Japan: Inflation und Staatsbegräbnis

Das Staatsbegräbnis für den ermordeten ehemaligen Premier sorgt im sonst so harmoniesüchtigen Japan für Dissens. Die Gründe sind vielfältig.

Am 27. September fand das Staatsbegräbnis für den ehemaligen japanischen Premierminister Shinzō Abe statt, der am 8. Juli Opfer eines Mordanschlags geworden war. Seine Leiche war bereits kurz nach seinem Tod eingeäschert worden, doch die Urne wurde erst jetzt nach einer aufwändigen Begräbniszeremonie in der Budokan-Halle in Tokyo im Beisein zahlreicher Politiker aus dem In- und Ausland beigesetzt.

Für Außenstehende mag es kaum nachvollziehbar erscheinen, welche Kontroversen dieser Staatsakt im Vorfeld auslöste und zeitgleich empörte Proteste und Gegenkundgebungen im ganzen Land stattfanden. Während das Staatsbegräbnis für Königin Elisabeth II. zu einer Demonstration der Einheit des Landes wurde, führte das Staatsbegräbnis für Abe in Japan zu einer Spaltung des Landes. 

In der harmoniesüchtigen japanischen Gesellschaft ist so etwas sehr ungewöhnlich. Weder bei Diskussionen in den vergangenen Jahren für oder gegen die zivile Nutzung der Kernkraft noch für oder gegen die Änderung der Verfassung, damit Auslandseinsätze für japanische Soldaten möglich werden, war es so hitzig zugegangen – und beide Diskussionen hatte Abe als Politiker lebhaft befeuert.

Die Kosten sind ein Argument

Unmittelbar nach dem Mordanschlag befürworteten noch 49 Prozent der Japaner ein Staatsbegräbnis, während 38 Prozent dagegen waren. In weiterer Folge kehrte sich die Zahl der Befürworter und Gegner aber um, und am Tag des Begräbnisses waren rund 60 Prozent dagegen und nur noch 40 Prozent dafür. Die Frage hatte die Gesellschaft gespalten, es gab Kampagnen im Internet gegen das Begräbnis, die nicht nur aus Beiträgen in sozialen Medien wie Twitter stammten, sondern wie bezahlte Anzeigen aussahen.

Die Ursachen dafür sind vielfältig. Das rational nachvollziehbarste Argument dagegen waren die hohen Kosten für das Begräbnis, vor allem die Sicherheitskosten. Die wurden aber durch die aufgeheizte Stimmung im Vorfeld weiter in die Höhe getrieben. Die Polizisten kontrollierten und versiegelten schon Tage zuvor Schließfächer in Tokyos Bahnhöfen, um zu verhindern, dass dort Sprengstoff deponiert würde. Ebenso musste jeder Gully geöffnet und hinter jeden Busch am Straßenrand auf den Zufahrtswegen zum Budokan geschaut werden, ob dort keine Bombe versteckt war. Medienberichten zufolge waren Hundertschaften der Polizei nur damit beschäftigt, die Anfahrtswege zu sichern. 

Verschwendung und missbräuchliche Verwendung von Steuergeld ist für viele Japaner ein rotes Tuch, nicht nur wenn es in großem Maßstab stattfindet, sondern auch auf regionaler Ebene. Oft kommt es zu Protesten, wenn solche Dinge bekannt werden. Dazu kamen noch Gerüchte, dass zumindest ein Teil der ausländischen Begräbnisgäste, zum Beispiel der Präsident des Olympischen Komitees Thomas Bach, angeblich auf Staatskosten teilnahm. Außer der US-Vizepräsidentin Harris, dem indischen Ministerpräsidenten Modi und dem australischen Premierminister Albanese waren aber sonst kaum hochrangige Politiker nach Japan gekommen.

Scheinbar einsame Entscheidung Kishidas

Als befürwortendes Argument für den ganzen Aufwand konnte man natürlich vorbringen, dass Abe als langgedienter Politiker und im In- und Ausland geachteter Staatsmann ein ehrendes Staatsbegräbnis verdient hätte. Tatsächlich wurde die Regierung nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Abe der Premierminister mit der längsten Amtszeit im Nachkriegsjapan war.

Allerdings beruhte die Entscheidung, für Abe ein Staatsbegräbnis auszurichten, auf einem einsamen Erlass des Premierministers Kishida aus dem Juli. Er schien dabei nur als Parteipolitiker der LDP agiert zu haben. Unter seiner Führung hatte die Partei unmittelbar nach dem Mordanschlag einen Wahlsieg einfahren können, weil nicht wenige Japaner sich nach Abes Tod motiviert fühlten, doch die LDP, Abes und Kishidas Partei, zu wählen, obwohl die Umfragen ursprünglich nicht rosig aussahen.

Die Stimmung schlug aber im August um, und es wurde Kishida ein autoritärer Führungsstil vorgeworfen. Manche sahen sogar die Demokratie bedroht, weil mit der Entscheidung für das Staatsbegräbnis nicht das Parlament betraut worden war. Dieses Argument wirkte aber an den Haaren herbeigezogen, denn die LDP hatte mit ihrem Koalitionspartner sowohl vor als auch nach der Wahl die Mehrheit im Parlament. So konnte man Kishida zwar die Missachtung demokratischer Spielregeln vorwerfen, doch die Entscheidung für das Staatsbegräbnis wäre auch im Parlament genauso ausgefallen.

Abe war nie ein Sympathieträger

Es wird sich zeigen, ob sich die Aufregung so rasch wieder legt, wie sie entstanden ist, oder ob Kishida damit einen Pyrrhussieg errungen und Sympathien auf Dauer eingebüßt hat. Da in näherer Zukunft für ihn keine Wahl ansteht, konnte er es sich erlauben, die Meinung einer Mehrheit im Land zu ignorieren. Vielleicht rechnete er auch damit, dass ihm zumindest Abes frühere Wähler die Stange halten würden, wenn er sich gegen alle Widerstände so für dessen Staatsbegräbnis einsetzt.

Ein weiteres Argument gegen das Staatsbegräbnis war, dass viele Japaner der Meinung waren, Abes Verhältnis zur Moon-Sekte sollte genauer ausgeleuchtet werden. Das ursprüngliche Framing in der Berichterstattung war, dass Abe nichts mit der Sekte zu tun hatte, und der Attentäter fälschlicherweise von einer engeren Verbindung ausging. Der Name der Sekte wurde sogar tagelang verschwiegen. In Wirklichkeit war der Fall komplexer. Politik und Medien hatten jahrelang darüber hinweggesehen, dass die Moon-Sekte teilweise kriminell agierte und Menschen nötigte. Erst nach dem Mordanschlag wurde bekannt, dass schon viele Familien mental und materiell durch die Machenschaften der Sekte ruiniert worden waren. Viele Japaner, die zum ersten Mal davon hörten, waren empört über das Verhalten der Sekte, die sich nach außen hin gutmenschlich gab und sich mit Politikern wie Abe als Aushängeschild großspurig für den Weltfrieden einsetzte, aber hinter den Kulissen Menschen manipulierte und in den Ruin trieb.

Der sich in den letzten Wochen aufschaukelnde Protest gegen das Staatsbegräbnis brachte auch zum Ausdruck, dass Abe in Japan zu keiner Zeit ein beliebter Politiker war. Er hatte zwar alle Wahlen, zu denen er antrat, gewonnen, und auch die Zustimmungswerte zu seiner Politik waren während seiner Amtszeit immer relativ hoch, aber Abe war nie ein Sympathieträger. Er wirkte nicht als konzilianter Typ, sondern wie einer, der immer nur seine Sicht gelten lassen will. Das ließ ihn auf der einen Seite durchsetzungsfähig erscheinen, auf der anderen aber auch autoritär und wenig kompromissbereit. Deshalb schien er vor allem bei Frauen unbeliebt gewesen zu sein, bei den Protesten waren oft Frauen die Wortführerinnen.

Abschwung durch Corona-Krise 

Dass Abe sich als Premierminister so lange halten konnte, lag daran, dass er mit seiner Politik lange Zeit erfolgreich war. Nach der Chaosregierung, die 2012 abgewählt worden war, versprach Abe mit dem Schlagwort Abenomics wirtschaftlichen Aufschwung. Und wenn das Wirtschaftswachstum unter seiner Regierung auch nie berauschend war, ging es wenigstens nicht bergab, und er konnte den Japanern vorgaukeln, dass die Rezession mit ihm an der Regierungsspitze gebannt wäre.

Abe hatte kurz nach seinem Amtsantritt den damaligen Chef der japanischen Zentralbank abgelöst und den jetzigen Chef Kuroda ins Amt gebracht. Der sorgte in Abes Sinn gezielt dafür, dass der japanische Yen an Wert verlor, wodurch japanische Produkte im Ausland billiger wurden und die Exportzahlen stiegen. Ein zweiter positiver Aspekt dieser Maßnahme war, dass der günstige Wechselkurs mehr ausländische Touristen ins Land lockte. Zuvor galt Japan als Hochpreisland mit teuren Hotels, teuren Restaurants und teuren Verkehrsmitteln. Der Wertverlust des Yen machte Japanreisen bedeutend billiger.

Als Abe 2020 aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat, war absehbar, dass die Corona-Krise seiner Politik einen heftigen Stoß versetzte. Gegen scharfe Maßnahmen hatte er sich noch gewehrt, trotzdem brachen sowohl der inländische als auch der ausländische Tourismus ein. Hotels, Reisebüros, Busunternehmen und so weiter machten reihenweise pleite, Bahn- und Fluggesellschaften schlitterten in die roten Zahlen. Die Olympischen Sommerspiele in Tokyo, für die sich Abe vehement eingesetzt und von der er sich viel versprochen hatte, endete nach dem Ausschluss der Zuschauer in einem finanziellen Desaster. Dafür war zwar nicht Abe, sondern sein Amtsnachfolger verantwortlich, aber damit waren alle Erfolge der vergangenen Jahre zunichte.

Geschwächter Yen

In einer Hinsicht hatte Abes Politik aber Erfolg, wenn auch erst posthum. Abes und Kurodas dezidierte Geldpolitik war, dass eine Inflationsrate von zwei Prozent angestrebt werden sollte. Die Absicht dahinter war, die drückende japanische Staatsschuld langsam, aber kontinuierlich abzutragen. Dieses Inflationsziel wurde in Abes Regierungszeit jedoch nie erreicht, es blieb immer weit darunter. Erst durch die Verteuerung der Energiepreise infolge des Kriegs in der Ukraine und der Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland, stieg die Inflation in Japan deutlich über zwei Prozent an. 

Dazu kam eine zunehmende Schwächung des Yen, weil sich Kuroda weigert, im Gegensatz zur amerikanischen FED und der europäischen EZB, zur Bekämpfung der Inflation die Zinsen anzuheben. Für einen Dollar muss man heute statt 120 Yen über 140 Yen bezahlen, das verteuert in Japan nicht nur Öl und Gas, sondern sämtliche Importprodukte. Kürzlich versuchte der japanische Finanzminister zwar durch den Verkauf von Dollars den Yen zu stärken, aber eine große Wirkung entfaltete diese Maßnahme nicht. 

In Lippenbekenntnissen bedauert Kuroda zwar den schwachen Yen, unternimmt aber mit Hinweis auf die große Zahl überschuldeter japanischer Unternehmen, die dadurch in die Insolvenz abrutschen könnten, nichts, um den Yen zu stärken.

Jetzt schlägt die Inflation durch

Vor diesem Hintergrund kommt man nicht umhin festzustellen, dass die hysterische Reaktion mancher Japaner auf das Staatsbegräbnis wie ein Ablenkungsmanöver wirkte. Die Leute regten sich über Steuerverschwendung auf und merkten nicht, dass sie die Preisentwicklung im Land verarmen lässt. Mit dem Hinweis darauf, dass die Inflation in Japan geringer sei als in den USA oder Europa, lehnte Kishida bislang Maßnahmen gegen die Teuerung ab. Und der Eindruck drängt sich auf, dass ihm die empörte Ablehnung des Staatsbegräbnisses seitens mancher Fanatiker gerade recht kam, um mit Hilfe der Inflation unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit, die japanische Staatsschuld auf Kosten der Allgemeinheit zu verringern. 

Aufgrund der Corona-Politik trauen sich viele Japaner noch immer nicht zu reisen. Es wurden zwar die meisten Einschränkungen abgeschafft und so vergrößerte sich 2022 im Inland das Reiseaufkommen, weil auch ausländische Touristengruppen wieder ins Land gelassen wurden. Aber so bedenkenlos wie vor Corona wagen sich viele Japaner noch immer nicht nach Übersee. Wohl auch aus diesem Grund haben viele noch nicht registriert, dass ihr Geld im Ausland weniger wert geworden ist und sie damit immer weniger kaufen können. 

In Deutschland und Österreich beginnen große Bevölkerungsteile inzwischen aufzuwachen und zu bemerken, dass sie gezielt ärmer gemacht werden, weil die Politiker andere Ziele verfolgen als die Wahrung des Wohlstands. In Japan wird es dagegen noch dauern, bis auch der Durchschnittsbürger merkt, dass er verschaukelt wird. Die angeblich so horrenden Kosten für das Staatsbegräbnis verblassen nämlich gegen die Einkommensverluste aufgrund der Inflation und dem damit verbundenen Kaufkraftverlust der Konsumenten. 

Foto: kantei.go.jp CC-BY 4.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Ralf Pöhling / 29.09.2022

Die Japaner sind ein großartiges Volk. Strebsam, innovativ, zivilisiert, rücksichtsvoll und mit einer überaus bemerkenswerten Kultur von Anstand, Moral und dem richtigen Gefühl für Verantwortung. Der Samurai steht bis heute exemplarisch dafür. Üblicherweise übernimmt in Japan dann auch die jeweilige Führungsetage die volle Verantwortung dafür, wenn etwas unter ihrer Führung schief gelaufen ist. Wenn dies in letzter Zeit nur noch eingeschränkt der Fall ist, dann kommt das Problem der sich weltweit ausbreitenden gesellschaftlichen Fäulnis nun auch in Japan an. Ich werde nicht müde es zu sagen: Man kann nicht alles mit Geld regeln. Wenn das Geld nicht mehr reicht, dann braucht es eine Rückkehr zu konservativen Werten und der ursprünglichen Kultur, denn diese hält ein Land auch dann zusammen, wenn es finanziell knapp wird. Gerade in Japan dürfte es viele Menschen geben, die das genauso sehen.

W. Renner / 29.09.2022

Wenn das mal kein Stichwort für den insolventen Robert ist. Die Inflation einfach mit einem Staatsbegräbnis beenden. Wir bitten die Trauergäste von Paket-, Schirm- und Umlagenspenden abzusehen und ihr Restvermögen direkt an die Gasgerd-Stiftung zu überweisen.

Thomas Taterka / 29.09.2022

Ihre Berichte lese ich immer gerne und ein klein wenig tue ich Sie auch beneiden , daß Sie in diesem Land von überwältigender Schönheit leben und arbeiten dürfen , - sozusagen als Liebhaber der Werke Hiroshi Yoshidas . ( Siehe YouTube, Kanal LearnFromMasters )

Ludwig Luhmann / 29.09.2022

Interessant, dass der Staat der Japaner sich irgendwie noch vor seinen Bürgern fürchtet. Das haben wir Dodos längst hinter uns gelassen. Mit uns kann der Staat machen, was er will. Wir Dehostilisierten lassen uns von vorne bist hinten verarschen, auch wenn es uns das Leben oder die Gesundheit oder den hart erarbeiteten relativen Wohlstand kostet.

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