Claude Cueni, Gastautor / 28.11.2022 / 11:00 / 16 / Seite ausdrucken

Jeder will Star sein, keiner Publikum

Heute ringt jeder um Aufmerksamkeit, will ein Star sein wie damals im Hotel Mama, als Quengeleien vor den Schokoriegeln an der Ladenkasse zum Erfolg führten. Keiner will Publikum sein. Mit der Selfie-Kultur wurde die Zellteilung der Ich-Gesellschaft noch beschleunigt.

Die Straßen waren leergefegt, Theater, Kinos und Universitäten geschlossen, gebannt starrten im Januar 1962 knapp 90 Prozent der deutschsprachigen Fernsehzuschauer in ihre klobigen Röhrengeräte. War der Papst zum Islam konvertiert? Waren Außerirdische in St. Moritz gelandet? Nein, gesendet wurde der Krimi-Sechsteiler „Das Halstuch“ von Francis Durbridge.

Da der Fernseher noch kein Massenmedium war, traf man sich bei Nachbarn, Freunden oder Verwandten zum geselligen Mörderraten. Schwarz-weiß waren nicht nur die bewegten Bilder, sondern auch die Ansichten. Man war entweder männlich oder weiblich, katholisch oder protestantisch, Cervelat-Fan oder Steak-Fan.

Heute ist man entweder Fleischesser, Flexitarier, Pescetarier, Vegetarier, Veganer oder Frutarier. Man ist nicht mehr entweder männlich oder weiblich, sondern polysexuell, demisexuell, asexuell, ambisexuell oder autosexuell. Hauptsache anders.

Demonstriert man gegen das Klima, will man nicht Fußsoldat in der Fridays-for-Future-Bewegung sein, sondern gründet eine neue Gruppe mit neuem Namen und klebt an anderen Schauplätzen. Betreibt einer im Museum „Foodwaste“ mit Tomatensuppe, benutzt der Nächste Kartoffelbrei. Hauptsache unverwechselbar und medientauglich. Das sei für eine erfolgreiche „Jagd nach dem nächsten Selfie“ hilfreich, schreibt der ehemalige FFF-Aktivist Clemens Traub. 15 Minuten Ruhm.

Jede radikale Gruppe schärft ihre Konturen, indem sie sich gegen andere abgrenzt und diese anfeindet. Mit dem Untergang der Landeskirchen und des linearen Fernsehens ist gemeinsames Erleben kaum noch möglich. Jeder ist sein eigener Programmdirektor, sein eigener Verleger, und alles, was er anfasst, kann personalisiert werden, von der Kaffeetasse bis zur Fototapete.

Alles soll einmalig sein wie das Individuum selbst. Jeder ringt um Aufmerksamkeit, will ein Star sein wie damals im Hotel Mama, als Quengeleien vor den Schokoriegeln an der Ladenkasse zum Erfolg führten. Keiner will Publikum sein. Mit der Selfie-Kultur wurde die Zellteilung der Ich-Gesellschaft noch beschleunigt.

Trotzdem wollen wir Teil von etwas Größerem sein, aber innerhalb dieser Gruppe unverwechselbar. Sei es auch nur durch ein Tattoo.

 

Claude Cueni (66) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK, wo dieser Beitrag zuerst erschien. Sein neuester Roman heißt „Dirty Talking“, davor erschienen bei Nagel & Kimche die Romane „Genesis – Pandemie aus dem Eis“ und „Hotel California“.

 

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Sara Stern / 28.11.2022

Ich beobachte in Deutschland zunehmenden Kollektivismus und die Abkehr von jeglichem Individuellem. Fast jeder u30 hat ein Tattoo/Piercing. Jeder u30 hat 80%  seines Lebens nie etwas anderes als Grüne Politik von Merkel mitbekommen. Das sind Leute geformt durch Jahrzehntelange Propaganda ab Kindergartenalter. Gerade in den Alternativen sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass die aktuelle Generation “nur das Klima retten” will. Die sind gefährlich und komplett auf Linie gebrachte Leute, die heute das Klima retten, morgen den Fussball und übermorgen den nächsten Befehl bekommen. Das Feindesobjekt ist beliebig austauschbar. Bei den Ü30 siehts da noch etwas anders aus.  In den 90ern hatte man zumindest kurze Zeit versucht eine Art deutsche Demokratie aufzubauen. So etwas wie Indivualismus war schon immer und ist noch immer in Deutschland ein extremes Randphänomen, dass eigentlich nur in den Alternativen Biotopen zu beobachten ist. Und selbst da nur geringsten Dosierungen. Sieht man auch schön am Wahlverhalten. Zur Not wird bis zum bitteren Ende hinter der Partei hergelaufen und wiedergewählt, vermutlich, weil “die anderen” es ja auch machen.

Dr. Joachim Lucas / 28.11.2022

Früher gabs den Klassenkasper, der durch Faxen, Dummheiten und Albernheiten auffallen wollte. Nicht wenige kompensierten damit ihr fehlendes persönliches Profil und lebten damit ihre Egozentrik aus. Diese Klebe- und Schmierkasper von heute sind ähnlich, haben aber inzwischen den Verteilungsgrad von Fliegen auf Sch…. erreicht. Sie haben kein persönliches Profil. Ihr Herostratismus ist primitiv, risikolos und infantil, eher noch grenzdebil. Die schmieren sich auch Apfelmus ins Haar und lutschen aus Protest am Schnuller für ihre fünf Minuten Aufmerksamkeit und das Gefühl, was ganz revolutionäres geleistet zu haben.

R. Reiger / 28.11.2022

Wenn mir vor 10 Jahren jemand gesagt hätte, dass einige der Konzerne mit der größten Marktkapitalisierung der Welt auf Profilneurosen beruhen, ich hätte es nicht geglaubt.

Ludwig Luhmann / 28.11.2022

Statt des kindgerechten Wortes “Tattoo” ziehe ich das kantige und vielgesichtige deutsche Wort “Tätowierung” vor.

Jörg Themlitz / 28.11.2022

“Alles soll einmalig sein wie das Individuum selbst.”, Ach darum kämpft niemand um die Rechte von Zwitterwesen (Hermaphrodit). Oder weil das Biologie ist und es mit den durch gesellschaftlichen Konstruktivismus erzeugten 68 Geschlechtern nichts zu tun hat?

S. Andersson / 28.11.2022

Ich muss jetzt mal ein wenig böses schreiben. Die Möchte-Gerns dieser Welt die ständig irgend etwas absondern müssen, sollten sich besser mal mit anderen Menschen beschäftigen und lernen was Respekt und Anstand sind. Diese “Kellerkinder” sind es nicht Wert das irgend jemand denen Aufmerksamkeit schenkt. Und wer ständig irgend welche Tasten quält, der hat ganz offensichtlich nix zu tun. Arbeit würde diesen Leuten sicher ganz gut tun. Auch die Absonderungen die ich mit bekomme, sagen mir das es nicht die hellsten Leuchten sind. A-Soziale-Medien können wech ... mehr als flüssig ....  UND Schwarz-weiß sind zum Teil die Ansichten einiger die auf der Achse schreiben (Terror als Zeichen der Schwäche) wenn es um den Krieg geht—>USA/ der Westen gut…. Putin/ der Osten böse. Ein Krieg, egal wer anfängt ist immer auch ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung.

Marcel Seiler / 28.11.2022

In der Tat. Und man will nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Applaus. Die richtige Reaktion auf “Ich bin lesbisch” ist nicht: “Ach, du bist eine Lesbe?” Sondern: “Super, du bist eine Lesbe! Wie mutig und toll!!” (Diese Applaus-Geilheit ist mir das erste Mal bei meinem Studium in den USA im Jahre 2000 aufgefallen, jetzt hat sie auch Deutschland voll im Griff.) Sind diese Leute in der Wiege von ihrer Mutti nicht genug angelächelt worden? Wo kommt diese Gier nach Bestätigung her?

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