / 10.01.2021

wie zu lesen war.  Die neuen Corona-Regeln gelten ab morgen. Und Söder schreit schon nach neuen Verschärfungen.

Thomas Kache / 10.01.2021

Und das kleine niedliche Virus sitzt in einer Ecke, lächelt sanft vor sich hin, und spielt auf seiner Mundharmonika… ja was wohl? Das Lied vom Tod vielleicht? Liebe Flinten- Uschi. liebes Spähnchen, auch du, Merkileinchen und all die anderen, welche gar nicht genug lockdownen können. Sars Cov19 ist Geschichte, vorbei, finito. Aktuell ist eine Mutation am Werke, von der ihr Paniker soviel Ahnung habt. wie ein Schwein vom Stabhochsprung. Und für euch alle: ein Virus kann man nicht besiegen. Seitdem sich Lebewesen aufgemacht haben, ihr feuchtes Refugium gegen ein Leben an Land einzutauschen, und sich diesem Leben mit Lungenatmung angepasst haben, gibt es Viren, welche es darauf abgesehen haben, den vormaligen Kiemenatmern das Leben an Land zu vermiessen. So gesehen ist der, die, das Virus eine evolutionäre Erfolgsgeschichte. Ich hätte gerne mal eine Auskunft: in einem Liter durchschnittlicher Stadtluft- was, ausser Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoff etc, ist da noch so alles drin? Wie viele Bakterien, Sporen, (un- und bekannte, trotzdem tödliche) Viren, und für Lungenatmer im allgemeinen, und die Spezies Mensch im besonderen, gefährliche Inhaltsstoffe inhaliert der Landbewohner so im Durchschnitt? Und, wozu, zum Geyer, haben wir ein Immunsystem? Für alle, welche es einfach noch nicht begriffen haben- das irdische Dasein ist im Moment der Zeugung mit dem Schlusspunkt des Todes versehen worden. Und das ist gut so! Guten Abend

B.Schulz / 10.01.2021

@Frances Johnson „...dass in den JWD-Ländern Schleswig-Holstein und MeckPom doppelt bis dreimal so viele geimpft ... Erklärung?“ Nicht so richtig, eher eine Vermutung: in MeckPomm wehrt sich eh keiner. Im Gegenteil,  alles dankbare verrentete Schwesig-Wähler; wenn’s nicht so richtig klappt, dann ist das nicht so schlimm. Die produzierenden Länder braucht man noch.

Christian Wingerter / 10.01.2021

Ich habe es selbst erlebt, wie am 16. März, vom einen auf den anderen Tag, Deutschland Europa außer Kraft setzt. Die Grenzen sind dicht und Schengen ist faktisch passé. Grenzregionen, die im Vertrauen auf ein geeintes Europa zusammengewachsen sind und Familien, die grenzübergreifend leben, können sich erstmal bis auf weiteres nicht mehr sehen. Letzteres habe ich selbst erleben „dürfen“. Bilder von Grenzzäunen zwischen Deutschland und der Schweiz, mit denen Liebende auf Distanz gehalten werden. Früher hätten solche Bilder als Beweis für die Menschenverachtung sozialistischer Regime gedient. Deutsche Politiker, insbesondere die Kanzlerin, bedienen sich vielleicht gerne europhilen Vokabulars, aber wir setzen unsere Interesse off-stage immer wieder sehr effektiv um. In den anderen Ländern wird dies sehr wohl wahrgenommen. Die einzigen, die an unsere „Europafreundlichkeit“ glauben und sich deswegen vielleicht grämen, sind wir Deutschen selbst. So gesehen ist eine faire Verteilung des Impfstoffes absolut angemessen wenn man noch halbwegs glaubwürdig am europäischen Gedanken festhalten will. Mich überrascht, dass die Kritik an einer überhasteten Entwicklung eines unkalkulierbar gefährlichen Impfstoffs bei einigen nun nahtlos in Ungeduld und Futterneid umkippt. Vor allem weil sich diejenigen von der SPD und den eifrig nachplappernden Leitmedien einen Bären aufbinden lassen. Die EU hat wohl insgesamt soviel Dosen vorbestellt, dass die EU-Bevölkerung zweimal komplett durchgeimpft werden könnte. Dass die Bereitstellung des Impfstoffs und das Impfen selbst Zeit brauchen, ist länglich bekannt. Auch dass die sogenannte Herdenimmunität ganz Spahn-frei optimistisch gerechnet frühestens gegen Ende dieses Jahres.

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