Mit der Einführung des Gregorianischen Kalenders in Japan entwickelten sich einzigartige Bräuche, die das Neujahrsfest prägen. Einmalig ist auch die Harmonie zwischen buddhistischer Gelassenheit und festlichen Rituale, die Japaner feiern.
Mit der Meiji-Restauration wurde Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur die länger als 250 Jahre andauernde Herrschaftszeit des Tokugawa-Shogunats (Edo-Epoche) beendet, sowie ein neuer Tenno ermächtigt, mit einer Reform von oben herab Japan aus einer feudalistischen Clanherrschaft direkt in die Moderne nach dem Beispiel westlicher Staaten (USA, GB, FR, DE) hineinzuführen. 1873 wurde auch eine neue Zeitrechnung nach abendländischem Vorbild eingeführt, womit letzter Tag des alten und erster Tag des neuen Jahres (Ōmisoka/Ōshōgatsu 大晦日/お正月) vom traditionell lunisolaren in den Gregorianischen Kalender hinüberwechselten. Ebenso wurden mit Interesse sowie Neugier klassische Musik, Bildung und Wissenschaft (eine gehörige Anzahl deutscher u.a. Fremdwörter bereichert bis heute den japanischen Wortschatz), Technologie sowie gewisse Gebräuche mit christlicher Bedeutung im Laufe der Zeit übernommen und gewissermaßen japanisch modifiziert.
Weihnachten beispielsweise wird, ähnlich wie mittlerweile in vielen westlichen Metropolen, in Japan vor allem als Handels- und Verkaufsgelegenheit genutzt, umschmückt mit traditioneller Symbolik von Sternenlichtern, Tannenbaum usw. sowie der üblichen Musik in Shopping-Malls (Last Christmas etc.). Auch Santa Claus erscheint überall, allerdings in teils grotesken Posen – im Vorbeifahren sah ich in einem Schaufenster gar einen ans Jesus-Kreuz genagelt und interpretiere dies nicht als Herumtrampeln auf christlicher Tradition, sondern Ausweis spezifisch japanischen Humors, dessen Künstler vorzüglich aus der Kansai-Gegend landesweit so berühmt sind wie Monty Python in England und die weit Anspruchsvolleres anzubieten haben als ich es von deutschen Komödianten erinnere. Christen sind hierzulande marginal (ein bis zwei Prozent; die schlimmen Christenverfolgungen der Edo-Zeit wären ein eigenes Kapitel), wenn auch zahlreicher als Muslime oder Juden und – ein Lob der religiösen Indifferenz – all diese Monotheisten treten angenehm geräuschlos auf, also ganz anders als in einigen religiös kriegerisch aufgeheizten Ländern weiter westlich.
Das alte Jahr so zu verabschieden, wie ich es aus verschiedenen Ecken meines alten Kiezes in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg erinnere (saufend, knutschend, knallend, prügelnd), käme hier kaum jemandem in den Sinn. Japanischer Exzess, Dummheit, Gewalt und Kriminalität treten anders zu Tage, können freilich umso destruktiver wirken. Gewöhnlich allerdings herrscht hier buddhistisch entspannte Gelassenheit zum Jahresende vor. In der letzten Woche des Jahres werden Wohnstätten gründlich gereinigt; zu Abschied des alten und Ankunft des neuen Jahres erhalten sie frischen, farbfrohen Schmuck aus landestypischen Naturalien (Reisstroh, Bambus, Baumgrün, Früchte) als Einladung für die Götter, behängt mit Shide (紙垂) – das sind gezackte Papierstreifen zur Abwehr des Bösen. Ahnen oder kürzlich verstorbenen Familienmitgliedern wird am hauseigenen Altar (仏壇 Butsudan) intensiver als sonst gedacht; Angestellte freuen sich über die freien Tage und Kinder erhalten Geldgeschenke. Glückwunschpost wird an Verwandte sowie Bekannte verschickt, Anwohner strömen zu ihrem lokalen Shintoschrein und nehmen sich die Zeit für ausgedehnte Onsen-Besuche, denn vielen Leuten dienen diese Heißwasserquellen vor allem als spirituelle Reinigung, die besonders zu Jahresende wichtig erscheint.
Besinnlich familiär
Japaner bereiten sich gern auf einen kunstvoll angereicherten Jahresabschied vor und den ganzen Dezember über wird von vielen Orchestern Beethovens Neunte Sinfonie (第九 Daiku) aufgeführt, mit deren Musik und Chorgesang viele das Jahr ausklingen lassen. Untermalt von ihren eindrucksvollen Tönen endet inzwischen jedes Jahr so, wie das neue Jahr mit dem letzten Klang von Tempelglocken beginnt, die landesweit in dieser Nacht angeschlagen werden – 108 Gongs, für ebensoviele Sünden und Wünsche zum neuen Jahr.
Feuerwerk veranstalten Japaner auch, doch selten zum Jahreswechsel, denn dieser wird vor allem besinnlich familiär begangen. Am letzten Tag des Jahres laufen auf den Fernsehsendern verschiedenste Unterhaltungsshows, Gesangswettbewerbe, Gesprächsrunden und Konzertaufführungen. Junge Leute treffen sich auf Parties, viele versammeln sich auf den großen Plätzen der Metropolen; Gläubige besuchen Tempel und Schreine zu Fürbitten an die Götter und Liebespaare genießen mit den Freuden der Nacht ihre ungestörte Zuneigung. Zu Neujahr stehen recht viele zeitig auf, machen gar die Nacht durch, um zu erhöhten Plätzen zu fahren und die erste Sonne zu begrüßen. Man sitzt familiär beieinander, isst Kostbarkeiten der japanischen Küche, schlürft mit Goldblättchen angereicherten Sake, lange Soba (Nudeln) in Gänze oder zäh sich in die Länge ziehende Reiskuchen wie ein magisches Ritual zur Lebensverlängerung – es ist übrigens als japanische Skurrilität bekannt, dass eben diese Reiskuchen Jahr für Jahr bei einigen älteren Japanern zum Erstickungstod führen.
Wer sich die Zeit nimmt – ein in Japan rares Gut – für den lässt ein morgendlich geruhsamer Spaziergang entlang der Flüsse oder des Ozeans die Gedanken übers Wasser und zurück durch den Geist schweben. Surfer lassen unbeeindruckt von Wassers Frische am beliebten Shonan-Areal, wo sich anschließend an unsere pazifische Sagami-Bay bis nach Enoshima hin die schönsten Strandabschnitte befinden, ihre Bretter tanzen. Jedermann wünscht sich ein „Frohes Neues Jahr“ (あけまして おめでとう ございます) und über allem schaut mit schneebedecktem Kopfe Fujisan, der Vater Japans, auf uns herunter. Tausende kleine und große Shinto-Schreine übers Land verteilt sind mit Wunschtafeln behängt und mit den beschrifteten Lampions vieler Sponsoren geschmückt. Verbunden mit kleinen Snacks und Sake, Segenswünschen an die Götter, mit dem zeremoniellen Verbrennen früherer Segnungen (eine Symbolisierung des Neubeginnes) sowie Gaben für den Schrein und seine Priester – leben und leben lassen – beginnt auch für uns an unserem lokalen Izusan-Schrein ein neues Jahr in diesem so einzigartigen Land, das mir inzwischen eine schwierig verständliche, doch faszinierende Heimstätte mit unvergleichlich hoher Lebensqualität wurde.
Bernd Hönig ist Altertumswissenschaftler (Magister Artium Religionswissenschaft/Judaistik), Jahrgang 1966, lebte fast 30 Jahre in Berlin, traf seine heutige Ehefrau Mayu 2016 in Deutschland und lebt jetzt mit ihr in Japan. Dieser Beitrag erschien zuerst in seinem Blog japoneseliberty.com. Dort beleuchtet er bevorzugt nichtalltägliche Themen, beurteilt aus der liberalen Sicht eines abendländisch freien Geistes.