Von Hermann Schulte-Vennbur.
„Alle 10 Jahre wählen sich die Italiener einen Heiligen und hoffen, dass sich alles ändert“, meinte einmal eine italienische Freundin zu mir. Ein Großteil der italienischen Presse hat in Mario Draghi ihren neuen Heiligen, ihren Super-Mario gefunden. Steht Italien vor einem fundamentalen politischen Neubeginn? Die Stellung Mario Draghis als Ministerpräsident ist für den Rest der Legislaturperiode kaum angreifbar. Die Alternative wären Neuwahlen, und die wird es bis zum Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2023 schon deswegen nicht geben, weil die beiden italienischen Parlamentskammern reformiert und bei den nächsten Wahlen von 950 auf ca. 600 Mitglieder verkleinert werden. In jedem Fall, unabhängig vom Wahlausgang, werden an die 350 Parlamentarier ihre Jobs verlieren.
Draghi hat in beiden Kammern des Parlaments in Rom eine große Mehrheit bekommen. Lediglich die Fratelli d’Italia (von der FAZ routinemäßig als postfaschistisch benannt; ebenso gut könnte man den Partito Democratico als postkommunistisch etikettieren) und ein kleiner Teil der 5Stelle (der Protestpartei, von der Draghi einst als Dracula bezeichnet wurde) haben mit No gestimmt. Die Draghi-Mehrheit ist keine Koalition, die sich in Verhandlungen auf ein gemeinsames Regierungsprogramm geeinigt hätte. Es ist eine Mehrheit, die das Regierungsprogramm Draghis unterstützt. Draghis Chancen, diese Mehrheit zu behalten, könnten paradoxerweise in dem Maße steigen, indem er auf einzelne parteipolitische Positionen keine Rücksicht nimmt.
Eine informelle Koalition der Linken innerhalb dieser Mehrheit hat sich vor der Regierungserklärung gebildet. Vermutlich wird eine ähnliche Zusammenarbeit des centro-destra, der Mitte-Rechts Parteien folgen. Eine Mehrheit hat keine der beiden Gruppierungen, beide sind im Kabinett Draghis vertreten. In der ersten Kabinettssitzung wurde der Ministerpräsident gefragt, wie man es als Minister nun mit der Kommunikation in dieser Situation halten solle. Sprecht, wenn ihr etwas zu sagen habt, soll die trockene Auskunft gelautet haben. Zumindest die Minister haben sich bisher daran gehalten.
Wachstum für die Wirtschaft – „whatever it takes“
Mario Draghi hat an der Spitze der EZB mit der Nullzins-Politik vielleicht dem Euro, mit Sicherheit aber seiner Heimat Italien gedient. Eine internationale Institution so gekonnt für nationale Interessen einzuspannen, nötigt auch einen gewissen Respekt ab. Als Ministerpräsident nunmehr an der Spitze Italiens, kann er die Politik des „prima l’Italia“ (Italien zuerst), fortsetzen und wird sich um internationale, also Brüsseler Vorgaben, vorwiegend nach Maßgabe nationaler Interessen kümmern. Um die Vorgaben des ESM zu erfüllen, muss bis Ende April ein Konzept vorliegen, für welche Projekte die 209 Milliarden genutzt werden sollen, die Italien über den ESM zur Verfügung gestellt werden.
Zwischen 70 und 90 Mrd. Euro sind vorgesehen für den Etat des neu geschaffenen „Ministero per la transizione ecologica“ (…für die ökologische Umgestaltung), vordem „Ministero dell ambiente e della tutela del territorio e del mare“ (Ministerium für Umwelt und Schutz von Landschaft und Meer). Was sich außer dem Etikett ändert, ist bisher noch nicht abzusehen, ein Konzept gibt es bisher nicht, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Minister ist Roberto Cingolani, ein vielfach ausgezeichneter Physiker, der übrigens von 1988 bis 1991 am Max-Planck-Institut in Stuttgart gearbeitet hat.
Draghis Ziel wird es sein, der italienischen Wirtschaft Wachstum zu ermöglichen „whatever it takes“. Für sinn- und effektlose unproduktive Subventionen, und seien sie noch so grün, wird der neue Ministerpräsident diese Mittel eher nicht verschleudern. In der Regierungserklärung und der anschließenden Debatte lag der Akzent auf der Förderung des Tourismus: die italienische Landschaft mittels subventionierter Windräder zu verschandeln, ist da wohl keine Option.
Für Beppe Grillo, den Gründer und Ideologie-„Garanten“ der 5Stelle, war dieses Ministerium Bedingung, um mit seiner Bewegung in die Regierung Draghi einzutreten. Erst nachdem die Zusage auf dem Tisch lag, hat er die parteiinterne Internet-Abstimmung in Gang gesetzt. Dem Eintritt in die Regierung Draghi haben 60% der Mitglieder zugestimmt, die 5Stelle sind in dieser Frage also nahezu gespalten. Auch haben sich 50 Parlamentarier der Parteilinie verweigert, es laufen Ausschlussverfahren. Noch ist die Partei in den beiden Parlamentskammern die stärkste Gruppierung, auf der Basis ihres letzten Wahlergebnisses von 32% (2018), ein Ergebnis, das sich bei der Europawahl (2019) bereits halbiert hat und bei den Wahlen in einigen Regionen in 2020 auf ca. 7% abgerutscht ist. Die Partei ist als Anti-Establishment (in Italien: la casta)-Partei angetreten, gehört nunmehr selbst zur „casta“ und setzt jetzt vor allem auf ihre Identität als Umweltpartei.
Europäische Wende Salvinis?
Bei der Lega ist von einer europäischen Wende Salvinis die Rede. Immerhin ist er mit drei Ministern in der Regierung eines Ministerpräsidenten, der in seiner Regierungserklärung den Euro „irreversibel“ genannt hat. Salvini hat sich mit der Bemerkung in einem Interview begnügt, irreversibel sei auf dieser Erde nur der Tod. Für die Lega sind gegenwärtig weder der Euro noch die Brüsseler Institutionen ein aktuelles Thema. Die Partei drängt auf eine zügige Rückkehr in das normale italienische Leben, auf Bewegungsfreiheit, auf die Öffnung von Geschäften und Restaurants. Wer mittags in einem Restaurant, immer unter Beachtung der gebotenen Vorsichtsmaßnahmen, essen könne, so Salvini, gehe abends auch kein höheres Risiko ein. Wo notwendig, sollten Corona-Herde auf lokaler Ebene eingehegt werden.
Der von Draghi aus der Regierung Conte II übernommene Gesundheitsminister Speranza, Vertreter einer linken Kleinpartei und eine Art italienischer Lauterbach, hat extrem kurzfristig die zugesagte Öffnung der Skipisten zurückgenommen. Liftbetreiber, Hotels, Restaurants sind auf ihren Investitionen sitzengeblieben – eine Provokation in Richtung Lega, die unter anderen Umständen zum Bruch hätte führen können.
Noch können Draghi derartige Aktionen, die eher nach einer Regierung Conte III aussehen, politisch nichts anhaben. Aber untergründig wächst Enttäuschung. Der Schriftsteller und Philosoph Corrado Ocone erinnert sich an eine italienische Comic-Figur der 50er Jahre, den Marsmenschen Kurt. Der landet eines Tages mit seinem Marsmobil im Garten der Villa Borghese. Kurt wird von den Römern begeistert empfangen in der Hoffnung, „che tutto si cambia“, in der Hoffnung, dass sich alles ändert.
Kurt erweist sich als geduldiger und verständnisvoller Zuhörer: Politiker und Prälaten, Restaurantbesitzer, Eisverkäufer und Prostituierte, alle klagen ihr Leid und versuchen, Kurt für sich zu gewinnen. Kurt kann zu niemandem Nein sagen, allmählich nimmt er für die Römer eine menschliche Dimension an und sie beginnen ihn zu ignorieren. Der magische Moment der Ankunft Kurts, von dem an sich alles ändern sollte, verstreicht ungenutzt. Am Ende möchte Kurt wieder in seine Heimat auf dem Mars zurückkehren. Aber die römischen Hoteliers haben das Marsmobil beschlagnahmt und in eine Touristenattraktion umgewandelt.