Chemnitz scheint für manche Verantwortungsträger in einer unerreichbaren Ferne zu liegen. Ein entlegener Landstrich mit wilden Bewohnern, aus dem man selbst nur selten und lückenhaft Nachrichten bekommen kann. Deshalb ist man auf die Informationen mutiger Aktivisten angewiesen, die sich in dieses unbekannte Land hineinwagen. Zwar wird schon viele, viele Tage lang nichts anderes so intensiv kommentiert, wie die Vorfälle in Chemnitz und manchmal klingt es so, als läge die sächsische Stadt in einem umkämpften Krisengebiet, in dem man um Leib und Leben fürchten muss.
Aber darüber, was denn nun genau in jenen Tagen Ende August geschehen ist, kursieren so viele verschiedene Erzählungen und Interpretationen, als sei die Informationsbeschaffung so schwer wie aus einer kaum erreichbaren Einöde. Selbst führende Verantwortungsträger dieses Landes sind sich bis heute nicht einig, ob es dort nun Hetzjagden auf Ausländer gegeben hat oder nicht. Während etliche Journalisten und Politiker fast zwei Wochen daran arbeiteten, die „Hetzjagd“ möglichst drastisch als solche zu beschreiben, haben sie einen Neonazi-Angriff auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz am „Hetzjagd“-Tag glatt übersehen. Dieser wurde erst jetzt gemeldet.
In der Weltpresse hatten die Hetzjagden auf Ausländer in Chemnitz da ihre Schlagzeilen schon längst hinter sich. Die große Verbreitung ist nicht verwunderlich, wenn die Bundeskanzlerin und ihr Regierungssprecher sich diese Beschreibung zu eigen machten. „Hetzjagden“ öffentlich zu verurteilen wirkt nun einmal entschlossener, als wenn man sich nur an „Angriffen“ oder „Gewalttaten“ abarbeiten müsste. Dass ein lokaler Chefredakteur in seiner Stadt keine „Hetzjagden“ zu entdecken vermochte, konnte gegen die Deutungsmacht einer Regierungschefin, sekundiert von den öffentlich-rechtlichen Fernsehkanälen, nicht durchdringen. Auch dass der sächsische Ministerpräsident in einer Regierungserklärung verkündete, es hätte keine Hetzjagden und Pogrome, wie sie einige Journalisten ebenfalls vermeldeten, in der drittgrößten Stadt seines Freistaats gegeben, führte zu keiner Abkehr von der regierungsamtlichen Deutung. Vielmehr wurde dem Ministerpräsidenten eine Verharmlosung der Vorfälle vorgeworfen.
Immerhin gab es ja einen Beweis: 19 Sekunden bewegte Bilder von der Facebook-Seite "Antifa Zeckenbiss", die die Hauptnachrichten von ARD und ZDF präsentierten. Es kann durchaus sein, dass der Mann, der da einem anderen hinterher rannte, und die, die kurz ansetzten, es ihm gleichzutun, Rechtsextreme waren. Es kann sein, dass der Mann, der da weg rannte, ein Ausländer war. Es kann sein, dass diese Szene Teil eines Angriffs auf Asylbewerber gewesen ist. Die eine Sequenz lässt sich so aber auch völlig anders interpretieren. Als Beweis taugt dieses Video nicht ansatzweise, zumal man ja bei „Antifa-Zeckenbiss“ wirklich nicht von einer unabhängigen, glaubwürdigen Quelle sprechen kann. Aber so manchem Redakteur und dem Kanzleramt reichte das offenbar. Die Frage, ob man denn vielleicht durch die Identifizierung der Menschen, die dort zu sehen sind, das tatsächliche Geschehen verifizieren könne, stellten sich die Kollegen offenbar erst Tage später, als die Beweiskraft des Antifa-Filmchens plötzlich arg in Frage gestellt wurde.
Böses Spiel der Ablenkung?
Ja, es gab, durch andere Aufnahmen bewiesen, ausländerfeindliche Sprechchöre und bedrohlich-aggressives Auftreten etlicher Demonstranten. Es gab die bekannten Hitlergrüße. Es gab offensichtlich auch gewalttätige Übergriffe und Straftaten. Von einer Hetzjagd, einem Pogrom gar, scheint dies aber weit entfernt gewesen zu sein. Mit solchen Begriffen sollte man vorsichtig umgehen, auch um die Hetzjagden und Pogrome in der deutschen Geschichte nicht sträflich zu verharmlosen.
Nun gehören Fehlwahrnehmungen und Übertreibungen, zuweilen auch maßlose, zu den wahrscheinlich unvermeidlichen Begleiterscheinungen des Mediengeschäfts. Das klärt sich normalerweise alles spätestens, nachdem sich der Pulverdampf allgemeiner Erregung etwas verzogen hat und die Kollegen, die nicht so sehr unter emotionalem und Aktualitätsdruck stehen, noch einmal nüchtern vor Ort recherchieren. Doch dass hocherregte Übertreibungen ohne hinreichende Informationsgrundlage flugs zur regierungsamtlichen Sicht erklärt und in der Welt verbreitet werden, ist schon etwas Besonderes. Unter den Chemnitzern dürfte das die Popularität der Kanzlerin nicht gerade gesteigert haben.
Schlimmer noch wurde es jetzt am Ende der Woche, als nun ausgerechnet der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der regierungsamtlichen Sicht den Fälschungsverdacht anheftete. Nicht genug damit, dass Maaßen in „Bild“ erklärte, dem Verfassungsschutz lägen „keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben“. Nach seiner vorsichtigen Bewertung, so setzte er noch hinzu, „sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“.
Sind die Kanzlerin und ihr Regierungssprecher also einer Falschinformation aufgesessen? Haben sie das böse Spiel der Ablenkung vom Totschlag an einem Chemnitzer durch Asylbewerber, der ja am Anfang stand, etwa – wenn auch unbewusst – mitgespielt? Ein ungeheuerlicher Verdacht, ausgesprochen ausgerechnet von einem Mann der qua Amt den Überblick über den Rechts- und Linksextremismus hierzulande haben sollte.
Um am Beweiswert dieser Videosequenz von „Antifa Zeckenbiss“ zu zweifeln, selbst wenn das Video selbst echt und nicht manipuliert ist, hätte man nicht eigens den Verfassungsschutzpräsidenten gebraucht. Auch unabhängig von der Videosequenz spricht nicht so viel für die Berechtigung der Zuschreibungen „Hetzjagd“ oder gar „Pogrom“. Gibt es aus Sachsen eigentlich keine belastbaren Informationen mehr, so dass nun an ein paar Handy-Aufnahmen herumgedeutet werden muss, als ginge es um Vorgänge in einem pakistanischen Stammesgebiet, in dem keine weiteren glaubhaften Quellen zu erreichen sind?
Was sagen denn beispielsweise die Einsatzberichte der Polizei? Immerhin wissen wir, dass die Generalstaatsanwaltschaft erklärt hatte, dass es keine „Hetzjagd“ gegeben habe. Allerdings gibt es wohl 140 Ermittlungsverfahren. Aber das hilft nicht weiter, weil wir nur sehr pauschal erfahren, weshalb ermittelt wird und gegen wen. Zwar soll es neben rechtsextremen Propagandadelikten und Landfriedensbruch auch um Körperverletzungen gehen, über deren Zahl wird nichts mitgeteilt. Zudem gibt es ja nicht nur Ermittlungen gegen rechte Demonstranten, sondern auch gegen linke Gegendemonstranten.
Späte Zeugen
Wenn es wirklich eine richtige Hetzjagd gegeben hätte, würden wir dann nicht wenigstens Meldungen über ein paar Verletzte, die in Krankenhäusern oder von Notärzten behandelt wurden, haben? Diese Meldungen sind leider inzwischen schon bei etlichen ansonsten unspektakulären Demonstrationen unter radikalerer Beteiligung üblich. Auch wenn immer häufiger Konflikte zwischen – laut Pressemeldungen meist herkunftslosen – Männergruppen mit Gürteln, Messern, Dachlatten und Eisenstangen ausgefochten werden, gibt es eine Verletztenbilanz. Ebenso wird bei Übergriffen der Kleingruppen unbekannter junger Männer mit Messern und Fäusten oft über die Zahl der Verletzten berichtet. Wie viele Opfer hatte denn die „Hetzjagd“? Das muss doch irgendwo verzeichnet sein.
Immerhin konnten die Hauptnachrichten der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender am Freitagabend endlich zwei afghanische Asylbewerber präsentieren, die angaben, die auf dem Video fliehend rennenden Männer zu sein. Sie hätten an dieser Stelle einen gewalttätigen Übergriff erlitten, sagen sie, den sie auch nach einigen Tagen bei der Polizei angezeigt haben. Schaut man sich das Zeckenbiss-Video an, dann könnte das stimmen, es könnte aber auch nicht stimmen. Letztlich wäre dieser eine Fall zwar immer noch kein Nachweis für eine allgemeine Hetzjagd, aber darüber redet vielleicht bald keiner mehr. Jetzt geht es ja um den Widerspruch zur Aussage des Verfassungsschutzpräsidenten.
Der wurde nämlich für seine Äußerungen von allen überparteilichen Unterstützern der Bundeskanzlerin angegriffen. Stellvertretend sei hier Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter zitiert: „Wenn Herr Maaßen solche Behauptungen aufstellt, muss er sie zweifelsfrei belegen. Alles andere ist unverantwortlich.“ Und was ist mit Belegen für die Hetzjagd? Gibt es da nur die Antifa-Zeckenbiss-Videosequenz? Nein, denn am Freitag konnte SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles mitteilen, dass der SPD-Bundestagsabgeordnete Detlef Müller persönlich Augenzeuge von „Hetzjagden“ in Chemnitz gewesen sei. Er habe darüber in der Fraktion berichtet, doch warum er sich nicht früher zu Wort gemeldet hat, sagt sie nicht.
Wer schämt sich jetzt wofür?
Der Regierungssprecher Steffen Seibert musste sich immerhin bei der Bundespressekonferenz ein paar unangenehmen Fragen stellen. Ob er denn bei seiner Hetzjagd-Behauptung bliebe und ob der Verfassungsschutzpräsident das Kanzleramt von seiner Einschätzung der Lage informiert habe? Seibert dazu: „Es hat dazu kein Gespräch der Bundeskanzlerin mit Herrn Maaßen in den letzten Tagen gegeben.“ Ob Maaßens Informationen über Zweifel am Zeckenbiss-Video vielleicht in anderer Form ins Kanzleramt gelangten, blieb offen.
Immerhin stellte sich Bundesinnenminister Horst Seehofer hinter den Verfassungsschutz-Chef, was nicht verwundert, denn er lässt ja kaum Gelegenheiten aus, gegen die Kanzlerin zu sticheln. Allerdings auch keine, um nach dem Aufbegehren wieder klein beizugeben. Und nun soll sich vielleicht schon in der nächsten Woche der Bundestagsinnenausschuss mit dem Verfassungschutzpräsidenten beschäftigen.
Eigentlich ist der ganze Vorgang ein so absurdes Theater, „Zeckenbiss-Affäre“ wäre ein geeigneter Begriff dafür. Ein wirklich ernstes Problem wird von der deutschen Spitzenpolitik zur lächerlichen Farce umgeschrieben. Und egal, ob nun von irgendwem gewollt, die Sinne mancher Mitspieler sind dabei schon so verwirrt worden, dass sie nicht mehr wissen, wie alles eigentlich vor zwei Wochen begann. Im FDP-Portal liberal.de heißt es doch tatsächlich: „Marco Buschmann, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion, macht unmissverständlich klar: ‚Wenn ein rechter Mob Menschen öffentlich durch die Stadt jagt, hetzt, verletzt und es sogar Tote gibt, dann ist das etwas, für das sich unser Land schämen muss.'“
Vielleicht sollte sich Herr Buschmann ein bisschen schämen, denn er hat wohl vergessen, dass es den Toten schon vorher gab: Einen jungen Chemnitzer, erstochen von Asylbewerbern nicht zweifelsfrei geklärter Herkunft und danach instrumentalisiert, verdrängt oder vergessen. Es ist nicht bekannt, dass einer der vielen politischen Verantwortungsträger, die fast zwei Wochen lang schon ihre lauten Sprechblasen zu Chemnitz übers Land verteilten, beispielsweise den Hinterbliebenen konkrete Hilfe angeboten hätte. Die sind vielen derer, die im Kameralicht gar nicht genug Sorge über die Zustände in Sachsens drittgrößter Stadt äußern können, eben wirklich so fremd, wie die Bewohner entlegenster exotischer Landstriche.
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