Ich war einmal süchtig nach dem Bosporus und Istanbul. Ich lebte dort, bis ich die Türkei verlassen musste. Eine kleine Erinnerung, auch an die Rückkehr nach Deutschland.
Ich war einmal süchtig nach dem Bosporus und Istanbul. 2004 entschied ich mich, nicht mehr zwischen Köln und Istanbul hin- und herzufliegen, sondern vor Ort zu bleiben, nah bei meinen deutschen und schweizerischen Auftraggebern. Mein Lebensmittelpunkt war in Istanbul.
Der Istanbuler sagt, dass Istanbul die schönste Stadt der Welt ist, aber nur, weil er das irgendwo aufgeschnappt hat. Dabei ist es tatsächlich die schönste Stadt der Welt, obwohl es sechs bis sieben dieser Gattung gibt.
Die Stadt wirklich kennenlernen zu wollen, die unzähligen Sehenswürdigkeiten, die man nicht einmal in einem Leben alle sehen könnte, einzeln zu besichtigen – das tut er nicht. Lieber hält sich der Istanbuler in einem der knapp über hundert Einkaufszentren auf. Die Stadt mit anderen Augen sehen solche Stadtverliebten wie ich und meistens die Auslandstürken, die zu Urlaubs- oder Geschäftszwecken in die Stadt kommen.
Die Stadt wird auf etwa 20 Millionen Einwohner geschätzt. So ist das in der Türkei – man kann nur schätzen, Zählen ist zwecklos. Noch letzte Woche war zu lesen, dass es in der Türkei 3,1 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge gibt, von denen aber 790.000 an ihren angegebenen Adressen nicht angetroffen werden konnten. Die Türken sehen den Kreis der Personen, die in Deutschland „Flüchtlinge“ genannt werden, mittlerweile als „Invasoren“. Die Türkei beherbergt schätzungsweise, basierend auf verschiedenen Zählungen, knapp über 10 Millionen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afghanistan. Zuletzt kommen auch vermehrt Menschen aus Afrika hinzu. Ich möchte jetzt nicht in das Dunkel eintauchen, das wir in vielen Ländern vorfinden. Es sind einfach zu viele inkompatible Menschen in falschen Ländern angekommen.
Meine Energiereserven zeigten 100 Prozent
Mein Büro hatte ich im Stadtteil Moda, auf der asiatischen Seite, wo ich auch geboren wurde. Von meinem Büro aus war ich direkt am Bosporus. Allerdings musste man drei Stufen hinaufsteigen, um die wahre Pracht zu sehen. Gegenüber hatte ich die Halbinsel mit der Blauen Moschee und der Hagia Sophia direkt vor mir. Im Büro hatte ich einen 180 Zentimeter großen Monitor an der Wand. Die Idee war, auf dem Dach des Gebäudes eine Kamera zu montieren, damit ich den Bosporus und die vorbeifahrenden Schiffe immer dann vor Augen hatte, wenn ich wollte. Das war jedoch nicht genug. Hatte ich an einem Tag mal keine Termine, fand ich immer einen Grund, mit dem Schiff auf die europäische Seite zu fahren. Dafür musste ich etwa 10 Minuten zu Fuß am Ufer entlang zur Schiffsanlegestelle laufen. Ein Genuss! Ich kann nicht beschreiben, was in mir vorging und ob ich überhaupt an etwas dachte. Ich blühte einfach auf, meine Energiereserven zeigten 100 Prozent.
Auf dem Schiff saß ich immer draußen an der Seite. Nur eine Reling trennte mich vom Wasser des Marmarameers. Schon kam ein Angestellter der Gastronomie mit 20 bis 30 Gläsern Tee auf dem Tablett vorbei. Es war Pflicht, nach einem Glas zu greifen, obwohl ich viel lieber Kaffee trinke. Das Ritual verlangte es einfach. „Möchten Sie Zucker dazu?“ fragte mich der Teejunge. Ich verneinte, obwohl schwarzer Tee nach meinem Geschmack nur Wasser mit etwas Farbe ist. Wenn Geschmack dazu kommen soll, dann nur durch Zucker. Aber man ist ja gesundheitsbewusst, und außerdem geht es nur um das Ritual. Manchmal saß ich zur europäischen Seite hin und inhalierte die historische Halbinsel, ein anderes Mal zur asiatischen Seite. Vorbei am nicht mehr in Betrieb befindlichen Haydarpascha-Hauptbahnhof, dem riesigen Containerhafen von Istanbul und dem Jungfrauenturm, einem der Wahrzeichen der Stadt.
Da ich auf der europäischen Seite meistens drei- bis viermal im Monat zu tun hatte, traf ich mich dort oft mit meinem Freund Ali, der Steuerberater ist. Mit ihm zusammen hatte ich schon über einhundert Unternehmen für deutsche und Schweizer Auftraggeber gegründet. Zum Mittagessen aßen wir oft Köfte. Diese kennt man in Deutschland unter dem schwedischen Namen „Köttbullar“, Dank IKEA. Die Spezialitätenrestaurants, in denen wir aßen, waren klein, mit nur vier Tischen drinnen und zwei draußen. Genau das machte den Reiz aus. Klein, fein und günstig – einige dieser Lokale existieren schon seit über fünfzig Jahren, manche sogar noch länger.
Man sollte die Freiheit nicht unnötig aufs Spiel setzen
Der Ort, von dem ich erzähle, heißt Beşiktaş. Dort gibt es auch einen recht großen Fischmarkt. Da ich keine Lust hatte, die Fische über den Bosporus nach Hause zu schleppen, war der Fischmarkt in Beşiktaş eher mein Schaufenster. Ich schaute, welche Fische es an diesem Tag gab. Die gleichen gab es auch in Kadıköy auf der asiatischen Seite, wo ich wohnte, und dort kaufte ich sie. Ich bekam immer die besten, weil ich den Verkäufern Anekdoten erzählte und diese durch mich ihre Abwechslung bekamen. Nach dem schönen Mittagessen gingen wir mit Ali zum Bosporus-Ufer und gönnten uns einen türkischen Mokka. Bei der kleinen Menge in der Tasse hatte man immer genug Zeit, um die Welt zu retten – zumindest aber die Türkei. Wurde es heikel, sprachen wir leiser. Man sollte die Freiheit nicht unnötig aufs Spiel setzen, wenn man sie länger genießen möchte.
Dann fuhr ich auch schon zurück mit dem Schiff. Die Wohnung lag ebenfalls im Stadtteil Moda, wie mein Büro, und auch mit Bosporus-Blick. Das war eigentlich der Grund, weshalb ich meinen Lebensmittelpunkt von Köln nach Istanbul verlagerte. Schuld war die Mietwohnung. Baujahr 1933, gebaut mit 60 x 30 x 30 cm großen Ziegeln aus Marseille, womit der Eigentümer immer angab. Das stimmte auch. Als wir eine Klimaanlage montieren lassen wollten, war die Wand so dick, dass der Installateur aufgab und von beiden Seiten bohren musste, in der Hoffnung, dass sich die Löcher in der Mitte treffen. Das taten sie.
Die Terrasse hatte eine Länge von zehn Metern zur Straße hin. Die Breite von nur 1,5 Metern tat der Aussicht keinen Abbruch. Zwischen Bosporus und Terrasse lag eine enge Straße und der oben erwähnte Teegarten. Die Straße war zum Glück eine Sackgasse. Waren die zehn Parkplätze auf einer Seite voll, verirrte sich niemand mehr mit dem Auto dorthin – nur die Menschen. Samstags und sonntags zogen etwa 70.000 Menschen an uns vorbei (stand in der Zeitung), die am Bosporus entlang flanierten. Wir wohnten Parterre, aber waren auf Augenhöhe mit den Passanten, sodass man sich gelegentlich grüßte.
Mit Dachschaden auf der Terrasse
Das Highlight für meine Frau, die ich parallel zum Umzug in die Türkei kennenlernte und heiratete, war, dass ich bei knapp drei bis fünf Grad, aber Sonnenschein, im Winter mit Unterhemd auf der Terrasse saß und die Situation genoss. Ihr war das peinlich, zumal die meisten Leute schauten, wie das bei der Kälte möglich war. Sie sagte immer zu den Passanten: „Sie müssen verstehen, er ist in Deutschland groß geworden und hat wenig Sonne gesehen.“ Überhaupt war ich wie ein weißer Elefant unterwegs. Ich lache viel und erzähle noch mehr Lustiges, damit die Menschen um mich herum auch etwas davon haben. Ich entschied mich damals für die Türkei, weil ich auf den Mutterwitz der Türken setzte.
Früher war es so, dass man etwas Drolliges sagte, um eine lustige Situation zu erzeugen, und jemand, von dem man dachte, er hätte nichts im Kopf, schnappte es auf, legte etwas darauf und spielte es zurück. So hatten wir alle etwas davon. Je länger die Ära Erdoğan dauerte, desto mehr verloren die Türken den Mutterwitz. Sie haben ihr Lachen verloren. Stattdessen wurde ihre Sprache vulgärer, vor allem weil ihr Vorbild Erdoğan auch nichts anderes hergab. Hat er mal keinen Teleprompter in der Nähe, von dem er ablesen kann, bringt man ihn schnell in Rage, und ist er einmal in voller Fahrt, macht er verbal alle nieder.
Der Mutterwitz der Türken war schon um 2006 verschwunden. Im Teegarten gegenüber und in den ersten Läden Richtung Kadıköy war für mich so ziemlich alles kostenlos. Die Eigentümer riefen: „Ahmet Abi (so nennt man den großen Bruder oder jemanden, dem man mit Achtung begegnet), komm doch, trink einen Tee und erzähl uns etwas aus deinem Leben oder von der Welt. Wir haben lange nicht mehr gelacht.“
Die Bonusjahre habe ich verspielt
Ich denke, wenn ich dort alt geworden wäre, hätte ich sicher einige Bonusjahre dazugewonnen. Auch später, als ich nach Alanya zog, in die Sonne, dachte ich: „Hier kannst du alt werden, uralt!“ Und das stimmte auch.
2017 musste ich dann gehen und kam in Berlin an. Weißt du, was das Erste war, das ich hörte? Die Dame bei der Arbeitsagentur sagte: „Oh, Sie sind schon zu alt!“ In dem Moment fing ich an nachzurechnen, wie alt ich war. Bis dahin hatte das in meinem Leben nie eine Rolle gespielt. Tatsächlich war ich 59 Jahre alt. Ich merke, jetzt rechnest du: „Wenn er 2017 neunundfünfzig Jahre alt war, 2024 minus 2017 sind sieben Jahre plus 59, also er ist heute 66 Jahre alt.“ Nun gut, derzeit bin ich 65,9, im September werde ich 66 Jahre alt.
Ich fragte die Frau: „Zu alt wofür?“ „Um sich irgendwo zu bewerben!“ „Wie alt muss man denn sein?“ „Vierzig sind schon fast zu alt!“ „Dann bleibe ich selbstständig!“ sagte ich. Mittlerweile habe ich mit Istanbul, dem Bosporus, Alanya und der Türkei gänzlich abgeschlossen. In Unterfranken, im schönen Spessart, geht das Leben weiter. Der Hammer ist, dass ich schon in der Türkei als Deutscher galt und folglich in die Heimat abgeschoben wurde, wo man die Freiheit auskosten kann. Denkste! Ich kritisiere genau dieselben Themen wie in der Türkei. Wer hätte gedacht, dass Deutschland in eine solche Situation gerät – durch die Schrott-Politiker, oh, habe ich vergessen… – Politikerinnen und Diverse der Regierungsparteien.
Ahmet Refii Dener, Türkei-Kenner, Unternehmensberater, Jugend-Coach aus Unterfranken, der gegen betreutes Denken ist und deshalb bei Achgut.com schreibt. Mehr von ihm finden Sie auf seiner Facebookseite und bei Instagram.