Cora Stephan / 23.01.2008 / 14:55 / 0 / Seite ausdrucken

Ist der Kapitalismus schuld an 68?

Gewaltige Veränderungskräfte werden ihnen zugeschrieben, den Achtundsechzigern, im Guten wie im Bösen. Nüchtern betrachtet, zeigen sie sich als Teil einer ungleich mächtigeren und zugleich profaneren Bewegung – einer Bewegung, gegen die Widerstand zwecklos war und die doch von allen gleichermaßen verachtet wurde, von den protestantischen Bildungsbürgern ebenso wie hernach von den zum Marxismus konvertierten Antiautoritären: die Konsumgesellschaft. Das magische zweite Drittel der 60er Jahre fußte im wesentlichen auf der Befreiung des (jungen) Individuums durch die Freiheit des Konsums. Der Minirock war, wie man ja sah, nicht bloß ein Kleidungsstück: Er war der Beginn einer Individualisierung durch gleichberechtigte Teilhabe am Markt.

Was aus Swinging London langsam nach Deutschland herübertropfte, war das krasse Gegenteil zu jenen wadenlangen blauen Faltenröcken solider Qualität, die Muttern kaufte: teuer und unendlich haltbar, theoretisch bis zur Hochzeit (eine der damals noch wenigen Möglichkeiten, dem Elternhaus frühzeitig zu entkommen). Die stoffsparenden Miniröcke und poppigen Plastikpullover aber waren erschwinglich und machten ein Kleinstadtmädel nach ein paar erteilten Nachhilfestunden frei vom Geschmacksdiktat der Eltern.
Zusammen mit der Musik, die ihre Botschaft schon seit Anfang der 60er Jahre über britische Soldatensender oder, noch aufregender und subversiver, via Piratenfunk wie Radio Caroline unter unsere Bettdecken schickte, entstand so etwas wie eine Teenager-Identität – als Käuferschicht mit neuen, ganz eigenen und bald sogar legitimen Ansprüchen. Was heute banal ist, bedeutete damals recht handfest das Einebnen sozialer Dinstinktionen: man unterschied sich in Geschmacksfragen, nicht durch die Herkunft.
Selbst die auf den Minirock folgende, als „Gegenkultur“ verklärte Abgrenzung von der Konsumwelt, in der mit dem BH noch der letzte Rest des bürgerlichen Stützkorsetts abgelegt wurde, paßte dazu. Diese Jugendbewegung, die den Prager Frühling wie den Pariser Mai idealisierend eingemeindete, prägte ein Lebensgefühl von ’68 nachhaltiger als die heute gern überlieferten großen politischen Ziele – und hat, gerade weil das alles so unpolitisch war, den weitaus größten Anteil an jener vielbeschworenen „demokratischen“ Öffnung.
Durchaus unpolitisch war übrigens häufig auch der Konflikt mit den überforderten Eltern, die in der neuen Freiheit lediglich den riskanten Verzicht auf den Kitt gesellschaftlicher Konventionen sahen (und die unhistorische Koketterie mit den Insignien von Sozialismus und Maoismus zu recht nicht komisch fanden). Deren Starrheit als „Faschismus“ zu denunzieren, adelte die eigene Position. Auch das ein Mythos: eine Auseinandersetzung mit der Nazizeit und den Vätern haben nicht erst die Achtundsechziger begonnen.
Also der Kapitalismus ist an allem schuld? Wer mag das schon. Doch Emanzipation hat im alten Wortsinn etwas mit Teilhabe am Markt zu tun – und die Tatsache, daß das Kapital profitierte, minderte das Gefühl der Befreiung zunächst nur mäßig. Übrigens: das Ikea-Prinzip ist der Möbel gewordene Ausdruck dieser erweiterten Teilhabe am Markt. Während Möbel früher Anschaffungen fürs Leben waren, auf die lange sparen mußte, wer einen eigenen Hausstand gründen wollte (einst die Voraussetzung für den Erwerb der Bürgerrechte), versprach Ikea das Wohnrecht für alle – und machte nebenbei die Frauen von den Männern unabhängig: das Do-it-yourself galt als „kinderleicht“, also auch fürs weibliche Geschlecht geeignet.
Nicht das unendliche Beziehungsgespräch hat Frauen befreit. Es war der Markt, der ihnen unter die Arme griff – nicht uneigennützig, natürlich. Frauen wurden gebraucht.
Aber – was ist mit all den ausgehängten Klotüren? Den antiautoritären Kinderläden? Der Schändung des Familienideals? Was mit den Exzessen der sexuellen Befreiung? Gemach. Die meisten Klotüren blieben drin und die Familie hat die Attacken auf sie bestens überlebt. Auch hier waren mächtigere Strömungen im Spiel, als das schiere Wollen befreiungstrunkener Rebellen. Nennen wir diese unsichtbare Kraft die „zweite Individualisierung“, mit der man einübte, was für die neue Welt der Mobilität und Mas-senkommunikation erforderlich war: daß man, um in der neuen Arbeitswelt zu reüssie-ren, selbst entscheiden und verantworten mußte, wofür es früher äußere und innere In-stanzen, also Eltern, Ordnungshüter und verinnerlichte Werte gab. Das Einüben des „Regelbruchs“ war, bei allen spektakulären Exzessen, zu guter Letzt zweckdienlich.
Der neue Mensch, der dabei entstanden ist – mobil, entscheidungsfähig, individualisiert, weder durch Glaube noch Familie übermäßig gebunden –, muß niemanden begeistern. Erst recht nicht die Spaltungsprodukte all dessen, was sich in den 70er Jahren auf ’68 berief. Es wäre jedoch ein Mißverständnis, im neuen Individuum lediglich den bedauernswerten Einzelgänger zu erkennen. Denn auch der Bedeutungsverlust des Familienverbandes bedeutet eine Entfesselung der Produktivkräfte, um im Jargon von damals zu reden: wer selbst ausgeben kann, was er verdient, und es nicht dem Familieneinkommen zuschlagen muß, entwickelt die ungeahnten Kräfte des Eigennutzes, ein Motor unseres Reichtums.
Jenseits von Heroisierung und Dämonisierung der Achtundsechziger und ihrem Umfeld liegt eine weit profanere Wirklichkeit. Das wirklich Ärgerliche daran: sie entzieht sich unserer Einwirkung und nimmt uns die Vorstellung, „wir Achtundsechziger“ seien, im positiven wie im negativen Sinn, die Täter. Vielleicht waren wir doch nur Getriebene?

Erschienen in Welt am Sonntag, 6. Januar 2008

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