Die Schau manchen Liebreizes japanischer Natur bietet auch Einblick in dunkle Abgründe hiesigen Lebens.
Ähnlich der Sakura-Blütenfront, die im Frühjahr zwischen März und Mai von Süd nach Nord das Land verzaubert, streift von September bis Dezember – allerdings in entgegengesetzter Richtung von Nord nach Süd – ein von überwiegend roten Blättern bunt gefärbter Hauch der Natur über Japan, bevor aufziehende pazifische Kälte die Nordinsel Hokkaido mit Eis und Schnee und auch ihre Hauptinsel Honshū mit kühlem Mantel umhüllt.
Dies sind Jahr für Jahr natürliche Attraktionen dieses grandiosen Landes, das sich mit seiner traditionsbewussten, kulturell recht homogenen Gesellschaft vom heutigen Deutschland stark unterscheidet. Japaner bleiben in vielerlei Hinsicht rätselhaft – nüchtern praktisch agierend, scheint ihnen außerordentliche Feinfühligkeit inne zu sein; generöse Toleranz erscheint neben mitleidloser Monstrosität. Sie sind traditionell, doch zeitgemäß pragmatisch, technologisch fortschrittlich, politisch konservativ, mit höchstem Bildungsniveau und daher modischen Gaukeleien eher abgeneigt; beispielsweise solchen, die vorgeben, klimatische Bedingungen mit ökonomischen Maßnahmen regulieren zu können („Klimaschutz“).
Greenpeace, WWF, gar Fridays for Future oder „Grüne“ Parteien sind hierzulande bedeutungs- und machtlos, was der Attraktivität örtlichen Lebens sehr zuträglich ist. Geologie, Sonne, kosmische Kräfte, Klima sowie Natur werden in Japan als dominant akzeptiert; hiesige Schutzmaßnahmen und Bauvorschriften dienen auch zur Abwehr ihrer Gefahren. Dschungel oder Urwald florieren – ganz im Gegensatz zu einem weithin entwaldeten Europa – auf vielen ihrer Inseln und selbst hier bei uns, 2 bis 3 Bahnstunden von Tokyo entfernt, hängen oben auf den Bergen Bärenwarnungen aus. Wenn auch menschliche Behausungen, Metropolen und ihre Verkehrswege sich als Merkzeichen japanischer Zivilisation auf den Hauptinseln ausbreiten.
Japanischer Totenkult
Religiöse Empfindungen wurden entlang zahlloser Generationen über den Shintoismus animistisch geprägt, gehen also von einer Beseelung aller natürlichen Dinge unter dem Himmelsdach aus und damit auch von göttlich durchwirkter Schönheit landestypisch farbfroher Faszination. Es ist jene Zeit der fallenden, rötlichen Blätter (紅葉, kōyō), in der japanische Flora sich – vergleichbar dem American Indian Summer – ungemein schön herausgeputzt präsentiert, ganz so als würde sie aufkommendem Trübsinn mit farbiger Fröhlichkeit begegnen wollen. Vergnüglicher allerdings macht dies hier offenbar nicht alle Menschen – im Gegenteil, Jahr für Jahr breitet sich wiederholt um diese Zeit ein besonderer Herbst-Blues aus, in dem sich nicht wenige vom Leben verabschieden.
Tod ist auch hier ein Faszinosum – japanischer Totenkult erscheint in seiner besonderen Form, zwar von shintoistischen Mythen durchwoben, seit mehr als tausend Jahren buddhistisch geprägt. Der Geist Verstorbener nimmt Anteil am Leben seiner Familie, kann im Sinne des Shinto vergöttlicht werden (kami 神) und Segen über die Seinen bringen, aber auch als unruhiger Geist über Erden wandeln und das Leben Zurückgebliebener in Unordnung versetzen. O’bon (お盆) – bei dem feierlich mit Laternen, in geschmückter Kleidung und Tänzen zu traditioneller Musik den Vorfahren in Festivitäten gedacht wird – gilt neben Golden Week und Neujahr als eine der wenigen offiziellen Urlaubstage. In nahezu jedem Haushalt findet sich ein gewisser Altar, ein butsudan (仏壇), an dem Kerzen sowie Räucherstäbchen entzündet werden, eine Klangschale ertönt, Gebete gesprochen werden können und auf jedermanns eigene Art Kontakt zu Buddha und den Verstorbenen aufgenommen werden kann.
Ehrenvoller Selbstmord wird vor allem unter japanischen Männern weithin anerkannt, was aber ist heutzutage würdevoll an einer Selbsttötung? Derartige Vermutungen kommen wohl aus einer Vorstellungswelt über die Ära der Samurai, die im Angesicht von Niederlagen oder ausweglosen Situationen seppuku (切腹) begingen, eine quasi öffentliche Zurschaustellung der Reinheit ihrer Seele im Tode – der Betreffende schlitzt sich hierzu die Bauchdecke auf, hinter welcher sich die Seele befinde. Gewöhnlich lernte auch jeder Mann aus diesem Stande, mit seinem speziellen Kurzschwert die Bauchaorta zu perforieren, damit rascher Blutverlust einen schnellen Tod herbeiführe, beziehungsweise hatte er an seiner Seite einen Vertrauten, der ihm daraufhin den Kopf abschlug und damit sein Leiden abkürzte. Solch archaische Riten gehören seit der Meiji-Restauration (1868 bis1889) der Vergangenheit an, Suizid an sich aber wird weiterhin akzeptiert.
Hohe Selbstmordrate
Leben in Japan ist für einen relativ unabhängigen Freiberufler wie mich wunderbar, exquisiter Service wird geboten und extravaganter Arbeitsethos scheint Japaner zu motivieren; hohe Sicherheit und kulturelle Schönheit all überall. Ich darf mir allerdings erlauben, negative Seiten japanischen Alltags zu ignorieren, abhängig Angestellten dagegen mag das Leben hier nicht immer ein Paradies sein. Man sollte bei dieser Betrachtung nicht außer Acht lassen, dass Japan vor seinem Sprung in die Moderne ein aus der Gewalt geborenes, feudalistisches Land war, in welchem hierarchische Abhängigkeiten von Clans dominierten und Schwäche selten akzeptiert wurde.
Vor diesem kulturellen Hintergrund kann sich die Existenz mancher Menschen hier auch recht zermürbend entwickeln, und ijiwaru (意地悪, eine ausgefeilte Form des Niedermachens, Mobbing) ist schon seit der Schulzeit kein seltenes Phänomen unter Japanern. Besonders empfindsamen Leuten wird ein solcher Alltag schwer erträglich, sie ziehen sich teils komplett aus der Gesellschaft zurück (hikikomori 引き籠もり, nach Schätzungen heutigentags mehr als 1,5 Mio. Menschen), und nicht wenige von ihnen sterben vor ihrer Zeit. Nun ist Japans Selbstmordrate zweifelsohne recht hoch, doch geringer als in verschiedenen OECD-Staaten und ungefähr gleichauf mit den Finnen, die ja laut World Hapiness Report die glücklichsten Menschen der Erde seien – vermutlich aufgrund der Sensibilität von Daten und Thematik sind die Statistiken hier selten einheitlich, z.B. hier.
Ungefähr eineinhalb Autostunden nordwestlich unseres Hauses erstreckt sich über mehr als 30 Quadratkilometer in den nördlichen Ausläufern des Fujiyama ein sehr dichtes und atmosphärisch düsteres Waldmeer – aokigahara (青木ヶ原), das seit langem Gruselfantasien erweckt und viele Künstler (Literatur, Film u.a) zu Horrorwerken inspirierte. Tatsächlich wächst dieser verhältnismäßig junge Wald auf porösem Lavagestein einer gewaltigen Eruption des Fujiyama vor ca. 1.200 Jahren, und seine enorme Fruchtbarkeit gewährt große Biodiversität – Sikahirsch und Kragenbär streifen durchs Gehölz, Fledermäuse, seltene Vögel, manche Tierarten sind gar endemisch. Wuchernde Moose, gewaltige Farne, schwer durchdringliches Unterholz und sein poröser, von tiefen Spalten sowie Höhlen durchzogener, schallschluckender Boden lassen ihn wie einen stillen, mystischen Ort am Eingang zu einer gruseligen Märchenwelt erscheinen. Es geht die Saga, dieser Wald sei fluchbeladen, hier hausten Gespenster, Dämonen und die Geister Verstorbener, die vor langer Zeit dort von ihrer Familie ausgesetzt worden waren (vgl. Grimms Märchen, z.B. Hänsel und Gretel). Heute trägt dieses teils undurchdringliche Gehölz auch die zweifelhafte Bezeichnung Suicide Forest, da sich viele japanische Selbstmordkandidaten, möglicherweise angezogen von seinem morbiden Charme, hierher zurückziehen, um in dieser natürlichen Einsamkeit voll mystischer Schönheit ihr Leben zu beenden. Aufgefunden werden sie oder die Vermissten dieses verwunschenen Waldes meist sehr viel später oder nie.
Und so bietet die Schau manchen Liebreizes japanischer Natur auch Einblick in dunkle Abgründe hiesigen Lebens. Gespenstisch mag diese Ambivalenz zwischen natürlicher Anmut, kultureller Ästhetik, Psychopathie und persönlicher Tragödie erscheinen, und doch ist es charakteristisch für dieses faszinierende Land, das sich in seiner Außergewöhnlichkeit – trotz Öffnung in die westliche Moderne – abendländischer Bewertung verschließt.
Bernd Hönig ist Altertumswissenschaftler (Magister Artium Religionswissenschaft/Judaistik), Jahrgang 1966, lebte fast 30 Jahre in Berlin, traf seine heutige Ehefrau Mayu 2016 in Deutschland und lebt jetzt mit ihr in Japan. Dieser Beitrag erschien zuerst in seinem Blog japoneseliberty.com. Dort beleuchtet er bevorzugt nichtalltägliche Themen, beurteilt aus der liberalen Sicht eines abendländisch freien Geistes.