Heute vor 81 Jahren ernannte Hitler General Paulus, der mit seiner 6. Armee in Stalingrad dem Ende entgegensah, zum Generalfeldmarschall. Denn deutsche Generalfeldmarschälle ergaben sich nicht. Paulus tat es dennoch.
„Herzlichen Glückwunsch, Herr Generalfeldmarschall“, dürfte die zynische Gratulation an General Paulus von der Handvoll Leute gelautet haben, als dieser die Beförderungsnachricht direkt aus dem Führerhauptquartier an diesem 30. Januar 1943 erhielt. Die Botschaft war klar: Noch nie hatte sich ein deutscher Generalfeldmarschall dem Feind ergeben. „Bitte erschießen Sie sich lieber, bevor Sie kapitulieren“ hätte es auch getan, aber so deutlich wollte man auch in Berlin nicht sein. Daher diese erstaunlich filigrane und feinsinnige Lösung. Es dürfte einmalig in der Militärgeschichte sein, dass der totale Verlierer einer Schlacht im Anschluss in den höchsten Generalsrang statt in die Verbannung oder zum Tode befördert wurde.
Generalfeldmarschall-Kollege Göring wollte um 12.00 Uhr eine Rede über Stalingrad in Berlin halten, aber einige britische Schnellbomber verzögerten den Redefluss des zweiten Mannes im Dritten Reich um eine Stunde. In dem provisorischen Hauptquartier im Keller des Kaufhauses „Univermag“ der ehemaligen 450.000 Einwohner-Stadt dürfte das allerdings das geringste Problem für den frischgebackenen Generalfeldmarschall und die kläglichen Reste seiner ehemals fast 300.000 Mann starken 6. Armee gewesen sein. Draußen, vor der Türe, wurde nachgerade sinnlos gestorben. Es war vorbei.
Unzählige Bücher, Reportagen und Filme wurden über Stalingrad geschrieben, gedreht und berichtet. Neben der Schlacht um Verdun im Ersten Weltkrieg dürfte sich kaum eine Schlacht so kollektiv in das Gedächtnis der Deutschen – aber auch der Russen – gebrannt haben wie diese krachende und furchtbare Niederlage der 6. Armee, verschuldet durch Hybris, Leichtsinn, Großmäuligkeit und die mörderische Dummheit einer politischen Führung, die nicht militärisch, sondern ideologisch dachte und die wenig Ahnung „vom Fach“ hatte.
Eingekesselt, hungernd und frierend
Interessanterweise war Stalingrad eben nicht die verlustreichste Schlacht des Zweiten Weltkriegs, das war der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte während der sowjetischen Operation „Bagration“ im Sommer 1944, in der rund 400.000 deutsche Soldaten starben, verwundet wurden oder in Gefangenschaft gingen. Was die Zahl an Opfern betrifft, kann deutscherseits auch die Kapitulation des Afrikakorps in Tunesien im Mai 1943 genannt werden, als ebenfalls knapp 300.000 deutsche und italienische Soldaten in alliierte Gefangenschaft marschierten und das im Volksmund spöttisch „Tunisgrad“ genannt wurde, wenn gerade niemand zuhörte. Die russischen Verluste lagen in Stalingrad noch höher: Die niedrigste Zahl, die ich finden konnte, lag bei über einer Million Mann.
Ich bin mir sicher, unter den Lesern dieses Artikels gibt es jede Menge Leute, die über die Schlacht um Stalingrad sehr viel besser und viel genauer als ich informiert sind, daher spare ich mir weitschweifige Erläuterungen über strategische Ziele, russische Operationen und deutsche Gegenoperationen, militärische Gliederungen und was die einzelnen Unternehmen „Operation Uranus“ oder „Unternehmen Wintergewitter“ bedeuteten und welche Effekte sie hatten oder nicht hatten. Ich werde auch nicht von Nord- und Südkesseln berichten, für den interessierten Laien gibt es genug Literatur (etwa hier). Die Tatsache allein, dass sich zehntausende Menschen auch heute noch als historische Laien oder Profis mit Stalingrad beschäftigen, zeigt, wie tief sich das Erleben durch Erzählungen von Überlebenden oder Familien, die dort Söhne, Väter und Brüder verloren haben, in das kollektive Gedächtnis der Deutschen und Russen eingebrannt hat.
Deswegen gehen wir hier auch nur auf die beiden Tage des 30. und 31. Januar ein. Zu diesem Zeitpunkt war die 6. Armee – oder vielmehr das, was die Russen und die glorreiche Führung der Wehrmacht von ihr übriggelassen hatten – seit über zwei Monaten in Stalingrad eingekesselt. Was de facto bedeutet: Es gab seit zwei Monaten kaum noch Nahrung und Munition für die deutschen Truppen. Die Soldaten hausten bei Minusgraden in irgendwelchen Kellern und fraßen zuerst eines ihrer 52.000 Pferde (die deutschen Armeen waren mitnichten voll durchmotorisiert, das Pferd war immer noch der am meisten genutzte Antriebsmotor), dann möglicherweise Ratten und an eine weitere Steigerung möchte ich gar nicht denken – halte sie aber nicht für unwahrscheinlich. Ein Mensch, der hungert, ist zu allem fähig.
Nicht einmal das Sich-Ergeben war in diesem eisigen Höllenloch mit dem Namen des sowjetischen Diktators so einfach möglich: Die Russen schossen in ihrem (berechtigten) Zorn alles nieder, was die Hände hob. Die Kämpfe auf beiden Seiten sind mit dem Wort „erbittert“ euphemistisch umschrieben.
Kampf ums nackte Überleben
Glaubt man Erzählungen, so gab es Häuser, deren Keller deutsch, deren erstes Obergeschoss russisch und deren weitere Geschosse wieder von Deutschen besetzt waren. Einer der hinter vorgehaltener Hand erzählten Witze war: „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: In Stalingrad hat die 6. Armee im heldenhaften Einsatz die erste Etage eines Mehrfamilienhauses erobert.“ Hier kämpften nicht mehr Armeen oder Soldaten gegeneinander, hier rangen ausgemergelte und hungrige Gestalten um ihr Fitzelchen Leben miteinander und töteten für ein Stückchen Brot oder eine wärmende Mütze. Um ihr nacktes Überleben. Auf sowjetischer Seite gnadenlos von Politkommissaren wie Nikita Chruschtschow, dem Nachfolger Stalins im ZK, überwacht, um mit den „deutschen Bestien“ keine Gnade zu üben, in deren Reihen ebenfalls Offiziere ihre russischen Gegner entmenschlichten.
Eine Armee besteht aus Menschen. Und Menschen – zumal, wenn sie töten sollen – brauchen Nahrung und Munition. Im Falle der 6. Armee bedeutete dies einen Bedarf an Versorgungsgütern von 500 Tonnen. Täglich. Also: Jeden Tag. 500 Tonnen. Damit sie sich das vorstellen können: Ein Heinkel He 111-Bomber hatte etwa 5,5 Tonnen Nutzlast. Hatte der damalige General Paulus noch im November die Idee, mit seiner Armee aus dem sowjetischen Kessel auszubrechen, so wurde ihm dies von Hitler untersagt, nachdem der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Generalwaldjägermeister Göring, ihm stolz und vollmundig versichert hatte, „seine“ Luftwaffe würde 500 Tonnen täglich über eine Luftbrücke herbeischaffen können. Gut, man muss den beiden mathematischen Koryphäen zugutehalten, dass der Taschenrechner noch nicht erfunden war, aber 500 Tonnen Bedarf geteilt durch 5 Tonnen Nutzlast war auch damals schon 100 und gar nicht so schwer im Kopf zu rechnen.
Voraussetzung war also, dass genug Bomber mit entsprechender Nutzlast zur Verfügung standen, die ohne gegnerischen Beschuss alle 14 Minuten landen, komplett entladen und wieder starten würden. 24 Stunden, rund um die Uhr. Wie sich Göring diese logistische Meisterleistung in einem Kriegsgebiet mit einer eingekesselten Armee unter Beschuss vorstellte, ist mir bis heute ein Rätsel und dürfte es seinem Stab, der die ganze Angeberei organisieren sollte, auch gewesen sein. Ein Rätsel, das sie – Überraschung – nicht lösen konnten. Und wir reden hier von Mindest-Anforderungen, damit der Kriegsladen überhaupt läuft! Tatsächlich hatte die Luftwaffe bei Stalingrad sogar knapp 100 Flugzeuge beisammen – aber neben der He 111 eben auch Junkers Ju 43. Und die hatten lediglich eine Kapazität von etwa 1,5 Tonnen.
„Stalingrad – Massengrab!“
Zum Vergleich: Während der Luftbrücke für Berlin mussten täglich wenigstens 750 Tonnen Lebensmittel und Brennmaterial eingeflogen werden, die Alliierten schafften schließlich 2.000 Tonnen täglich – aber mit funktionierenden Flughäfen, ohne Feindbeschuss und ohne improvisierte Pisten. Und mit genügend Flugzeugen. Das höchste Kontigent an einem Tag, das die Luftwaffe während der Schlacht um Stalingrad ausliefern konnte, betrug 289 Tonnen. Im Schnitt schaffte die Luftwaffe eine „Tagesration“ von gerade einmal 94 Tonnen. Dabei bestanden 75 Prozent der Nutzlast aus Treibstoff für den Rückflug und für die paar noch funktionierenden Panzer und Jagdflugzeuge im Kessel. Hinzu kam der Verlust von ungefähr 50 Prozent aller eingesetzten Flugzeuge und des dazugehörigen Personals. Das sind die schnöden Zahlen seit November 1942.
Unten am Boden, im Kessel, im Dreck und in der Kälte kamen bei dem einfachen Soldaten somit anfangs 300 Gramm, später 100 Gramm, zum Zeitpunkt von Paulus´ Beförderung noch 60 Gramm Nahrung an. Das sind etwa drei Scheiben Brot. Und nicht einmal gutes Brot. Da wird ein steifgefrorener Pferdekadaver plötzlich zum Gegenstand des allgemeinen Interesses. Wer nicht fiel, der verhungerte oder erfror oder starb an Krankheit oder Verwundung. Der einzige Vorteil der Kälte lag in der Tatsache, dass die tiefgekühlten Leichen im Kessel nicht zusätzlich stanken. Die über die total zertrümmerte Stadt aus Lautsprechern geschmetterte Parole sowjetischer Propaganda „Alle sieben Sekunden stirbt ein deutscher Soldat. Stalingrad – Massengrab!“ war kein Spruch, sondern eine Tatsache.
Sicher, die Russen litten ebenfalls – und nicht zu knapp. Teilweise wurden sowjetische Soldaten ohne Gewehre ins Feuer geschickt, mit der Maßgabe, sich einfach das Gewehr eines Gefallenen zu nehmen und da weiterzumachen, wo der Tote aufgehört hatte, aber die hatten wenigstens ein Hinterland und Nachschub. Nichtsdestotrotz zahlte auch die Rote Armee einen unerhörten Blutzoll, von den 40.000 durch deutsche Bombenangriffe getöteten Zivilisten, die immer noch zwischen den Trümmern lagen und vor sich hin verwesten, einmal ganz zu schweigen. Das war keine Schlacht mehr, das war ein Abschlachten.
Striktes Handeln nach „Führerbefehl“
Ich frage mich, ob Paulus nach seiner Beförderung vor die Tür trat und einmal tief durchatmete, ob er noch wusste, wo seine Soldaten waren und wo die Frontlinien entlangliefen. Der eiskalte Winterwind dürfte ihn umweht haben, während in gar nicht allzu weiter Ferne Maschinengewehre keckerten und Schüsse zu hören waren. Und ob er seine Pistole in die Hand nahm und wenigstens nachdachte. Und ob er sich fragte, ob er sich Hitlers Haltebefehl hätte widersetzen und tausende seiner Soldaten retten können – welche Konsequenzen auch immer das gehabt hätte.
Paulus wird später, nachdem er in die DDR gesiedelt ist, armwedelnd erklären, dass seine Entscheidung, nicht mit der 6. Armee aus dem Kessel auszubrechen, ja, nicht einmal den Versuch zu unternehmen und den Entsatz-Truppen entgegenzumarschieren, zum einen mangels Masse nicht möglich gewesen wäre, zum anderen strategisch gerechtfertigt gewesen wäre, um möglichst viele Feindtruppen bei Stalingrad zu binden. Kann sein, kann nicht sein. Paulus handelte strikt nach „Führerbefehl“. Und sehr wahrscheinlich wider besseres Wissen. Der Mann war Profi. Die Abwägung zwischen Gehorsam und Gewissen fiel hier dem Gehorsam zu. Den Preis für seine späten und falschen Entscheidungen zahlten seine Soldaten. Nicht er.
Einen Tag nach Paulus’ Ernennung, am 31. Januar 1943, drangen sowjetische Truppen in das Kaufhaus „Univermag“ ein. Um 7.35 Uhr sendete Paulus’ Gefechtsstand die Meldung: „Russe steht vor der Tür. Wir bereiten Zerstörung vor.“ Und wenige Minuten später: „Wir zerstören.“ Oh ja. Das hatten sie ja bereits sehr gründlich erledigt, das Zerstören. Die Schlacht um Stalingrad war damit offiziell beendet. Und der Mythos von der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht ebenfalls. Und auch der Mythos, dass ein deutscher Generalfeldmarschall nicht in Gefangenschaft geht. Ganz handzahm war er, der „GFM Paulus“. Von den 100.000 erschöpften Soldaten, die sich letztlich ergaben, kamen nach Kriegsende gerade noch einmal 6.000 nach Hause. Schwersttraumatisierte und kranke Menschen. Das sind zwei Prozent aller deutschen Soldaten, die nach Stalingrad gezogen waren.
Es sollte allerdings noch einige Wochen und Monate und einige Millionen Leben dauern, bis die Russen auch an die Kellertüre des Führerbunkers in Berlin klopften.
Thilo Schneider, Jahrgang 1966, freier Autor und Kabarettist im Nebenberuf, LKR-Mitglied seit 2021, FDP-Flüchtling und Gewinner diverser Poetry-Slams, lebt, liebt und leidet in der Nähe von Aschaffenburg.