Als am Abend des 11. Juli 2016 in der Tagesschau gezeigt wurde, wie Cameron ankündigte, dass er der Queen als seine Nachfolgerin Theresa May vorschlagen würde, sich danach umdrehte und leise singend-summend zurück in die Downing Street 10 ging, war ich überrascht. Noch nie hatte ich in einer scheinbar so ernsten Situation einen führenden Politiker so erleichtert, befreit und humorig erlebt wie in dieser kleinen Sequenz (ab Min 2:00). Ein vor sich hin singender Premierminister bei der Ankündigung seines endgültigen Ausscheidens: großartig!
Ich war über Camerons leises Singen ungefähr so überrascht, wie wenn im Deutschen Bundestag ein Redner einen intelligenten Witz macht und das gesamte hohe Haus schallend lacht. Dann spüre ich eine Erleichterung, in die hinein mein Herz einen kleinen Hüpf macht. Dieses ganze verantwortungs- und salbungsvolle, vorhersehbare Politikgeplänkel erhält auf einmal einen Stoß versetzt. Über so etwas kann ich mich wirklich freuen. Von Herzen.
So war es also auch bei Cameron. Er sang leise vor sich hin und all die Unken- und Jubelrufe für oder wider den Brexit erhielten auf einmal diesen sehr notwendigen und heilsamen Dämpfer, dass Politikkämpfe und Geschichtemachen doch nicht ganz so ernst zu nehmen sind. Diese Art von singender Gelassenheit ist vielleicht nur möglich, wenn nicht der einzelne Politiker eine so schwerwiegende Entscheidung wie einen EU-Austritt zu fällen hat, sondern er die Mehrheit des Volkes entscheidet lässt.
Ein Plädoyer für die eigene Entmachtung
Nun habe ich die letzten Wochen durch die deutsche Presse und die deutschen Politiker erfahren, dass das Volk zu deppert und unfähig ist, um komplexe Entscheidungen zu treffen. Norbert Lammert gab zu Protokoll, dass gelegentlich Politiker sich durch Volksabstimmungen nur aus der eigenen Verantwortung stehlen wollten. "Sie überlassen eine schwierige politische Entscheidung aus Hasenfüßigkeit dem Wähler." Dies treffe "sicher auf das Brexit-Referendum in Großbritannien zu".
Auch in dem vielbeachteten Phoenix-Gespräch zwischen Michael Hirz und Friedrich Merz wird viel von verantwortungslosen Volksentscheiden und den noch verantwortungsloseren britischen Politikern gesprochen. „Die repräsentative Demokratie heisst Verantwortung in der Hand der gewählten Abgeordneten. Und wenn Abgeordnete dafür plädieren, wichtige Abstimmungen in die Hand der Bevölkerung zurückzugeben, dann plädieren sie im Grunde genommen für ihre eigene Entmachtung und für das Abgeben von Verantwortung.“ Das, so scheint es, ist jedoch auch für Friedrich Merz völlig unverständlich, dass Politiker für ihre eigene Entmachtung sein könnten. Nun, ich sähe darin eine echte demokratische Leistung.
Übrigens sagt der gleiche Friedrich Merz einige Minuten vorher zur Einführung des Euro, an der er maßgeblich beteiligt war: „Hätte ich damals gewusst, wie sich die Dinge 20 Jahre später entwickeln, ich hätte die Zustimmung zum Euro damals mir drei- und vier- und fünfmal mehr überlegt. Ich hätte wahrscheinlich nicht zugestimmt.“ Logisch ist das nur schwer nachzuvollziehen, dass jemand, der sich selbst Unfähigkeit attestiert, gleichzeitig dem Volk fehlende Vorausschau unterstellt.
Interessant ist dabei das Konstrukt von „Verantwortung in der Hand der gewählten Abgeordneten“, das man irgendwie geneigt ist, verständig abzunicken. Aber um welche Verantwortung geht es denn da? Jemanden „zur Verantwortung zu ziehen“ bedeutet doch, dass er für seine Entscheidungen und Taten haftbar gemacht werden kann. Nach Berliner Flughafen, Hamburger Elbphilharmonie, Eurorettung und Herausblasen von Steuermilliarden im Zuge der Flüchtlingskrise ist mir irgendwie entgangen, dass auch nur ein Politiker in Deutschland für irgendetwas zur Verantwortung gezogen worden wäre.
Für die Politik scheint Verantwortung eine sehr komfortable Einbahnstraße zu sein: die Bevölkerung tritt die Verantwortung an die Gewählten ab, ohne dass die Gewählten im Gegenzug dafür zur Verantwortung gezogen werden könnten. Im deutschen Politikbetrieb ist der Begriff der Verantwortung ungefähr so viel wert wie der der Ehre: nice to have und purer Glaube, aber der Wähler kann sich davon nichts kaufen. Umso verwunderlicher, wie oft und laut die letzten Wochen mit dem Begriff der Verantwortung von allen Seiten um sich geworfen wurde. Und solange man Verantwortung nicht hinterfragt, klingt sie ja auch fürsorglicher und weniger deutsch als Pflichtbewusstsein oder Pünktlichkeit.
Pathos des Absoluten
Stellvertretend für die deutsche Verachtung dem britischen Politikstil gegenüber, sei hier ein Kommentar von Stefan Kuzmany auf SPON erwähnt („Ich sing euch eins“), der sich den singenden Cameron förmlich mit Gewalt vorknöpft, um ihn in Grund und Boden zu rammen: „Sieht er sich in der Verantwortung für die Folgen dieses dann nicht in seinem Sinne ausgegangenen Referendums, für die ökonomischen Schockwellen nicht nur in seinem Land, sondern in der gesamten Europäischen Union? Hat er ein Problem damit, dass er womöglich als derjenige britische Premier in die Geschichte eingehen wird, der mit einer Kombination aus Egoismus, Unvermögen und Fahrlässigkeit die EU und das Vereinigte Königreich gespalten, wenn nicht gar gesprengt hat?“
Ja, Herrgott, möchte man gegenfragen: worin sollte denn seine Verantwortung bestehen, als schlichtweg zurückzutreten? Sich öffentlich zu geißeln? Auszupeitschen? Sich aufzuhängen? Oder im Bunker Zyankali nehmen? Theodor W. Adorno sprach vom «Pathos des Absoluten» als einer deutschen Krankheit. Hier haben wir sie.
Kuzmany schließt sein Cameron-Bashing folgendermaßen ab: „Wie soll man Respekt behalten vor so einem Politiker? Die Spaltung Großbritanniens durch den schmutzigen Brexit-Wahlkampf ist schlimm, aber hoffentlich zu heilen. Das Ergebnis des Referendums ist bedauerlich, aber langfristig wohl verschmerzbar. Der Eindruck jedoch, den David Cameron bei seinem Abtritt hinterlässt, ist einfach nur verheerend.“
Wir fassen zusammen: schlimmer nur als der Brexit ist ein singender Cameron, der keinerlei Verantwortung für nichts übernimmt. Auch der Führer würde sich im Grabe umdrehen.
Ich gebe zu, dass ich da etwas anders gepolt bin. Ich empfinde jeden Politiker, der aus freien Stücken zurücktritt, erst einmal als ehrenhaft. Wenn er oder sie dabei noch ein Lied trällert, belustigt es mich eher und lässt hinter eine gewisse Absurdität des Politikbetriebs blicken, wie er selten schöner als in Monty Pythons „Ministry of Silly Walks“ dargestellt wurde. Mit heiligem Ernst und humorfreiem Pathos wird eine Kaskade an Absurditäten abgefeuert, die uns Wählern dann als Politikbetrieb verkauft wird.
Da wird allenthalben über „enge Spielräume“, „Alternativlosigkeiten“ und „Sachzwänge“ lamentiert, entzieht sich aber jemand dieser wirklich öden Show, gilt er in Deutschland fast als Volksverräter. Nein, kein Politiker ist verpflichtet, weder bis zum Endsieg, noch bis zur totalen Kapitulation durchzuhalten. Ganz im Gegenteil. Ich muss jedoch zugeben, dass ich auch ein großer Befürworter der Begrenzung eines Politikerlebens auf maximal zwei Legislaturperioden bin. Aber das dürfte in Deutschland schon als verantwortungslos gelten.