Am 12. September 1683 wurde die osmanische Armee in der Schlacht bei Kahlenberg von einem deutsch-polnischen Heer geschlagen. Das markierte das Ende der Zweiten Wiener Türkenbelagerung. Hätten die Türken gewonnen, schmückten heute schlanke Minarette den Stephansdom.
Die Belagerung von Wien dauerte nun schon seit 14. Juli, fast auf den Tag genau drei Monate, und es stand nicht gut um die Verteidiger der Stadt, die von den türkischen Belagerern mittlerweile wortwörtlich angegraben worden waren. Seit drei Monaten kamen aus einer der größten europäischen Städte weder Mann noch Maus noch Diverses hinein oder heraus – sieht man von den halsbrecherischen Aktionen einiger Spione und Kundschafter ab.
Die Osmanen hatten keine Chance gehabt, oben über die Mauern der stark befestigten Stadt einzudringen, also versuchten sie es „untenrum“, indem sie mit Mineuren und Bergarbeitern Stollen um Stollen unter die Befestigungen vorantrieben, die sie dann mit Sprengstoff füllten, um die Mauern durch deren Explosion zum Einsturz zu bringen – oder um Tunnel mitten in das Stadtzentrum zu treiben, um dann dort wie Kastenteufel aus dem Boden zu springen. Die Wiener Garnison wusste das und grub Gegentunnel, ebenfalls mit Sprengstoff gefüllt, um die Tunnel der Osmanen wiederum zum Einsturz zu bringen. In vielen Häusern nahe der Wiener Stadtmauer standen mit Wasser gefüllte Fässer, deren Kräuseln wie ein Seismograph darauf aufmerksam machte, dass sich da tief unter der Erde etwas tat. Eine Taktik, wie sie später im Ersten Weltkrieg und in Vietnam immer noch verwendet wurde. Ein dreckiger und gefährlicher Krieg, in dem Hunderte von Soldaten lebendig begraben wurden.
Aber die Osmanen hatten um Wien rund 120.000 Mann versammelt, da kam es auf ein paar Mineure und Stollenarbeiter nicht an. Der Preis war aber auch zu verlockend: Wien, der „goldene Apfel“, wie ihn die Osmanen nannten, das Tor zu Westeuropa, die Drehscheibe des Okzidents mit dem Orient und die Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, sozusagen das New York des Barock-Zeitalters.
Mietzahlungsverweigerung
Begonnen hatte der ganze Streit offiziell damit, dass Kaiser Leopold I. sich weigerte, die astronomische Summe von einer halben Million Dukaten an seinen osmanischen Nachbarn Sultan Mehmed IV. zu zahlen, der bis 1683 ganz Südosteuropa und Teile der Ukraine mit seinen Truppen regelrecht überflutet hatte. Damit verbunden war jedoch auch eine konsequente Islamisierung seines Herrschaftsbereichs, was ihn wiederum zum höchstgefährlichen und meistgehassten Gegner des Papstes und der katholischen Kirche machte. Allah mochte groß sein, aber zu groß sollte er nun auch nicht werden.
Nachdem sich Leopold also geweigert hatte, die „Miete“ für seine unbesetzten Ländereien an den Sultan zu zahlen, schrieb der ihm und dem polnischen König Sobieski am 31. März 1683 ein paar – nennen wir sie freundlich – „ungehaltene“ Zeilen:
„Wir sind im Begriffe, Dein Ländchen mit Krieg zu überziehen (...). Vor allem befehlen wir Dir, uns in Deiner Residenzstadt zu erwarten, damit wir Dich köpfen können (...) und das allerletzte Geschöpf Gottes, wie es nur ein Giaur [Ungläubiger] ist, von der Erde verschwinden lassen; Wir werden Groß und Klein zuerst den grausamsten Qualen aussetzen und dann dem schändlichsten Tod übergeben.“
Es fehlte eigentlich nur noch der Nachsatz: „Aber nichts für ungut, ist kein persönliches Ding, kein Stress, kein rant, no homo!“
Zusätzlich ermuntert durch Ludwig den XIV. von Frankreich (den „Sonnenkönig“), der soeben das Elsass im Vorübergehen ohne Gegenwehr Leopolds kassiert hatte und auch in die spanischen Niederlande einmarschiert war, schien also eine Eroberung der habsburgischen Lande den Osmanen als zwar nicht unbedingt einfach – aber machbar. Und so marschierte das Heer des Sultans gleich nach Versand des unschönen Einschreibens am 31. März aus Edirne Richtung Wien ab, auf dem Weg eine Blutspur an niedergemetzelten Zivilisten hinterlassend.
Am gleichen Tag allerdings war es Papst Innozenz XI. gelungen, die sich eigentlich spinnefeinden Kontrahenten Polen und „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“ an einen barocken Tisch zu bringen und zu einem Bündnis zu überreden, das von der hohen Cleverness und Diplomatie vor allem des Papstes zeugte.
Sultan werden anstelle des Sultans
Der Inhalt des Bündnisses besagte in Kurzform: Das Römische Reich soll für die Türkenkriege 60.000 Mann, die Polen 40.000 Mann stellen. Wenn und sofern der König von Polen mit dabei ist, ist er automatisch auch der Chef des Heerzugs. Man leistet sich gegenseitig Beistand, wenn Krakau oder Wien belagert werden. Das Römische Reich zahlt 200.000 Reichstaler an Polen, aus den venezianischen Kirchen kommen weitere 300.000 Reichstaler für ein Jahr an die polnische Krone. Leopold I. übernimmt außerdem die Schulden Polens gegenüber Schweden und verzichtet auf die Rückzahlung aller Schulden, die Polen bei ihm hat. Kein Allianzpartner schließt mit den Osmanen einen Separatfrieden und darf sich außerdem weitere Verbündete suchen. Eroberte Gebiete in Ungarn gehören dem Kaiser, eroberte Gebiete in der Walachei und der Ukraine dem polnischen König. Außerdem spendete der Papst noch 1,5 Millionen Gulden aus den kirchlichen Schatullen.
Man sieht in diesem Vertrag die Verzweiflung von Leopold I., nicht nur auf seine Verbindlichkeiten zu verzichten und die seines Gegners Polen zusätzlich zu übernehmen, sondern gleichzeitig Polen auch noch auf seine und Kirchenkosten finanziell zu sanieren. Lustiger konnte es nicht mehr werden. Das Königreich Polen konnte in seiner kompletten Geschichte nie mehr einen derart vorteilhaften Vertrag aushandeln.
Tatsächlich war das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ nicht nur durch den Dreißigjährigen Krieg und eine kurz vorausgegangene Pestepidemie geschwächt, sondern musste dauernd auch den umtriebigen und gierigen Ludwig von Frankreich im Auge behalten, der das Territorium Deutschlands als eine Art Selbstbedienungsladen für Ländereien betrachtete. Frankreich war zu dieser Zeit derart unbeliebt, dass sich sogar das eigentlich frankophile, jetzt aber total verängstigte Bayern der kaiserlich-polnischen Allianz anschloss, dessen Pfälzer Ländereien im Übrigen soeben auch durch die Franzosen besetzt worden waren.
Auf der anderen Seite war es ursprünglich nicht der Plan der Osmanen gewesen, Wien einzunehmen. Aber nachdem Großwesir Kara Mustafa Ungarn quasi in einem Rutsch erobert hatte, beschloss er, sich selbständig zu machen und die Gunst der Stunde zu nutzen, und marschierte ohne Genehmigung oder Befehl seines Sultans auf Wien zu. Historiker vermuten, wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht, dass sich der Großwesir gerne als Sultan anstelle des Sultans mit dem Dienstsitz Wien gesehen hätte.
Wien wird eingeschlossen
Als am 4. Juli die Osmanen schließlich vor der österreichischen Grenze standen, beschloss Leopold I., dass es nun auch einmal Zeit für den schon lange geplanten Urlaub war, in den er sich gemeinsam mit seinen Perücken, seinen Haustieren, seinem Hofstaat und 80.000 Wienern absetzte. Außerdem wollte er nicht völlig kopflos sein und übertrug die Verteidigung seiner Hauptstadt seinem Feldzeugmeister Ernst Rüdiger Graf von Starhemberg. Der rüstige und geharnischte Mittvierziger hatte in den Feldzügen gegen die Türken schon einige Erfahrungen und auch Meriten gesammelt und sollte seine Verteidigung auf – im Vergleich zur türkischen Armee – lächerliche 20.000 Mann und die funkelnagelneuen Festungsmauern Wiens stützen.
Starhemberg sammelte alles an Truppen ein, was er in der Umgebung finden konnte und ansatzweise in der Lage war, eine Waffe zu halten, insbesondere die Infanterie des Herzogs Karl V. und diesen gleich mit dazu. Anschließend fackelte er am 12. Juli die Wiener Vorstädte (heute die Bezirke Drei bis Neun) ab, um der Verteidigungsartillerie ein besseres Schussfeld und den Osmanen wenig Deckung zu bieten. Am 14. Juli endlich erreichten die Osmanen die Stadt und schlossen sie von Norden, Süden und Westen ein. Großzügig forderte der osmanische Befehlshaber, Großwesir Kara Mustafa, Starhemberg zur Kapitulation auf, was dieser angesichts der vorausgegangenen Ankündigung, „Groß und Klein zuerst den grausamsten Qualen auszusetzen und dann dem schändlichsten Tod zu übergeben“, undankend ablehnte. Er war optimistisch oder leichtsinnig genug, zu glauben, dass die versprochenen polnischen Entsatztruppen und die seines Kaisers rechtzeitig eintreffen würden, bevor die Osmanen aus Wien einen Trümmer- und Leichenhaufen machen würden.
Man kann sich trotzdem vorstellen, dass Starhemberg angesichts dessen, was sich da an Militärmacht vor seinen Mauern zusammenbraute, einige Minuten überlegte, ob eine Kapitulation nicht doch eine echte Alternative zu dem war, was jetzt ziemlich wahrscheinlich folgen würde. Stellen Sie sich als unkundiger Leser einfach Aragorn am Beginn der Schlacht um Helms Klamm vor. Spoiler: Das Ende sollte übrigens ebenso aussehen und die sogenannte Zweite Belagerung von Wien war vielleicht Tolkiens reales Vorbild. Stellen Sie sich Kara Mustafa vor, nachdem seine Aufforderung sinngemäß mit der Antwort „Yes, but thanks, but no“ zurückgekommen war und er die Arme ausbreitete mit den Worten „So the games shall begin“!
König Johann III. Sobieski will den Oberbefehl
Drei Monate war das jetzt her. Drei Monate, in denen sich Wiener und Osmanen oberirdisch und unterirdisch gegenseitig niedermetzelten, drei Monate, in denen der Stadt langsam die Nahrung und – noch schlimmer – die Munition ausging, drei Monate mit Bränden und zermürbt von der beständig grummelnden türkischen Artillerie und einem türkischen Heer, in das im steten Fluss Männer, Munition und Nahrungsmittel strömten. Drei Monate voller Leichen- und Leichenteile, die nicht bestattet werden konnten, sondern verbrannt werden oder in die Donau geworfen werden mussten. Drei Monate, die das einst blühende Wien in ein echtes Höllenloch voller Hungernder, Kranker, Sterbender und in sich einstürzender Häuser verwandelt worden war. Drei Monate in einer nach Leichenfeuern und Verwesung stinkenden Stadt. Und doch, trotz allem: Die zusammengeschossenen und unterminierten Mauern hielten. Noch. Aber für wie lange noch?
Romantisch verklärt würde das Bild jetzt so aussehen: Während die Türken in ihren Gräben um die Wiener Festungsmauern herumwuseln, erscheint oben, auf dem Kahlenberg, zuerst ein einsamer Reiter. Dann noch einer. Dann noch einer. Und noch einer. Schließlich wälzt sich eine Flut mit Tausenden von Reitern den Kahlenberg hinab und trampelt die überraschten Osmanen nieder. Das sieht auf Schlachtengemälden hübsch aus und macht filmisch riesig was her. Allein: Ganz so war es nicht. Aber so ähnlich.
Bereits am 4. September, also eine Woche vorher, hatten die Osmanen ein paar Gefangene der Vorhut des Entsatzheeres eingesammelt, die Kara Mustafa holterdiefolter ziemlich exakt über Marschrichtung und Stärke des auf Wien zumarschierenden Heeres informiert hatten, allerdings scheint der osmanische Oberbefehlshaber diesen Meldungen entweder wenig Glauben geschenkt zu haben oder er war derartig von der eigenen Schlagkraft überzeugt, dass er diese Meldungen schlicht ignorierte. Möglicherweise war er auch einfach unkonzentriert und blendete die Möglichkeit eines massiven Entsatzes vollkommen aus, da sie nicht seinem Wunschdenken entsprach. Ein Fehler, den die meisten Feldherrn irgendwann machten und immer noch machen.
Auf der anderen Seite hatte die wackelige Allianz um den polnischen König Johann III. Sobieski alles zusammengekratzt, was laufen konnte. Im Hauptquartier der Allianz war es zu Streitigkeiten gekommen, da Karl von Lothringen als Oberbefehlshaber des Kaisers der Ansicht war, er solle das Heer führen, zumal er sich in der Gegend gut auskannte und mit den Türken bereits Erfahrungen gesammelt hatte (und sein Kaiser die „Excursion“ teuer bezahlt hatte). Das sah Sobieski völlig anders, zumal er das größere Heer stellte und er drohte damit, abzuziehen (und das ganze schöne Geld zu behalten), wenn er nicht den Oberbefehl bekäme. Karl von Lothringen beugte sich schließlich unter Murren. Es war ja seine Hauptstadt, um die es ging.
Osmanen unter Druck, die Tataren machen Feierabend
Überraschend unbelästigt von den Osmanen, die aus Leichtsinn weder die Donauufer überwacht noch den Wienerwald gesperrt hatten, hatten die Alliierten nach einem beschwerlichen Anmarsch ohne Tross und Verpflegung endlich den Kahlenberg erreicht und unter viel Mühe ihre Artillerie auf dem Berg in Stellung gebracht. Von dort zündeten sie eine Leuchtrakete (woher immer sie sie hatten) und signalisierten den erschöpften Verteidigern von Wien: Die Entsatzarmee ist da. Und dann betete sie, die hungrige Entsatzarmee. Erst einmal. Der päpstliche Legat hielt eine Messe und schwor die Soldaten auf das Paradies ein, das hüben wie drüben heute einige Tausend Kämpfer betreten würden.
„Auf einem Berg sein“ bedeutet militärisch, dass man auf einem Berg ist. Das nutzt aber nicht viel, wenn der Feind im Tal und anderweitig und außerhalb der eigenen Waffenreichweite beschäftigt ist. Karl von Lothringen machte sich mit seiner Infanterie als Erster an den Abstieg. Während im türkischen Hauptquartier noch heftig diskutiert wurde, wie denn der Schlachtplan aussehen könnte, nahm Karl bereits den schwachen rechten Flügel der Osmanen auseinander, die sich plötzlich in einen Zwei-Fronten-Kampf verwickelt sahen und zwischen dem Entsatzheer und den Mauern Wiens mit seinen grinsenden Verteidigern eingeklemmt waren. Karls Armee arbeitete wie ein Schraubstock und drückte die Osmanen gegen die Mauern, seine Infanterie drang in die Laufgräben der Osmanen ein und töteten alles, was sich darin bewegte und kein Christenmensch war.
Es wird ebenfalls ein Mysterium bleiben, warum Kara Mustafa nicht wenigstens jetzt die Belagerung abbrach und den Entsatztruppen alles entgegenwarf, was nach drei Monaten Belagerung von den Belagerern noch übrig war. Womöglich hat er dies auch versucht, aber natürlich wirft man ein Heer von knapp 100.000 Mann auch nicht so einfach herum, um mit umgekehrter Front zu kämpfen. Seine Tataren jedenfalls hatten es bereits jetzt schon vorgezogen, das Schlachtfeld zu verlassen und Feierabend zu machen. Tatsächlich musste Kara Mustafa es also „laufen lassen“ und auf das Beste und die Gnade seines Gottes hoffen.
Leiwand: Die Türken brechen zusammen!
Mittlerweile konnten die verteidigenden Angreifer Wiens recht gut sehen, was da auf sie zurollte. Ein türkischer Chronist beschreibt den Abstieg der polnischen Flügelhusaren Sobieskis vom Kahlenberg sinngemäß als „schwarze Flut, die sich den Berg hinabwälzte“. Und das dürfen Sie sich nun wie in „Herr der Ringe“ vorstellen.
Die „Hussaria“ – die Flügelhusaren: Legende, Mythos und die Truppe, die einer ganzen Waffengattung, den Husaren, den Namen geben sollte. Im Gegensatz zu späteren Jahrhunderten waren die Husaren damals die „schwere Reiterei“, ausgerüstet mit Brust- und Rückenharnisch und einer Stoßlanze, der sogenannten Kopia. Im Gegensatz zu den Lanzen des Mittelalters war diese Lanze leicht und brüchig und diente nur zum Durchstoßen der vorderen Linien eines Gegners, den Rest erledigten die Panzerreiter dann mit Schwertern, Säbeln oder Beutewaffen. Das eigentliche aufsehenerregende Merkmal der polnischen Streiter waren aber zwei riesige, auf dem Rückenharnisch befestigte Gestelle, an denen Adlerfedern befestigt waren. Diese machten bei einem Angriff im gestreckten Galopp auf den letzten Metern ein rauschendes Geräusch und sollten so, ähnlich wie später die Sirenen der Stuka, den Feind demoralisieren. Der eigentliche Zweck dieser „Flügel“ war es jedoch, den Rücken der Reiter zu schützen und, tatsächlich, den Wurfschlingen der meist tatarischen Gegner keinen Halt zu geben.
Es muss ein wirklich erhabener und furchterregender Anblick gewesen sein, als 10.000 Mann dieser Eliteeinheit jetzt in den Ebenen vor Wien ihre Reihen entfalteten und zuerst im Trab, dann im Galopp auf die osmanischen Linien unter Rauschen und donnernder Erde zurollten und die sich ihnen in den Weg stellenden Elitetruppen der Osmanen, Janitscharen und Sipahi einfach überritten. Was im Klartext meint, dass die Osmanen unter die Pferdehufe der Polen gerieten. Es muss ausgesehen haben, als reite ein Heer von Engeln oder Dämonen (je nachdem, ob in oder vor Wien) auf die osmanischen Linien zu. Und die osmanischen Linien – sie brachen zusammen wie Schilf unter einer Sense.
Es war das Ende. Die Husaren fegten regelrecht wie ein Sturmwind in das türkische Lager, die Osmanen, unfähig sich zu sammeln, flüchteten wild, Widerstand gab es keinen mehr. Aus einer heutigen Drohnenperspektive stellen Sie sich hierbei bitte einen geordneten Block von schwarzen Reitern vor und etwa 80.000 kleine Punkte, die sich alle hektisch nach Süden und Osten bewegen. Sie sehen, wie viele ihre Waffen wegwerfen, um schneller rennen zu können. Sie sehen, tatsächlich, auf osmanischer Seite eine waschechte Massenpanik.
Mit hübschen Immobilien in Wiener Bestlage belohnt
Unvorstellbare Mengen an Beute fielen den Alliierten in die Hände. Gold, Silber, Schmuck, Textilien, Kleidung, Waffen, Kanonen, Munition, angeblich die „Fahne des Propheten“, sicher aber einige hundert Säcke mit schwarzen Bohnen, mit denen niemand so recht etwas anfangen konnte. Der Legende nach soll diese der kaiserliche Spion und Kundschafter Georg Franz Kolschitzky zum Dank für seine Dienste erhalten haben, wodurch er zum Begründer der Wiener Kaffeehauskultur wurde. Wenngleich diese Geschichte wahrscheinlich nicht stimmt – hübsch ist sie allemal. Es gab nach dem Sieg die obligatorische Dankmesse und eine große Truppenparade vor Wien, dann machten sich Sachsen, Bayern und die Soldaten der kleineren Fürstentümer auf den Heimweg.
Kara Mustafa sammelte die Spreu, die von seinem Heer noch übrig war, bei Schwechat und marschierte ins ungarische Györ ab. Seine Verluste betrugen 20.000 Mann (davon 10.000 Tote), die auf alliierter Seite etwa 2.000 Gefallene und 2.500 Verwundete. Da jede Niederlage einen Schuldigen braucht, lies Kara Mustafa Ibrahim Pascha, den Befehlshaber von Budapest, hinrichten, da sich dieser angeblich zuerst vom Schlachtfeld aus dem Staub gemacht habe – tatsächlich war Ibrahim Pascha jedoch von Anfang an gegen Mustafas seltsam zerfahrenen Schlachtplan an diesem Tag. Mustafas Chef wiederum, Sultan Mehmed IV., war mit der Performance seines Großwesirs derart unzufrieden, dass er ihn knapp drei Monate später, immerhin stilvoll mit einem Seidenband, in Belgrad erdrosseln ließ. Jede Niederlage braucht, wie gesagt, einen Schuldigen.
Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg, der Verteidiger Wiens, wurde mit sehr hübschen Immobilien in Wiener Bestlage belohnt und mit Ehren überhäuft. Jan III. Sobieski, der etwas rustikale polnische König und Oberbefehlshaber, behielt zuerst den Großteil der Beute für sich und trieb sich dann mit Karl von Lothringen und dem bayerischen „Türkenlouis“ noch in dem darauffolgenden „großen Türkenkrieg“ herum. Er kassierte vor Párkány aufgrund eigener Arroganz und Leichtsinns eine satte Niederlage gegen die Osmanen, entkam nur knapp der Gefangennahme und starb, sozusagen als Rentner, in seiner polnischen Königsresidenz Wilanów in Warschau. Karl von Lothringen bestritt im Türkenkrieg siegreich die Schlacht bei Móhacs und gewann so Ungarn für die österreichische Krone zurück. Er starb 1690 an einer Lungenembolie, als er nach Wien reiste, was ihm den Tag verdarb.
Insgesamt schleppte sich dieser „Türkenkrieg“ noch bis 1699 hin, bis der komplette Balkan die osmanische Herrschaft gegen die Habsburger Herrschaft eintauschen durfte. Verwunden haben die damaligen Osmanen und heutigen Türken diese Niederlage nie ganz: Denn hätten die Türken vor Wien gewonnen – das Gesicht Europas sähe heute ganz anders aus und der Stephansdom hätte hübsche Minarette drumherum. Und wir würden uns so manche gesellschaftliche Diskussion sparen. Aber den Morgenkaffee? Den gäbe es immer noch. Wenigstens das.
Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.