Tamara Wernli / 18.05.2017 / 13:10 / 14 / Seite ausdrucken

Japanische Impressionen: Von wegen Leitkultur

Wir führen aktuell eine Debatte über unsere Leitkultur, und übersehen dabei, dass das Wort an sich schon ein Widerspruch ist: Regeln für angemessenes Verhalten können vielleicht "angeleitet" werden. Tatsächlich gelebt werden sie jedoch nur freiwillig – oder eben nicht. Ich war gerade in Japan. Hier wird besonders deutlich, dass ein harmonisches Zusammenleben auf dem Konsens der Werte beruht.

Die Menschen lächeln hier viel. Sie sagen Ja, auch wenn sie Nein meinen, weil es der Harmoniepflege dient. In der U-Bahn wird nicht telefoniert, Unterhaltungen werden nur leise geführt. Alle reihen sich artig in die Warteschlange ein. Generell versucht jeder auf jeden Rücksicht zu nehmen.

Japan lebt von seinen Gegensätzen. Holzhütten und Wolkenkratzer. Geishas und Starbucks. Altehrwürdige Tempel und hochtechnisierte Toiletten, wo sich das Washlet in öffentlichen Gebäuden und Hotels dank UV-Licht so keimfrei präsentiert, dass man daraus trinken könnte, und die Reinigungsangebote für den Allerwertesten von Dusche bis zu Massagefunktion und Föhn reichen, inklusive Vogelgezwitscher zur Übertönung peinlicher Geräusche.

Das WC im edlen Londoner "Ritz" muss sich für Japaner wie ein mittelalterliches Plumpsklo anfühlen. Überhaupt scheint hier vieles durchdachter als in unseren Breitengraden. Wie sonst sollte das harmonische Zusammenleben, das es tatsächlich ist, funktionieren in einer Stadt wie Tokio, wo knapp 38 Millionen Menschen auf einem Raum zusammenleben, der nur ein bisschen kleiner ist das Bundesland Schleswig-Holstein? Ich bin nicht Soziologin, schätze aber, dass eine solche Bevölkerungsdichte bei uns Zustände herbeiführen würde wie im Hollywoodfilm "Mad Max", wo in einer postapokalyptischen Welt Anarchie und Chaos herrschen.

Das Gegenteil der bei uns gelebten "Ich zuerst"-Mentalität

In Japan, so lese ich, liegt der Ausländeranteil bei zwei Prozent. Hier lebt eine durchwegs homogene Gesellschaft, Menschen vertreten dieselben Werte und Grundsätze. Das Gefühl von gemeinsamer Verantwortung und die Wahrung der Harmonie steht über den individuellen Bedürfnissen und Absichten – ohne dass dabei die persönliche Entfaltung gehemmt oder geschwächt würde. Zweifellos das Gegenteil der bei uns gelebten "Ich zuerst"-Mentalität, wo sich jeder für das Zentrum des Universums hält und seine Ansichten und Bedürfnisse über alles andere hievt. Mit ihrer Einstellung halten die Bewohner Tokios Lasten wie Dichtestress aus, endloses Schlange stehen oder horrende Mieten (ohne dass sie gleich Häuser besetzen). Der typische Japaner scheint in sich genügsam, gegen aussen trägt er eine aufgeräumte Distanz. Zuvorkommenheit ist so selbstverständlich wie unser Handschlag zur Begrüssung.

Gerade im Kontext mit unserer aktuellen Debatte um Leitkultur sind diese Beobachtungen interessant. Die jahrtausendalten japanischen Werte, die bis in die Moderne überlebt haben, ihre Mentalität und Lebensphilosophie, scheinen das, was das Land ausmacht und die Gesellschaft im Innersten zusammenhält, was sie Gesetze und Regeln einhalten und ihre Rechte nicht missbrauchen lässt; die Kriminalität in Tokio ist im internationalen Vergleich gering, Mord, Todschlag, Diebstahl sind seit Jahren rückläufig. Tokio gilt laut diversen Studien als sicherste Metropole der Welt. Ohne Weiteres lässt man im Café seine Handtasche während des Gangs zur Toilette am Stuhl hängen – bei uns, selbst in einer Kleinstadt, ein Ding der Undenkbarkeit.

Nicht alles ist hier wunderbar, es rumort auch in Japan: Überalterung, kaum Geburten – Experten prognostizieren einen enormen Bevölkerungsrückgang bis 2050. Trotz Fachkräftemangel in Pflegeberufen oder in der Landwirtschaft gilt hier eine restriktive Flüchtlings- und Einwanderungspolitik. Laut einem Artikel von "Zeit.de" gibt Japan zwar viel Geld an Entwicklungsprojekte im Ausland aus, aber die Behörden sind nicht gleich grosszügig bei bedürftigen Ausländern. Es dränge sich der Verdacht auf, dass sich die politische Führung durch grosszügige Entwicklungshilfeleistungen von der Pflicht freikaufen will, Flüchtlinge aufzunehmen. 2013 hat das Land nur sechs Personen als Flüchtlinge aufgenommen – und das wahrscheinlich noch widerstrebend. Meiner Einschätzung nach besitzen diese sechs einen Doktortitel, einen IQ von 150, und sind wohl grosse Japan-Fans.

Die Japaner wollen eben unter sich bleiben. Na, und? Man kann ihnen keinen Vorwurf machen. Und wenns zu schlimm wird, schliessen sie sich halt wieder ein für 200 Jährchen, wie sie es zuletzt um zirka 1660 taten. Ein- und Ausreise waren damals verboten, weil man den Verlust der kulturellen Einzigartigkeit befürchtete. Wie mir Einheimische erzählen, haltet die grosse Mehrheit der Japaner an der heutigen entschlackten Form der Abschottung fest – aus Angst, dass Einwanderung mehr Kriminalität bedeuten und kulturelle Diskrepanz die Harmonie im Land empfindlich stören könnte.

Sind die Japaner vielleicht weiterentwickelt als wir in ihrer Kultur?

Es ist eine gewagte Hypothese: Sind die Japaner vielleicht weiterentwickelt als wir in ihrer Kultur? Als Gesellschaft gefestigter? Eine Kultur ist ja nicht besser oder schlechter, sie ist nur anders. Fest steht: Für die japanische Regierung kommt das Land und sein Volk an erster Stelle. Das Volk dankt es, so scheints, indem es geschlossen hinter ihr steht. Man kann ihre Prinzipien oder Sorgen egoistisch finden. Ob aber Immigration im grossen Stil – unbestritten ein Einflussfaktor beim Fachkräftemangel – die Jobprobleme langfristig zu lösen oder die eh schon stetig wachsende Wirtschaft noch mehr anzukurbeln vermag, steht in den Sternen. Anstand und Etikette bilden hier ein sensibles Gefüge, das, wie man als Reisende feststellt, durch unbedachte Fremdeinwirkung leicht an seine Grenzen gelangt. Blendet man den evolutions-biologischen Standpunkt mal aus, ist die Frage doch die: Ist immer mehr Wachstum überhaupt die Lösung in einer Welt, die eh schon überbevölkert ist? Salopp formuliert: Warum sollen sie sich opfern, wenn wir unseren Bockmist nicht im Griff haben?

Die Sorgfalt, mit der die Japaner ihre Werte und ihre kulturelle Vergangenheit bewahren, ist bewundernswert.

Der Beitrag erschien zuerst in der Basler Zeitung. Tamara Wernlis Kolumne gibt es jetzt hier auch als Videobotschaft, man kann ihn auf ihrem youtube Kanal auch abonnieren.

Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst. In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen.

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Martin mayer / 19.05.2017

Ich bin zwar Europäer, aber genau aus diesen genannten Gründen Liebe ich dieses Land und diese Menschen! Lang lebe das schöne Japan mit seinen wundervollen Menschen.

Steffen Fritzsche / 18.05.2017

Auch die reichen Ölstaaten nehmen nur sehr wenige Flüchtlinge auf ( Glaubensbrüder ) weil sie sich um die innere Sicherheit sorgen. Die Flüchtlinge müssten nicht eimal übers Meer. Aber wenn dort zu ist gehen diese natürlich aufs Mittelmeer wo ein Schläuserfährdienst wie Sea Watch und andere NGO,s hilft. Im internationalen Seerecht steht nicht das Schiffsbrüchige über hunderte Kilometer befördert werden müssen. Was aber darin steht ist bis zum nächsten Hafen und der ist bestimmt nicht an Europas Küste !

Thomas Rießinger / 18.05.2017

“Für die japanische Regierung kommt das Land und sein Volk an erster Stelle.” Für die deutsche Regierung kommt das Land und sein Volk an letzter Stelle.

Marie-Jeanne Decourroux / 18.05.2017

In Japan bekommen Muslime aus unerfindlichen Gründen auch keine Niederlassungserlaubnis.

Petra Wilhelmi / 18.05.2017

Man sollte vielleicht auch sehen, dass die japanische Kultur eine völlig andere ist als unsere, schon von Anfang an. Sie ist auch aus einer strikten Isolation hervorgegangen. Es ist eine Kultur von altes her, wo jeder seinen Platz hat und seinen Platz einnimmt. Es ist eine hierarchische Gesellschaft mit bestimmten einzuhaltenden Regeln. Sie finden sich im zwischenmenschlichen Bereich bis hin, wann man eine Straßenkreuzung und wie man eine Straßenkreuzung zu überqueren hat, ebenso wie sich ein Straßenbahnfahrer bei der Abfahrt der Straßenbahn zu verhalten hat und wo man sich hinstellt, wenn der Zug einfährt. Die japanische Gesellschaft ist eine minutengenaue, durchgeplante Gesellschaft, in der sich jeder genau nach der eingeplanten Zeit zu richten hat. Die Prämissen sind also völlig andere, wie bei der europäischen Kultur, respektive der deutschen. Es dementsprechend schwierig bzw. unmöglich, beide Kulturen miteinander zu vergleichen.

Viktor Schlotz / 18.05.2017

Diesen Artikel unterstütze ich zu 100% meine Liebe!!!!!! Ich habe 4 Jahre in Tokyo und Kobe gelebt , und kann nur sagen , es ist unglaublich mit welcher Selbstdisziplin und Harmonie die Japaner ihre tagtägliche Lebensweise aufrechterhalten. Der Artikel beschreibt zu vollster Zustimmung die eklatanten Fehler die wir zur Abschaffung unserer Kultur betreiben!!! Leider bereue ich das ich das Land wieder verlassen habe , wenn ich mir diese haarstäubenden Zustände in unserem Europa anschaue. Der Islam plus afrikanische Analphabeten und alle seine Potentaten werden diese Kultur zerstören. Leider sind keine Ansätze der Vernunft erkennbar wenn ich mir die aktuellen politischen Entwicklungen betrachte. Vielen Dank für den Bericht.

Manuela Bartusch / 18.05.2017

Einwanderung kann so herrlich wertvoll sein. Wie die große Gemeinde an Japanern in Düsseldorf, die nie unangenehm auffiel, die uns einen herrlich japanischen Garten im Nordpark spendierte und diesen mit eingeflogenen Spezialisten liebevoll pflegte. Am Wochenende vergnügten sich diese symphatischen Mitbürger wie die Kinder auf den Rheinwiesen mit Baseball etc. und dank ihnen durften wir jährlich ein wunderbares japanisches Feuerwerk genießen. Als ich noch dort wohnte und auch die überwiegend andere und sehr unerfreuliche Seite der Einwanderung erlebte, fing ich an, mich mit fernöstlichen Lebensphilosophien zu beschäftigen. Es ist eben ein Unterschied, ob mir auch das Wohl anderer Menschen am Herzen liegt oder ich einer steinzeitlichen und unmenschlichen Ideologie nachhänge, die mich schon seit Jahrhunderten auf einer Ebene verankert, die keinerlei konstruktive Entwicklung ermöglicht. Bei uns wird man demnächst nur noch von einer “Leidkultur” sprechen können, aber anscheinend will die überwiegende Mehrheit der Deutschen das so. Dumm gelaufen!  

Alexander Stroh / 18.05.2017

Sehr geehrte Frau Wernli, haben Sie vielen Dank für Ihren wunderschönen Beitrag zu Japan, dem Land meiner Ehefrau. Ich freue mich aus den von Ihnen genannten Gründen auf jeden Besuch dort, und kann eigentlich alles bestätigen, was Sie anführen. Weh ums Herz wird mir immer, wenn ich sehe, wie Deutschland davon immer mehr abweicht.

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