Wolfgang Zoubek, Gastautor / 01.05.2021 / 12:00 / Foto: Pixabay / 12 / Seite ausdrucken

Japan und die Energiefrage: Die Industrienation nach Fukushima

Vor wenigen Wochen, am 11. März, jährte sich die Atomkatastrophe von Fukushima zum zehnten Mal. Aus diesem Anlass wurde in vielen japanischen Medien Rückschau gehalten und der Opfer des Tsunamis gedacht. Viele hatten damals nahe Angehörige und viele auch ihre Häuser verloren. Die über 20.000 Toten waren aber nicht in Japan, sondern in Deutschland zum Politikum gemacht worden, weil sie sich so als „Beweis für die Gefahren der Atomkraft“ instrumentalisieren ließen.

In Japan war es umgekehrt, da versuchte man die Opfer der Katastrophe, die nicht ihr Leben, aber ihr soziales Umfeld verloren, weil sie aus der Gefahrenzone des Kernkraftwerks Fukushima evakuiert werden mussten, eher in den Hintergrund zu rücken, weil man keine schlafenden Hunde wecken wollte. In den letzten Jahren ist es um das Thema Kernenergie ruhiger geworden, aber es ist nach wie vor umstritten und kocht sofort hoch, wenn der Atomunfall wieder ins öffentliche Bewusstsein gerät. So wie kürzlich, als die Entscheidung bekanntgegeben wurde, dass mit Tritium kontaminiertes Kühlwasser trotz Protesten der Anwohner ins Meer abgelassen werden soll.

Am Abend des 11. März 2011 standen in den Schlagzeilen zuerst nur das Erdbeben und der Tsunami im Vordergrund. Das Epizentrum lag 350 km nordöstlich von Tokyo, und die Auswirkungen des Erdbebens, das sich am Nachmittag erreignete, waren auch in Tokyo spürbar. Der öffentliche Verkehr stand weitgehend still, für Stunden fuhren keine U-Bahnen mehr, viele Menschen kamen an dem Tag nicht mehr nach Hause. Auch Flugzeuge konnten am Flughafen Narita nicht landen und mussten umgeleitet werden.

Insgesamt reagierten die Japaner aber sehr diszipliniert. Eine japanische Bekannte, die sich damals zufällig in Wien aufhielt, ihren Rückflug für die zweite Märzhälfte aber schon gebucht hatte, bestieg ihr Flugzeug zum geplanten Termin ohne Zögern, während einige in Japan tätige Ausländer nach dem 11. März fluchtartig das Land verließen. Ich wohnte weit weg vom Katastrophengebiet, trotzdem machten sich Bekannte um mich große Sorgen. Meine Mutter besorgte mir Jodtabletten, und Freunde rieten mir, nicht mehr ohne Geigerzähler auszugehen, damit ich immer wüsste, wie hoch die Strahlung in meiner Umgebung wäre. Wie gering das Wissen um die tatsächliche Strahlengefahr war, offenbarte sich darin, dass kaum jemand (mich eingeschlossen) wusste, dass es zwei Maßeinheiten für Strahlung gibt. Mit Becquerel wird der radioaktive Zerfall von Substanzen gemessen, mit Sievert die Äquivalentdosis, das heißt, je nach Höhe und Dauer der Strahlenbelastung kann damit das Strahlenrisiko für Menschen eingeschätzt werden.

In Sichtweite des Kernkraftwerks baden Menschen im Meer

Man hatte in Japan bereits nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki Erfahrungen damit gemacht, wie der Körper auf radioaktive Strahlung reagiert. Und Rolf Sievert hatte sich schon vor dem Krieg mit Fragen der Strahlendosis beschäftigt, nachdem zuvor Forscher zum Teil völlig bedenkenlos ihre eigenen Körper radioaktiven Substanzen ausgesetzt hatten, darunter Henri Becquerel und Marie Curie. Inzwischen gilt es als gesichert, dass eine langfristige, aber geringe Strahlendosis weniger schädlich ist als eine kurzfristige, aber große Dosis. Strahlenschutz wurde daraufhin nicht nur für medizinisches Personal verbindlich, sondern später auch für Mitarbeiter in Kernkraftwerken. Die Richtwerte legen fest, wie hoch die Strahlenbelastung sein darf, ohne dass sie als gesundheitsgefährdend eingestuft wird. Die Strahlenkrankheit hat gewisse Symptome, die aber wieder abklingen, nur eine sehr hohe Strahlendosis wirkt unmittelbar tödlich.

Es wird oft behauptet, dass Strahlung Krebs auslösen kann, doch ein kausaler Zusammenhang zwischen einer Verstrahlung und einer Jahrzehnte später auftretenden Krebserkrankung ist wissenschaftlich nicht erwiesen. Die Zahl der Krebsfälle, zum Beispiel Leukämie in der Umgebung von Kernkraftwerken, oder solche, die vom Atomunfall in Tschernobyl ausgelöst worden sein sollen, sind mehr oder weniger Spekulation. In deutschsprachigen Medien werden dazu aber am liebsten die höchstmöglichen Zahlen genannt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie nach dem 26. April 1986 überall die Rede davon war, dass radioaktive Wolken nach Deutschland kämen und dass man auf Jahre hinaus keine Pilze und Wildtiere mehr essen dürfte, weil alles mit Cäsium verstrahlt worden sei. Doch das war nur eine Vorstufe, nach Fukushima ging es erst richtig los. Wieder wurde vor radioaktiven Wolken gewarnt, und man wollte den Import von japanischen Produkten einschränken, weil die alle verstrahlt seien. Dass diese Hysterie wenige Tage später zum Moratorium für die deutschen Kernkraftwerke führte, war die logische Folge davon.

Ich muss gestehen, dass ich selbst nie ein Befürworter der Kernkraft war. Ich hatte immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich auf Reisen in die Nähe eines Kernkraftwerkes kam. Ich besuchte einmal den landschaftlich schönen Nationalpark Kenting im Süden Taiwans. Dort badeten Menschen in Sichtweite des Kernkraftwerks Ma’anshan im Meer. Zu solcher Sorglosigkeit konnte ich mich nie hinreißen lassen. Auch in Japan mied ich die Nähe von Kernkraftwerken. Kurz nachdem ich nach Japan kam, gab es zwei atomare Zwischenfälle, die zeigten, dass die friedliche Nutzung der Kernenergie auch in einem Hochindustrieland nicht hundertprozentig sicher ist. 1997 gab es in Tōkai einen Nuklearunfall der Kategorie 3 und 1999 einen Unfall der Kategorie 4 im Kernkraftwerk Tōkaimura. Kategorie 4 bedeutet, dass Menschen durch Strahlung zu Schaden kommen. Bei der Uranwiederaufbereitung waren damals durch menschliches Versagen zwei Arbeiter so stark verstrahlt worden, dass sie daran verstarben. Auch damals hatten Anwohner evakuiert werden müssen, andere durften ihre Häuser nicht verlassen. Es stellte sich dabei heraus, dass es in Japan gar keine Notfallpläne für Evakuierungsmaßnahmen gab. Die Medien hatten ausführlich darüber berichtet, doch der Glaube der Japaner an die Sicherheit der Kernkraftwerke in ihrem Land wurde dadurch noch nicht erschüttert.

Einstieg in die Kernenergie trotz Hiroshima und Nagasaki

Ich fand das insofern erstaunlich, als Japan das einzige Land der Welt war, das bisher mit nuklearen Waffen angegriffen wurde. Da hätte man sich eher der Strahlengefahr bewusst sein müssen. Nachdem im August 1945 die Atombomben auf Hiroshima und Nakasaki gefallen waren, war man zuerst nur von der enormen Sprengkraft der Bomben schockiert, die heimtückische Strahlung wurde noch unterschätzt, Es wurden Untersuchungskommissionen in die beiden Städte gesandt, und die Wissenschaftler, die zuvor schon am japanischen Atomforschungsprogramm beteiligt waren, fanden bald heraus, dass es sich bei little boy auf Hiroshima um eine auf Uran 235 beruhende Bombe und bei fat boy in Nagasaki um eine Plutoniumbombe gehandelt haben musste. Im unmittelbaren Bereich der Detonationen war alles Leben auf einen Schlag ausgelöscht worden. Von menschlichen Körpern blieb da kaum eine Spur, zum Teil nur Schatten auf Mauerwerk. Diejenigen, die die Explosion überlebt hatten, aber stark verstrahlt worden waren, starben qualvoll innerhalb weniger Tage. Das damalige Geschehen ist in zwei Museen, eins in Hiroshima, eins in Nagasaki, dokumentiert.

Trotz dieser traumatischen Erfahrungen wurden nur ein Jahrzehnt später in Japan Pläne zur Nutzung der Kernenergie erörtet. Und dies, obwohl bis in die sechziger Jahre ein Kult um die Strahlenopfer, die sogenannten Hibakusha, getrieben wurde. Überlebende aus Hiroshima oder Nagasaki wurden bei Gedenkveranstaltungen als Opfer vorgeführt, mussten ihre abstoßenden Keloidwunden zeigen und davon künden, wie furchtbar der Atomkrieg war. Das unwidersprochene Argument für die Kernenergie war dagegen, dass ein rohstoffarmes Land wie Japan auf Kernkraftwerke angewiesen wäre. Es gab zwar Kohlevorkommen, zum Beispiel wurde unter der Insel Gunkanjima in der Bucht von Nagasaki seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Kohle abgebaut. Doch der Kohlebergbau wurde in den siebziger Jahren, als Erdöl die Bedeutung von Kohle als Energieträger ablöste, eingestellt. Japan wollte durch die Nutzung der Kernkraft die Abhängigkeit von Importen fossiler Brennstoffe verringern.

Unmittelbar nach dem Krieg war den Japanern von der amerikanischen Besatzungsmacht noch die Forschung zur Nukleartechnik verboten worden, doch bereits 1953 gab Präsident Eisenhower dafür wieder grünes Licht. 1954, im gleichen Jahr, als die japanische Nuklearforschung erneut aufgenommen wurde, gab es aber ein weiteres böses Omen: Es kam zu einem Unfall, als die Besatzung des Fischkutters Fukuryū Maru infolge eines amerikanischen Kernwaffenversuchs am Bikini-Atoll radiaoaktiv verstrahlt wurde. Obwohl das Boot rund 150 km von dem Ort entfernt war, wurde es aufgrund der ungünstigen Windrichtung von nuklearem Fallout betroffen. Ein Besatzungsmitglied starb infolge der Strahleneinwirkung noch im selben Jahr. Und auch die gefangenen Fische, nicht nur dieses einen, sondern auch die anderer Fischerboote, stellten sich später als kontaminiert heraus.

Meinungsumschwung erst nach Fukushima

Trotz der Empörung, die der Vorfall nur wenige Jahre nach Kriegsende in Japan erregte, gelang es, das Narrativ durchzusetzen, dass die militärische und friedliche Nutzung der Kernenergie zwei verschiedene Paar Stiefel seien. 1956 bildete sich das Japan Atomic Research Institut, 1963 gab es den ersten Forschungsreaktor und 1966 den ersten kommerziell genutzten Reaktor im Kernkraftwerk Tōkai in der Präfektur Ibaraki, 120 km nordöstlich von Tokyo. Deutschland war mit seinem ersten Forschungsreaktor in Garching und dem ersten Kernkraftwerk Kahl zwar ein paar Jahre früher dran, aber dafür ging der weitere Ausbau von Kernkraftwerken in Japan zügiger weiter. Meist wurden Siede- oder Druckwasserreaktoren installiert, nur in Tsuruga, in der Präfektur Fukui, setzte man im Kraftwerk Monju auf einen schnellen Brüter. Man versprach sich von der neuen Technik eine höhere Energiegewinnung. Doch nachdem das Kraftwerk nach über zehnjähriger Bauzeit 1995 in Betrieb gegangen war, gab es drei Monate später schon den ersten Unfall, große Mengen Natrium traten aus. Bis zum Jahr 2010 war das Kraftwerk stillgelegt, und beim ersten Testbetrieb folgte die nächste Panne, es musste wieder abgeschaltet werden. Ganz wollte man den schnellen Brüter immer noch nicht aufgeben, erst 2013 wurde eine Wiederinbetriebnahme von der japanischen Atomenergiebehörde endgültig untersagt. Nach Fukushima war es nicht mehr vertretbar, dass an so einer problematischen Technologie weiter festgehalten wurde.

Bis 2011 war die Einstellung der Japaner zur Kernkraft positiv, der Meinungsumschwung setzte erst im Anschluss an die Atomkatastrophe in Fukushima ein. Innerhalb des Chaos, das nach dem 11. März in Japan herrschte, wurde erst langsam klar, was in Fukushima tatsächlich geschehen war. Der Regierungssprecher hatte sich in seinen Presseauftritten auch redlich Mühe gegeben, die Vorfälle herunterzuspielen, und die Tokyo Electric Power Company, die Gesellschaft, die das Kraftwerk betrieb, tat das ihre, die Öffentlichkeit falsch zu informieren. In der Folge ließ sich aber nichts mehr vertuschen, alle Kernkraftwerke im ganzen Land mussten abgeschaltet werden, um deren Sicherheit zu überprüfen.

Vor dem Unfall in Fukushima betrug der Anteil des Atomstroms in Japan 30 Prozent, und es ist nachvollziehbar, dass ein Industrieland einen so großen Energieausfall auf einen Schlag nur schwer verkraften konnte. Skigebiete mussten gesperrt, Skilifte abgestellt werden. Auch Bahnlinien wurden stillgelegt, sofern als Alternative noch andere Verkehrsverbindungen zur Verfügung standen. Im Fernsehen wurden Tipps gegeben, wie jeder Haushalt Strom sparen kann, vom zusätzlichen Pullover bis zur Empfehlung, Kühlschranktüren beim Herausnehmen von Lebensmitteln und Getränken nur so kurz wie möglich zu öffnen.

Energieverschwendung überall im Land

In den Jahren davor waren Japaner noch große Energieverschwender, Stromsparen wurde erst seit 2011 ernstgenommen. Der Verbrauch ist in Japan sommers und winters hoch, weil in der kalten Jahreszeit viel Energie zum Heizen gebraucht und in den Sommermonaten für Klimaanlagen exzessiv genutzt wird. In meinen ersten Jahren in Japan fiel mir auf, dass es in öffentlichen Verkehrsmitteln meist entweder wärmer oder kälter als draußen war. Es war Usus, ab einem gewissen Datum direkt von Heizung auf Kühlung beziehungsweise umgekehrt umzustellen. Ähnlich verhielt es sich in Läden, auf Ämtern, in Theater- und Konzertsälen. Im Hochsommer strömte aus den offenen Türen der großen Kaufhäuser immer ein Schwall kühler Luft. Erst in den letzten Jahren hat man begonnen, Luftschleusen an den Eingängen einzurichten, um der Energieverschwendung ein wenig Einhalt zu gebieten.

Kühlen im Sommer ist den Japanern fast wichtiger als Heizen im Winter. Es kann im Juli und August sehr heiß werden, aber Japan ist kein tropisches Land, es gibt auch kalte Winter. In einigen Regionen sind sie eher mild, in anderen dagegen nasskalt und schneereich. Trotzdem werden in Japan Häuser eher so gebaut, dass das Wohnen vor allem in der warmen Jahreszeit angenehm ist. Ein guter Luftaustausch ist besonders bei der hohen Luftfeuchtigkeit in der Regenzeit, von Juni bis Juli, nötig und ebenso bei den häufigen Taifunen im Sommer. Aus diesem Grund sind Fenster nur einfach verglast, und überall zieht es durch die Türritzen. Das macht das Heizen im Winter sehr ineffizient, denn viel Wärme geht dabei verloren. Würde man aber in Japan Häuser so dämmen wie in Deutschland, dann hätte man innerhalb eines Jahres an allen Wänden und Decken dicken Schimmel.

Japanische Häuser haben, mit Ausnahme von Hokkaidō, bis heute normalerweise keine Kamine und daher auch keine Öfen. Zentralheizungen sind die absolute Ausnahme. An unserer Universität gab es zwar eine, doch aus Einsparungsmaßnahmen wird sie nicht mehr benutzt. Man ist stattdessen dazu übergangen, temporär mit Klimaanlagen zu heizen. Das bedeutet, dass man, wenn man morgens zur Uni kommt, im Büro oder im Hörsaal mindestens eine Stunde in der Winterjacke sitzen muss, um nicht zu frieren.

Warum es in Japan gewärmte Klobrillen und High-Tech-WCs gibt

Die meisten Haushalte begnügen sich mit Heizstrahlern, es wird immer nur der Raum geheizt, in dem man sich aufhält. Beliebt sind dabei Kotatsu genannte niedrige Tische, die unter der Tischfläche Heizstäbe haben, und über den Tisch wird eine Decke gelegt. Beim Sitzen mit den Beinen darunter ist es angenehm warm, doch das Zimmer bleibt ansonsten ungeheizt. Steht man auf, um beispielsweise auf die Toilette zu gehen, wird einem schnell kalt. Daher kommt der Gebrauch von gewärmten Klobrillen und die High-Tech-WCs mit eingebauten Bidets und handwarmen Wasserstrahlen. Ohne das ist es im Winter auf japanischen Toiletten im wahrsten Sinne des Wortes ‚arschkalt‘.

Konsumenten haben in Japan bei Stromanbietern keine große Wahl, man muss sich an den Stromerzeuger in der Region wenden, denn die großen Energieunternehmen haben sich das Land und damit den Markt aufgeteilt. Ein Unikum ist, dass die Spannung zwar überall 100 Volt beträgt, aber im Westen Japans ist die Netzfrequenz 60 Hz, im Osten 50 Hz. Das hat historische Gründe, und die beiden Netze sind bis heute voneinander getrennt. Obwohl sich die Energieunternehmen keine Konkurrenz machen, sind die Strompreise relativ moderat. In Tokyo kostet 1 kWh umgerechnet um die 20 Cent, dabei ist schon eingepreist, dass TEPCO nach dem Atomunfall in Fukushima die Preise hinaufsetzen hatte müssen, weil die Aufräumarbeiten und Entschädigungszahlungen so viel Geld verschlangen.

Ich wohne nicht in Tokyo und zahle für einen Single-Haushalt monatlich zwischen zehn und fünfzehn Euro. Dabei verzichte ich im Sommer auf eine Klimaanlage, benutze nur einen normalen Ventilator und heize im Winter mit Gas, sonst wäre die Rechnung um einiges höher. Der Energieerzeuger, von dem ich Strom beziehe, setzt zu einem großen Teil auf Wasserkraft. Das Unternehmen verfügt zwar auch über ein Kernkraftwerk, doch das liegt relativ weit entfernt und ist seit 2011 abgeschaltet.

Wasser, Gas, Kohle – doch jetzt kommt der Solarstrom

Japan ist ein gebirgiges und wasserreiches Land, daher spielt die Stromgewinnung aus Wasserkraft eine wichtige Rolle. Ein bedeutendes Wasserkraftwerk befindet sich in den japanischen Alpen, der Stausee beim Kurobe-Damm. Der Bau wurde 1956 begonnen und 1963 fertiggestellt, er kostete viele Menschenleben, und die Arbeit an dem Projekt wurde ähnlich heroisiert wie beim Kraftwerk Kaprun in den Hohen Tauern. Solche großen Stauseen sind in Japan eher selten, dafür gibt es eine Vielzahl kleiner regionaler Kraftwerke, und in den letzten Jahren wurden auch viele Pumpspeicherkraftwerke gebaut. Insgesamt macht der Anteil der Wasserkraft acht bis neun Prozent an der Energieerzeugung aus, aber die Möglichkeiten zu einem weiteren Ausbau sind begrenzt.

Gaskraftwerke spielen in Japan ebenfalls seit langem eine große Rolle. Das leistungsstärkste betreibt TEPCO, es befindet sich in Chiba in unmittelbarer Nähe zu Tokyo, und es wird Flüssigerdgas als Brennstoff verwendet. Der Anteil der Stromgewinnung aus Gas ist nach 2011 gestiegen, und beträgt derzeit mehr als ein Drittel. Der Anteil der Kohleverstromung liegt fast ebenso hoch, mit steigender Tendenz. Große Kohlekraftwerke gibt es in Japan allerdings nur eine Handvoll, wobei die Kohle hauptsächlich aus Australien und Indonesien – und zu einem kleineren Teil auch aus China – direkt mit Schiffen angeliefert wird. Insgesamt gibt es in Japan 140 Kohlekraftwerke und weitere sind im Bau. Das größte baut derzeit TEPCO außerhalb von Tokyo, um das Kernkraftwerk von Fukushima zu ersetzen. Ein wichtiges Kohlekraftwerk befindet sich auch in Hokkaidō, wo es die Häfte des Strombedarfs deckt. Als das Kraftwerk bei einem Erdbeben 2018 beschädigt wurde, fiel auf der ganzen Insel der Strom aus. Im einzigen Kernkraftwerk Hokkaidōs, das nach 2011 stillgelegt worden war, musste daraufhin die Kühlung des Abklingbeckens mit Notstromaggregaten aufrechterhalten werden.

Anlagen zur erneuerbaren Energiegewinnung werden in Japan seit 2011 verstärkt ausgebaut, das Land soll nach den Vorstellungen der neuen Regierung bis 2050 CO2-neutral werden. Windräder sieht man allerdings im Gegensatz zu deutschen Landschaften nur selten. Bisher hat man hauptsächlich auf Solarenergie gesetzt. Dieser Trend begann schon früher, doch seit 2011 nahm der Bau von Solarparks sprunghaft zu. Es wurde ein ähnliches Gesetz wie das EEG in Deutschland verabschiedet, das grüne Energie fördern soll, indem die Einspeisung von grünem Strom ins Netz bevorzugt und eine feste Vergütung zugesichert wird. Ursprünglich sah man kleinere Solarpaneele hauptsächlich auf Hausdächern, doch inzwischen sieht man sie auch großflächig am Land, abseits der Straßen auf brachliegenden Flächen.

Die Energiewende bringt die sichere Stromversorgung in Gefahr

Bei der Solarenergie gibt es schon 60 GW installierte Leistung, im Gegensatz zu mageren 4 GW bei der Windenergie. Doch die japanische Energiewende funktioniert ebenso wie in Deutschland nicht ganz wie geplant. Es droht eine zunehmende Instabilität der Netze, und die bislang sichere Stromversorgung gerät dadurch in Gefahr. Da in Japan Stromproduktion und Stromtransport meist in einer Hand sind, versuchen die Netzbetreiber gegenzusteuern, indem sie den Vorrang von grüner Energie einschränken, und den Anbietern den Strom nicht mehr ohne Weiteres abnehmen. Japan kann nicht wie Deutschland überschüssigen Strom kurzfristig an Nachbarländer abgeben und bei Strommangel wieder importieren. Der Strom muss immer nach Bedarf zur Verfügung stehen.

Trotzdem will man in Japan den Ausbau von Offshore-Windparks weiter vorantreiben, bis man einen Anteil von 40 GW installierter Leistung erreicht. Der Nutzung von Windenergie steht aber das Problem entgegen, dass im Norden zwar der meiste Wind weht, es auf Hokkaidō jedoch nur wenig Industrie gibt; der Strom müsste erst von dort in die Industriegebiete transportiert werden. In naher Zukunft soll daher in der Präfektur Ibaraki ein Offshore-Windpark entstehen. Angeblich sind auch in Tiefwasserregionen schwimmende Windanlagen geplant, diese müssten allerdings auch Taifunen standhalten können.

Eine andere Möglichkeit zur Energiegewinnung wäre der Ausbau geothermischer Kraftwerke. Bekannt sind in Japan die zahlreichen heißen Quellen, und es gibt viele noch immer tätige Vulkane. Vereinzelt wird Erdwärme schon genutzt, aber noch nicht in großem Ausmaß. Das betrifft auch Gezeitenkraftwerke. Es gibt in Japan einige Meeresengen, wo durch den Wechsel von Ebbe und Flut starke Strömungen entstehen. Aber außer einem wissenschaftlichen Pilotprojekt wurde noch nirgends eines errichtet, denn die damit verbundenen ökologischen Auswirkungen auf die Meeresfauna sind nicht unproblematisch.

Hehre Klimaziele und Sachzwänge

Wenn die Dekarbonisierung der japanischen Wirtschaft bis 2050 erreicht werden soll, müssen vor allem die Kohlekraftwerke durch erneuerbare Energien ersetzt werden. Ein konkretes Datum für den Ausstieg aus der Kohleverstromung wurde aber noch nicht genannt. Es gibt sowohl Widerstände gegen die Beeinträchtigung der Landschaft durch Solaranlagen und Windräder als auch gegen die weitere Nutzung von Kernenergie. Derzeit hält die Regierung noch an einem Anteil von 20 Prozent Atomstrom für die Zukunft fest, doch ist nicht klar, wie realistisch das Ziel ist. Aktuell bezieht Japan sechs Prozent Strom aus Kernenergie. Neue Kernkraftwerke sind nicht geplant, doch ob ein altes Kraftwerk wieder hochgefahren werden darf, darüber entscheiden in Japan die Gerichte. In der Präfektur Fukui sollen drei Reaktoren bald wieder in Betrieb gehen. Aber auch wenn die Atomenergiebehörde grünes Licht gegeben hat, klagen meist Bürgerbewegungen dagegen. In Kyushu konnte 2020 ein Kernkraftwerk wieder ans Netz gehen, in mehreren Fällen haben die Gerichte aber anders entschieden.

Die Richter müssen dabei unterschiedliche Interessenlagen gegeneinander abwägen. Viele Probleme sind nicht neu, sie waren Experten bekannt, wurden aber nie in der Öffentlichkeit diskutiert. Ein Beispiel sind Erdbruchlinien am Kraftwerksgelände. Wenn sich das Epizentrum eines Bebens in unmittelbarer Nähe befindet, geben die Erdbruchlinien als erstes nach. Dadurch würde aber nicht nur das Kernkraftwerk in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch die Zufahrtsstraße zerstört. Die ansässige Bevölkerung könnte im Ernstfall dann nicht mehr auf dem Landweg, sondern nur noch über den Seeweg evakuiert werden, was viel mehr Zeit in Anspruch nehmen und Menschen noch mehr gefährden würde.

Eine zukunftsweisende Strategie ist in der japanischen Energiepolitik noch nicht wirklich in Sicht. Man will zwar auch auf Elektromobilität setzen, aber woher der Strom dafür kommen soll, ist nicht geklärt. Doch obwohl die Politik hehre Klimaziele formuliert, sieht es derzeit so aus, als ob man in erster Linie Sachzwängen gehorcht und alle ungelösten Probleme auf die lange Bank schieben will. Denn nur mit Solarparks und Windrädern wird die Energiewende in Japan noch weniger als in Deutschland zu schaffen sein.

Foto: Pixabay

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Stefan Hofmeister / 01.05.2021

Kurz von mir angemerkt: 1) “Gunkanjima” ist der Spitzname der Insel, eigentlich heißt sie Hashima (der Spitzname rührt daher, dass sie wie ein Schlachtschiff aussieht). 2) Die Hibakusha mögen vielleicht anfangs als “Propagandaobjekt” gedient haben, später - und bis heute! - sind sie und deren Nachkommen “Ausgestoßene” aus der Gesellschaft. Man befürchtet Genschäden bei etwaigen Nachkommen etc. (was - soweit ich weiß - bisher nicht bestätigt werden konnte) 3) Eine “zukunftsweisende Strategie” für eine Energiewende etc. wird es in Japan meines Erachtens niemals geben. Diesen weltweiten “Hype” sitzt man da gemütlich aus, bis in 10 bis 20 Jahren der nächste daherkommt. Man hat sich schließlich schon mal gut 200 Jahre vom Rest der Welt isoliert und ist eigentlich ganz gut damit gefahren - sollen die anderen mal machen. Der Japaner sagt da “Jajaja” und macht dann genau das Gegenteil. Quelle? Eigene Erfahrung.

A. Ostrovsky / 01.05.2021

@Steffen Huebne. Achso, da ist nur Tritium drin. Wo sind denn dann die ganzen anderen Spaltprodukte aus dem Betrieb des AKW bis 2011? Wurde alles schon gereinigt, achso. Die Heinzelmännchen. Dann ict ja alles klar. Ich hatte vergessen, dass die dort alle so professionell sind. Deshalb ist dort ja eigentlich auch nichts Schlimmes passiert. Es hätte schlimmer kommen können, wenn es bei den Russen gewesen wäre. Dann müssten die jetzt eine 100 Meter hohe Halle über die Wasserbehälter schieben. Die Russen haben nämlich keine Ahnung, anders als die Japaner. Aber ein Auto von den Japanern hatte ich trotzdem schon mal, vor dem Krieg. Wenn man bedenkt, dass es bei den Russen nur einmal geknallt hat, aber bei den Japanern gleich vier Mal hintereinander. Selbst das können die Russen nicht richtig.

Steffen Huebner / 01.05.2021

@A. Ostrovsky-  Das Wasser wurde in dieser Zeit fast vollständig von radioaktiven Tritium- Substanzen gereinigt. Tritium hat eine Halbwertzeit von etwa 12,3 Jahren und deshalb ist nach zehn Jahren dessen Radioaktivität im ältesten eingelagerten Wasser auf fast die Hälfte gesunken und genügt ab 2022 internationalen Standards.

Karsten Dörre / 01.05.2021

Ohne Effekthascherei informativer Blick auf die Energiewirtschaft Japans.

Heinz Lucht / 01.05.2021

Wir reden hier ueber Tritium, welches nicht aus dem Wasser herausgefiltert werden kann. Die Halbwertszeit dieses Wasserstoffisotops liegt bei ca. 12 Jahren und hat eine Verweilzeit von ca. 10 Tagen im menschlichen Koerper. Ich habe dieses nicht nur an der FH im Fach Strahlenschuz gelernt. Zusaetzlich habe ich Tritium wegen eines uebereifrigen Strahlenschuetzers - vor gut 40 Jahren - leider auch schon inkorporiert. Somit habe ich meine theoretischen und praktischen Erfahrungen im Umgang mit Tritium gesammelt.    Da die Zwischenlagerkapazitaeten nicht endlos sind, hat man sich in Japan entschieden, das abgeklungene und von anderen Nukliden gereinigte Wasser abzulassen, um hochkontaminiertes Wasser aufnehmen zu koennen.       @

Walter Weimar / 01.05.2021

Auf der Welt geht ein noch gefährlicher Virus um wie Corona, ein Virus der das Hirn angreift und den Verstand aussetzt: Rette-die-Welt-Virus. Erst wenn die Menschheit ausgerottet ist, tritt eine Art Befriedigung ein.

A. Ostrovsky / 01.05.2021

Was ich daraus gelernt habe? Dass eine Zivilisation unterentwickelt ist, die zwar 30% ihres Energiebedarfs sus Kernenergie haben, aber nicht wissen, welche Masseinheiten zur Messung radioaktiver Strahlung es gibt. Das hat nichts damit zu tun, ob man Japaner ist oder Brite, Franzose oder Russe. Allerdings hätten die Japaner vorgewarnt sein müssen, als einziges Volk dieser Welt.. Aber wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und ist von der Beherrschung der Zukunft endlos weit ernfernt. Deshalb wundert es mich auch nicht, dass die Japaner nichts dagegen haben, wenn Tepco und ihre Politiker jetzt das radioaktive Wasser in den Pazifik leiten wollen, nachdem sie es jatzt 10 Jahre gesammelt haben. Wieso haben die das 10 Jahre lang in teuren Behältern aufbewahrt. Das ist ein völlig unlogisches Volk, wo man nur verzweifelt den Kopf schütteln kann. Es hat keinen Sinn, was die tun. Ich bitte um Verzeihung, aber ich kann es nicht anders sehen, auch wenn ich mich mühe.

Benno Jung / 01.05.2021

Ihr interessanter Beitrag beleuchtet ein Land, welches in den deutschen Medien leider kaum vorkommt. Dabei könnten wir Einiges vom Pragmatismus und der Innovationskraft der Japaner lernen. Im Unterschied zu den Deutschen machen die Japaner oft einen Unterschied zwischen allgemeinen Zielen, wie den Pariser Klimazielen, und deren konkreter Umsetzung. Da wird oft öffentlich getrommelt, während in der Lebenspraxis durchaus pragmatischere Lösungen angewandt werden. Japan bekennt sich sehr deutlich zu seiner Industrie, die im Weltmaßstab eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Bei der künftigen Ausrichtung der Energiepolitik schaut man neben den eigenen Interessen auswärts auf die USA und China. Deutschland spielt da kaum eine Rolle. Interessanter sind da schon RUssland, die ASEAN Länder und auch Australien.

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