Chaim Noll / 22.12.2018 / 06:15 / Foto: Freud / 39 / Seite ausdrucken

Jaegers Grenze und Mayans Flucht

Vor gut sieben Jahren, im Frühjahr 2011, hielt ich eine Vorlesung vor Studenten der Kommunikationswissenschaften an der Universität Wien über „Konstruktivismus“, worunter in der Medienwissenschaft die Tendenz verstanden wird, Wirklichkeit nicht abzubilden, sondern zu konstruieren. Gemeint ist, dass im geschriebenen Text nicht eine möglichst getreue Wiedergabe von durch Recherche erfahrener Realität vermittelt wird, sondern ein Konstrukt nach vorgegebenen Meinungen, Ideologemen und Vorurteilen. Da ich in Israel lebe, wählte ich als Fallstudie die Israel-Berichterstattung deutschsprachiger Medien.

Es ergab sich, dass Der Spiegel besonders viele Beispiele für „konstruktivistische“ Artikel zum Thema Israel lieferte, für Texte, in denen selektiv, manipulativ, sogar durch offensichtliche Unwahrheiten ein Israel-Bild konstruiert wurde, das zwar der Weltanschauung der Redaktion entspricht, aber nicht der Wirklichkeit. So analysierte ich einen Artikel der damaligen Israel-Korrespondentin des Spiegel, Ulrike Putz, über ultra-orthodoxe Juden, hebräisch Charedim. Ein Fake-Beitrag von Claas Relotius hieß "Jaegers Grenze". Der Artikel von Ulrike Putz hieß "Mayans Flucht aus dem Mittelalter" und behandelte den hierzulande alltäglichen Fall einer jungen Jüdin, die das ultra-orthodoxe Milieu verlässt, um in einer anderen der vielen möglichen Lebensformen in Israel ihr Glück zu versuchen.

Aussteiger aus der Ultra-Orthodoxie gibt es zu Zehntausenden, was sich darin zeigt, dass dieser Sektor der israelischen Bevölkerung bei weitem nicht so stark wächst, wie seine Geburtenrate vermuten ließe. Insofern war der Artikel nicht sensationell. Um ihn aufregender zu machen, zeichnete Ulrike Putz ein „konstruktivistisches“ Bild des Milieus, indem sie beispielsweise behauptete, unter Charedim seien „Fernsehen, nichtreligiöse Musik, Telefone und Internet verpönt“ und die „für die Gemeinschaft wichtigen Nachrichten werden über Wandzeitungen verbreitet.“

Diese Angaben sollten die Zurückgebliebenheit der Charedim verdeutlichen, doch sie gehen so lachhaft an der Wirklichkeit vorbei, als würde man behaupten, die Deutschen verschmähten Bier, verständigten sich durch Rauchzeichen oder glaubten, was im Spiegel steht. Gerade die ultra-orthodoxen Gemeinden sind überaus aktiv im Internet, mit unzähligen Websites, die ihre religiösen Inhalte verbreiten, aber auch Musik-Videos und praktische, für Juden auf der ganzen Welt nützliche Informationen wie die Zeiten des Shabat oder erreichbare koschere Lebensmittel an einem beliebigen Ort.

Den Bazillus der Mitwisserschaft inhaliert

Nun war die plumpe Unwahrheit, Charedim benutzten kein Telefon oder Internet, leicht durchschaubar, zumindest für jeden, der schon mal in Jerusalem, Amsterdam oder New York über die Straße gegangen ist und in Smartphones redende, textende, sie sogar als Gebetbücher nutzende ultra-orthodoxe Männer und Frauen gesehen hat. Deshalb diskutierte ich damals mit den Studenten in Wien die Frage, für wie dumm die Macher des Spiegel ihre Leser halten müssen, für wie uninformiert, wirklichkeitsfern, engstirnig und von Ressentiments bestimmt, wenn sie ihnen solchen Nonsens auftischen. Und wie lange sie glauben, mit Schwindeleien wie diesen eine zunehmend alternativ informierte Öffentlichkeit medial beherrschen zu können.

Die Diskussion verlief vehement. Unter den rund fünfhundert angehenden Medienleuten waren etliche, die eine „konstruktivistische“ Berichterstattung verteidigten. Zumindest unter Umständen. Sie hatten bereits den Bazillus der Mitwisserschaft inhaliert: Medienleute als Eingeweihte in die Notwendigkeiten der Mächtigen, die der breiten, unwissenden Masse nicht immer verständlich, daher besser geheim zu halten sind.

Ein Student verlangte von Professor Gottschlich, der mich zu der Gastvorlesung eingeladen hatte und eine weitere mit mir ankündigte, beim nächsten Mal müsse ein  Ko-Referent dazu gebeten werden, der meine „extremen Ansichten“ relativiere. Eine junge Journalistin verfolgte mich bis in den Innenhof der Universität mit ihren Anklagen: Ich hätte Ulrike Putz, die Korrespondentin des Spiegel, in ehrenrühriger Weise bloßgestellt und persönlich diffamiert.

Dabei habe ich sie immer verteidigt. Ich hatte den seltsamen Wandel in ihren Texten beobachtet, seit sie beim Spiegel fest angestellt wurde. Vorher, als sie noch, wie man bezeichnenderweise in der Branche sagt, „frei“ war, schrieb sie vernünftige, sauber recherchierte Texte. Zum Beispiel ihre am 21. Februar 2003 in der Zeitung HaAretz veröffentlichte Reportage Learning to Make the World's Deserts Bloom. Hier stimmte noch alles, Fakten, Atmosphäre, Hintergrund – ich kann es mit dieser Gewissheit behaupten, denn an dem kleinen Ort in der Wüste, dem Sde Boqer Campus der Ben Gurion Universität, von dem sie berichtete, lebte ich damals selbst.

Was ist dann mit Ulrike Putz und den vielen anderen, die im Glashaus in der Hamburger Hafencity sitzen oder dorthin ihre Texte schicken, psychologisch vor sich gegangen, welchem Comment haben sie sich unterworfen, welchen ungeschriebenen Regeln? War der Spiegel-Reporter Claas Relotius, der jetzt wegen seiner erfindungsreichen Berichte geopfert wird, nur ein Musterschüler, der besonders vorbildlich und preisgekrönt ins Werk zu setzen wusste, was die Hamburger Zentrale wünscht? Dort spricht man von einem Unfall, einem „Versagen der Sicherungssysteme“. Wer die Israel-Berichterstattung des Spiegel verfolgt, weiß: die haben nie funktioniert. Und sind auch nicht die Lösung des Problems.

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P.Steigert / 22.12.2018

“Haltung” und Bereitschaft zur Propaganda zeichnet diese Generation der deutschen Journalisten wieder einmal aus.

Robert Jankowski / 22.12.2018

Ihr Bericht über die Diskussion mit den Studenten zeigt, dass es in weiten Kreisen als “normal” gilt, die Wirklichkeit im “Sinne der guten Sache” anzupassen, um den Leser entsprechend zu beeinflußen. Und das ist letztlich genau das, was mittlerweile im System Merkel zur Normalität gemacht wurde. Hofschranzen verfassen ihre Artikel und Reportagen so, dass sie möglichst nahe am Mainstream der vorgegebenen Meinung liegen und politisch die gewollte Wirkung erzielen.

J.P.Neumann / 22.12.2018

“Bazillus der Mitwisserschaft” würde ich eher Bazillus der Mittäterschaft nennen. Die Medien sind mittlerweile Regierungsorgane.  Völlig frei drehende Propagandaabteilungen um genau zu sein. Erst recht seit Merkels Grenzöffnung. Die Berichterstattung zu Israel geht dabei sogar noch, wenn man sie mit der USA-Berichterstattung vergleicht. Die Karikatur von Trump als Dschihadist, der die Freiheitsstatue köpft, ist lupenreiner NS “Stürmer” Stil. Relotius hat das Spiegel-Titelbild nur zu Schundliteratur verarbeitet. Und wurde für den Dreck von der gesamten Branche auch noch mit Preisen überhäuft.

U. Unger / 22.12.2018

Danke Herr Noll, für diesen zusätzlichen Hintergrund, Ihr Beitrag verdeutlicht vieles rund um die causa Relotious. Nun dürfte klar sein, dass Adressat jedes Medienbeitrages der großen Sender und Verlage nicht mehr der Konsument, sondern Chefredakteure und Geschäftsführung sind. Es scheint also zu einer Art Hochschlafwettbewerb verkommen zu sein, was früher mal Pressefreiheit genannt werden durfte. Der Klatschreporter Baby Schimmerlos aus der Serie Kir Royal scheint die ideale Vorlage statt einer ulkigen Parodie angestrebtes Vorbild zu sein, allerdings ohne jeden Konflikt mit Chefredaktion oder Verleger. Schnelle Autos, gesellschaftliche Events vom Feinsten und alles darunter wird mit sprachlichem Make up schöngetunt. Der Journalist hat sich zum auktorialen Erzähler so weiterentwickelt, das jedes Arbeitsergebnis nur einem Zweck dient, den Journalisten schnellstens persönlich bekannt zu machen. Statt des dezenten Beschreibens ist der Journalist ein Künstler, der wie ein Musiker frei über Text, Melodie und Aufführung entscheidet. Fehlt nur noch, dass bei weiterem Fortschritt Bankräuber, Mörder, Vergewaltiger vor der Tatbegehung bei Journalisten exklusive Subunternehmerverträge unterschreiben, um hinterher gemeinsam Gema Gebühren für Urheberrechte zu verlangen. Dank Netz DG sind wir da bald angekommen.

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