Die Erklärung 2018 besteht aus nur 273 Zeichen. Sie ist so kurz, dass man sie eigentlich bei jedem der inzwischen zahlreichen Artikel über sie wörtlich in Gänze zitieren kann:
„Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.“
Wie haben sich doch die Maßstäbe verschoben, dass diese wenigen Zeichen, die ganz schlicht Dinge formulieren, die vor nicht allzu langer Zeit als selbstverständlich galten, eine solch vielstimmige Empörung auslösen.
Würde denn jemand ernsthaft behaupten, dass eine illegale Masseneinwanderung das Land nicht beschädigen würde? Ist es unanständig, in einem Rechtsstaat zu fordern, dass die rechtsstaatliche Ordnung wiederhergestellt wird? Eigentlich hätten die Autoren der Kurz-Erklärung nämlich durchaus auch auf die Worte „an den Grenzen unseres Landes“ verzichten können, denn die rechtsstaatliche Ordnung hat leider auch weit innerhalb dieser Grenzen Schaden genommen.
In jedem Falle ist diesen Sätzen inhaltlich nicht leicht zu widersprechen. Es sei denn, man stellt einfach, wie die Seite „Dokumentieren gegen Rechts“ fest: „Die Erklärung im Original besteht aus lediglich zwei Sätzen, die menschenverachtender und rassistischer nicht sein können.“
Ansonsten ist es heutzutage selbst unter „Wir-schaffen-das“-Anhängern nicht mehr sonderlich populär, zu sagen, man wünsche sich illegale Masseneinwanderung und sei gegen eine rechtsstaatliche Ordnung an unseren Grenzen. Also muss der Ungeist nicht im Inhalt, sondern bei den Initiatoren und Unterzeichnern entlarvt werden. Und unter denen finden sich Rechte. Wie jeder weiß: Wenn Rechte etwas unterschreiben, dann muss es falsch sein. Und dass sich viele ausgewiesene Nicht-Rechte unter den Unterstützern finden, kann nur daran liegen, dass die inzwischen nach rechts gerückt sind.
Die Abweichler von der einzig wahren Weltanschauung wurden einst von kommunistischen Ideologen gern zu „Renegaten“ erklärt. Grundsätzlich ist das für einen Abweichler ein zutreffender Begriff, nur steht er in einer kommunistischen Diktatur auch für Menschen, die Opfer von „Säuberungen“ wurden.
„Der Begriff ‚Säuberung‘ täuscht über seinen Inhalt, es ging um Parteiausschlüsse, Berufsverbote, Haft und Tötung. Zu den Ausgestoßenen kamen noch die, die bewusst mit der Partei brachen und die die kommunistische Propaganda als ‚Renegaten‘ geächtet hatte. Das Wort stammt aus der mittelalterlichen Kirchensprache und bezeichnete Christen, die Muslim wurden. Lenin führte dieses Feindbild 1918 mit der Polemik gegen Karl Kautsky in die Parteisprache ein.“
Das schrieb Prof. Manfred Wilke über den Renegaten-Begriff im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung aus dem Jahre 2004.
Eigentlich hätte ich gedacht, dass der Begriff „Renegat“ außerhalb ideologischer Polit-Sekten im öffentlichen Diskurs lange nicht mehr gebräuchlich ist, um Andersdenkende zu diskreditieren. Doch die Debatte um die 273-Zeichen-Erklärung hat gezeigt, dass das Wort dazu immer noch taugt.
Zum Wunsch nach der rechtsstaatlichen Ordnung an den Grenzen schreibt Jan Sternberg aus dem Hauptstadtbüro des Redaktionsnetzwerks Deutschland:
„Das fordern Renegaten von Henryk M. Broder über Thilo Sarrazin bis zu Ellen Kositza, die mit ihrem Mann Götz Kubitschek den Antaios-Verlag leitet, bei dem sich auch harte Rechtsextreme wohlfühlen, wie gerade wieder auf der Leipziger Buchmesse deutlich geworden ist.“
Nun ist in Ellen Kositzas Lebenslauf, so man Wikipedia glauben kann, eigentlich kein Abweichen von schon länger gepflegter Weltanschauung erkennbar, aber um sie geht es Sternberg ja auch nur, um die Verbindung von Broder zu Kubitschek herzustellen. Vielleicht glaubt Jan Sternberg wirklich, etwas Gutes zu tun, wenn er so „Renegaten“ zu entlarven und zu denunzieren versucht, weil sie die „rechtsstaatliche Ordnung“ wünschen. Doch es hat diesen üblen Fäulnisgeruch der totalitären Abweichler-Jagd.
Tut man dem Autor Unrecht, weil er sich begrifflich vergaloppiert hat? Ist es ist nur eine Überempfindlichkeit gegenüber der Verwendung einst denunziatorischer Begriffe? Möglicherweise war dem Herrn Sternberg die denunziatorische Assoziation gar nicht bewusst. Aber von einem promovierten Historiker, der er doch ist, müsste man das eigentlich erwarten können.
Vielleicht gehen aber auch einfach gerade viele Maßstäbe verloren.
Dieser Beitrag erschien auch hier auf sichtplatz.de